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1. Einleitung
Betrachtet man die geschichtswissenschaftliche Forschung zur Kriegführung im 19. Jahrhundert beziehungsweise zum Kriegsbild in der Zeit vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, so dominiert hier das Paradigma vom Bewegungskrieg. Dieses Urteil basiert zum einen auf Untersuchungen zur Kriegführung Napoleons, zum anderen auf Studien zu den operativen Maximen des älteren Moltke sowie vornehmlich den Planungen des deutschen Generalstabs in der Zeit Schlieffens. Diese einseitige Perspektive überrascht, denn der Festungsbau erlebte nach 1815 eine Renaissance, die sich gerade auch im Rheinland zeigte. Mit dem vom preußischen Staat veranlassten Aus- und Neubau von Wesel, Köln, Jülich, Koblenz und Saarlouis entstand hier ein Festungsgürtel gegen Frankreich,[1] der durch die Bundesfestungen Luxemburg, Mainz, Landau und Rastatt sowie die bayerische Festung Germersheim vervollständigt wurde. Die sich in diesem Festungsbau spiegelnde Hinwendung zu einer Defensivkriegsstrategie war eine Folge der Durchsetzung der europäischen Friedensordnung von 1815 mit ihren Prinzipien staatlicher Souveränität, monarchischer Solidarität und konstitutiver Legitimität.[2] Aber auch ungeachtet der politischen Rahmenbedingungen nach dem Ende der napoleonischen Ära blieben Festungen aus Sicht der Generalstäbe der europäischen Staaten während des „langen 19. Jahrhunderts“ ein wesentliches Element der Kriegführung und insbesondere der Deutsch-Französische Krieg war nicht zuletzt ein „Festungskrieg“,[3] der unter anderem durch die Belagerungen von Metz und Paris entschieden worden war. Es waren in erster Linie die Erfahrungen dieses Krieges und die waffentechnische Entwicklung im Zeitalter der Industrialisierung, die nach 1871 in den meisten europäischen Staaten abermals den Anstoß zum Umbau oder zur Errichtung von Festungen gaben und die die Haltung des deutschen Generalstabs zum „Festungsproblem“[4] bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs beeinflussten. Es ist aber zu fragen, wie die bewaffnete Macht auf die Folgen der Urbanisierung reagierte, denn aus dem Städtewachstum mussten besondere Herausforderungen für die Sicherstellung der Verteidigungsfähigkeit der Festungen erwachsen. Fraglos galt die weitreichende Befehlsgewalt und Regulierungskompetenz der Festungskommandanten beziehungsweise -gouverneure in den betroffenen Städten bereits in Friedenszeiten, die im Kriegsfall auf das weitere Umland ausgedehnt wurde, als zentraler Baustein zur Sicherstellung der Verteidigungsfähigkeit. Für die Bevölkerung in den Festungsstädten war dieser militärische Vorbehalt bis weit über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus vor allem in den Torkontrollen beim Betreten oder Verlassen der Stadt sichtbar. Für sie zeigte sich der Festungscharakter zudem in den zahllosen militärischen Infrastruktureinrichtungen, den Festungswerken sowie der starken Garnison; für die Grundbesitzer waren es indes die Einschränkungen ihrer Eigentumsrechte im Schussfeld vor der Verteidigungswerken− dem Festungsrayon−, in denen sich die Auswirkungen der Festungseigenschaft manifestierten. Diese Baubeschränkungen im Vorfeld der Umwallung und die Umwallung selbst waren aus Sicht der Stadtverwaltungen und kommunalen Entscheidungsträger außerdem die entscheidenden Hindernisse für eine Erweiterung der Stadt und für einen ökonomischen Aufschwung. Mithin bestanden in einer Festungsstadt zahlreiche Berührungs- und ggf. Konfliktpunkte zwischen der zivilen und militärischen Sphäre, die im Folgenden in den Blick genommen werden sollen.
2. Städtewachstum als militärische Herausforderung
Als Reaktion auf die Niederlage im Krieg gegen Napoleon und die weitgehend kampflose Kapitulation der preußischen Festungen war 1809 eine als geheim eingestufte Instruktion an die Festungskommandanten erlassen worden, der offenkundig eine Denkschrift August Neidthard von Gneisenaus (1760−1831) aus dem Jahr 1808 zugrunde lag. Um künftig eine kampflose Aufgabe von Festungen auszuschließen, wurde der Kommandant ebenso wie jeder einzelne Offizier der Festungsgarnison zur hartnäckigsten Vertheidigung verpflichtet, die ohne Rücksicht auf Verluste durchzuführen sei. Der Appell an die Pflichterfüllung und damit an die Ehre des Offizierskorps erschien aber offenbar nicht ausreichend, denn gleichzeitig wurde ein harter Strafkatalog erlassen: Ein Befehlshaber, der nicht durch Aufopferung eines bedeutenden Theils der Garnison bewiesen habe, dass er alle Anstrengungen zur Verteidigung unternommen habe, hatte mit mindestens mehrjähriger Festungshaft zu rechnen. Aber auch ein Bombardement und [eine] Einäscherung der Stadt sollten bei weiterhin vorhandenen Streit- und Lebensmitteln sowie intakten Festungswerken kein Grund für eine Kapitulation [sein].[5] Um die Aufgabe erfüllen zu können, musste die dauerhafte militärische Einsatzbereitschaft der Festung gewährleistet werden. Ließen sich hier Versäumnisse des Festungskommandanten nachweisen, die im Kriegsfall zu einer Übergabe der Festung führten, drohte ihm die Todesstrafe. Für den Belagerungsfall war daher bereits im Frieden entsprechende Vorsorge zu treffen. Es galt eine ausreichende Verproviantierung der Garnison und der für die Verteidigung zumindest teilweise unverzichtbaren Zivilbevölkerung, die in dieser Instruktion allerdings keine Beachtung fand, sicherzustellen. Aus der Forderung zur permanenten Einsatzbereitschaft leitete sich zusätzlich eine umfassende Regulierungskompetenz der bewaffneten Macht zur Aufrechterhaltung der inneren Ruhe und Ordnung in der Festung ab, die in einer besonderen Verordnung über das Verhältnis der Zivil- und Militärbehörden in den Festungen festgeschrieben wurde. Diese begründete die grundsätzliche Inferiorität der jeweiligen Kommunalverwaltung unter die bewaffnete Macht und ermächtigte den Festungskommandanten im Belagerungsfall beispielsweise bei Forderungen von Zivilisten nach einer Übergabe der Festung − ein Vorgang, der als Meuterei bewertet wurde −, zu schärfsten Bestrafungen.[6] Überdies umfasste sie unter anderem im Armierungsfall das Recht zur Zwangsausweisung von Personen, die sich entweder nicht selbst versorgen konnten oder deren politische Haltung die Mobilisierungs- und Verteidigungsfähigkeit der Festung zu bedrohen schien.[7] Dieser militärische Vorbehalt musste spätestens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor dem Hintergrund des raschen Städtewachstums und angesichts der Folgen der zunehmenden sozialen Differenzierung in den Städten, des ökonomischen Aufschwungs, der wachsenden bürgerlichen Partizipationsbestrebungen sowie eines gestiegenen kommunalen Selbstbewusstseins unweigerlich mit kommunalen, bürgerlichen und ökonomischen Interessen kollidieren. Die Auswirkungen der Urbanisierung konfrontierten das Militär allerdings nicht nur mit politischen Herausforderungen, sondern das Städtewachstum stellte die Streitmacht auch vor logistische Probleme, auf die es reagieren musste, wenn es nicht die Einsatzbereitschaft der Festungen gefährden wollte.
Tatsächlich zeichnet sich seit Beginn der 1860er-Jahre ein zunächst vor allem volkswirtschaftlich begründetes, zögerliches Entgegenkommen des preußischen Staates gegenüber den Forderungen der Festungsstädte ab, wie partielle, die jeweiligen lokalen Verteidigungsverhältnisse berücksichtigende Lockerungen der Rayonbeschränkungen belegen, so dass zumindest einzelne bauliche Erweiterungen der Städte ermöglicht wurden.[8] Mit der Zubilligung einer Entschädigung der Eigentumsbeschränkungen im Rayongesetz von 1871 wurde eine von den betroffenen Eigentümern und den Städten seit langem erhobene Forderung erfüllt. Das aus Mitteln der französischen Kriegskostenentschädigung finanzierte, 1873 verabschiedete Gesetz zum Ausbau und zur Umgestaltung der deutschen Festungen ermöglichte schließlich auch Torerweiterungen im Interesse der Städte, um den gestiegenen Verkehrsansprüchen zu genügen, denen das Militär freilich ebenfalls nur zustimmte, sofern die Verteidigungsfähigkeit der Festung hierdurch nicht beeinträchtigt wurde. Mit diesen Zugeständnissen ließ sich der wachsenden Kritik der betroffenen Kommunen, die sich zur besseren Wahrung ihrer Interessen 1868 im „Verein norddeutscher Festungsstädte“ zusammengeschlossen hatten, wenigstens teilweise die Spitze nehmen, wenngleich das grundsätzliche Problem, die zunehmende Zusammenballung der Bevölkerung in den von den Festungswällen in ihrem räumlichen Wachstum behinderten Städten, zunächst ungelöst blieb. So war beispielsweise in Köln die Bevölkerungszahl zwischen 1816 und 1871 von 49.276 auf 129.233 angestiegen und auch die Einwohnerzahl von Koblenz hatte sich in diesem Zeitraum um fast das Zweieinhalbfache vermehrt. Mit Königsberg hatte zudem eine weitere Festungsstadt die Einwohnerzahl von 100.000 überschritten und von den vier preußischen Städten mit 80.000 bis 100.000 Einwohner waren mit Danzig und Magdeburg ebenfalls zwei Städte Festungen, die im Zuge der 1872 erfolgten Neuorganisation des Festungswesens unbedingt erhalten werden sollten.
Es waren indes weniger die stadthygienischen und sozialen Implikationen, sondern in erster Linie die logistischen Herausforderungen, die die Zusammenballung der Bevölkerung in das Blickfeld der bewaffneten Macht treten ließen. Der Krieg von 1866 hatte zwischen den Zivil- und Militärbehörden eine Diskussion über die Handhabung und die Konsequenzen der Evakuierung beziehungsweise Zwangsausweisung von Zivilpersonen aus einer zu armierenden Festung ausgelöst, die unmittelbar nach dem Kriegsausbruch 1870 auch das preußische Staatsministerium erreichte. Das Kriegsministerium zeigte sich überraschend kompromissbereit, als es in Übereinstimmung mit dem Ministerpräsidenten erklärte, dass die entsprechende Regelung auf Köln, Magdeburg und Koblenz nicht anwendbar sei, da so große Festungsstädte von einem Feind ohnehin nicht hermetisch eingeschlossen werden könnten. Der Kriegsminister ging sogar noch einen Schritt weiter, denn er stellte diesen Rechtstitel des Militärs grundsätzlich in Frage als er erklärte, dass diese Bestimmung aus der Zeit der Omnipotenz des Staates stamme, der sich nicht um die Folgen habe kümmern müssen.[9] Die offenkundigen Bedenken an der Verfassungsmäßigkeit der Bestimmungen und die Verständigung auf der politischen Ebene blieben auf binnenmilitärischer Seite jedoch augenscheinlich folgenlos, denn nach dem erfolgreichen Krieg kam es nicht zu einer grundlegenden Reform der Kommandogewalt und der Regulierungskompetenzen der Festungskommandanten. Dies überrascht umso mehr als der Krieg mit der Belagerung von Paris gezeigt hatte, dass auch noch weit größere Städte dauerhaft eingeschlossen werden konnten. Zudem waren die Auswirkungen der Belagerung von manchem politischen Entscheidungsträger zumindest als ein Faktor interpretiert worden, der den Aufstand der Commune begünstigt hatte.[10] Gleichwohl führte der Aufstand, der die Gefährdung der bestehenden Ordnung symbolisierte, nicht zu einer greifbaren Diskussion über die Tragweite einer möglichen inneren Bedrohung von Festungen im Belagerungsfall. Allerdings entsprach die Belagerung von Paris nicht der üblichen Regelhaftigkeit, die die Führung von Festungskriegen bestimmte, denn die Beschießung der Stadt erfolgte aufgrund einer bewussten politischen Entscheidung, mit der nicht allein der Druck auf die Verteidiger erhöht werden sollte, sondern mit der vor allem auch die Lebensweise der Bevölkerung, ihre Ideen über das künftige Frankreich und die hieraus abgeleitete Haltung zum Krieg getroffen werden sollten.[11] Ob die Belagerung von Paris somit möglicherweise als ein Sonderfall verstanden wurde, der ohne Konsequenzen für einen künftigen Festungskrieg bleiben konnte, kann hier nicht geklärt werden. 1878 wurden schließlich die bisherigen Instruktionen für die Festungskommandanten aufgehoben, doch die neuen Bestimmungen wiesen lediglich graduelle Unterschiede zu den bisherigen Regelungen auf. Die Vertreter der bewaffneten Macht zielten hiermit jedoch nicht allein auf die Sicherung und Bewahrung althergebrachter, vorkonstitutioneller Rechtspositionen. Offensichtlich war es nach wie vor das Trauma der Kapitulation der Festungen von 1806/1807, das die Haltung der militärischen Entscheidungsträger entscheidend beeinflusste, denn im Mittelpunkt der Bestimmungen stand weiterhin der Appell an die Ehre des Korps, indem sie den Kommandanten beziehungsweise jeden einzelnen Offizier der Garnison auf eine Verteidigung der Festung um jeden Preis verpflichtete.[12] Mithin blieb der Festungskommandant aufgefordert, die permanente militärische Einsatzbereitschaft unter allen Umständen sicherzustellen. Diese Zielsetzung spiegelt sich auch in den 1891 im Staatsministerium erneut geführten Diskussionen. Kurzerhand beschied Ministerpräsident Leo von Caprivi (1831−1899, Ministerpräsident 1890−1892, Reichskanzler 1890−1894), dass die Befehlshaber der Festungen im Belagerungsfall vollständig souverän handelten.[13]
Orientierte sich die Diskussion über die Reichweite der Befehlsgewalt der Festungskommandanten somit nach wie vor ausschließlich an militärischen Utilitaritätskriterien, so bedeutet dies nicht, dass die bewaffnete Macht die Folgen der Urbanisierung für die Verteidigung einer Festung vollständig ausblendete. Anlässlich der Haushaltsverhandlungen im Reichstag 1899 konstatierte der Vertreter des Militärfiskus, dass die bedenkliche […] Anhäufung der Bevölkerung auf zu engem Raum im Frieden wie im Krieg die militärischen Interessen in den Festungsstädten gefährde.[14] Als Antwort auf dieses Problem wurde aber keinesfalls die Aufgabe von Stadtfestungen erwogen,[15] obwohl bereits mit der Feste Boyen bei Lötzen, den Sperrbefestigungen an der masurischen Seenkette sowie den Oberrheinbefestigungen bei Istein (Isteiner Klotz) und der Feste Kaiser-Wilhelm II. bei Mutzig Befestigungen errichtet worden waren, die als reine Militärfestungen nicht mehr an eine Stadt gebunden waren.[16] Die im Folgejahr erlassenen Bestimmungen zur zukünftigen Ausgestaltung des deutschen Festungssystems sahen statt dessen die Beibehaltung beziehungsweise den Ausbau von Metz, Diedenhofen, Straßburg, Köln, Ingolstadt, Königsberg, Graudenz, Thorn und Posen als Hauptfestungen vor.[17] Vier dieser Hauptfestungen hatten inzwischen zum Teil weit mehr als 100.000 Einwohner und Köln war mit 372.000 Einwohnern die drittgrößte Stadt Preußens.[18] Am Rhein galten zudem Wesel, Koblenz, Mainz und Germersheim als Festungen zweiter Ordnung als unverzichtbar.
Entsprechend der 1900 festgeschriebenen Leitlinien wurde in den folgenden Jahren der weitere Ausbau der Festungen im westlichen Operationsgebiet vorangetrieben. Wie bereits seit den 1860er-Jahren dominierte eine einseitige militärisch-funktionale Sichtweise. Infolge der waffentechnischen Entwicklung waren seinerzeit Überlegungen zu einer Neuorganisation des Festungswesens angestellt worden, die aufgrund der veränderten Grenzziehung 1871 und der zur Verfügung stehenden französischen Reparationsgelder eine zusätzliche Dynamik erhalten hatten. Für Köln war das Hinausschieben des Fortgürtels und die Anlage einer neuen Umwallung beschlossen und zwischen 1873 und 1881 durchgeführt worden; dadurch war es möglich, die alte Stadtumwallung aufzugeben.[19] In Koblenz und Wesel folgte die Aufhebung der Umwallung 1890.[20] Die bewaffnete Macht profitierte vom Verkaufserlös für fortifikatorisch unbrauchbare Verteidigungswerke, während sie gleichzeitig gegenüber der jeweiligen Kommune den Verzicht auf die Stadtumwallung als ein Entgegenkommen darstellen konnte, um die langersehnte Stadterweiterung zu ermöglichen, wodurch der zunehmenden Enge in den Städten entgegengewirkt werden konnte.[21] Diesem Muster folgte auch der Ausbau der Festungen seit 1900[22] , in dessen Folge in Köln der Fortgürtel weiter ausgebaut und durch Zwischenwerke verstärkt wurde. Teilweise wurde die Hauptkampfstellung über die Linie der Forts hinausgeschoben. Die Erweiterungsmaßnahmen erlaubten hier schließlich 1911 auch die Auflassung der nach 1881 errichteten linksrheinischen Umwallung, nachdem bereits 1907 die Deutzer Enceinte aufgehoben worden war. Zwar schuf die zweite Aufhebung der Umwallung Raum für die Ausdehnung der Bebauung, aber der Ausbau der Befestigungen bedeutete auch die Einbeziehung eines weiteren Raumes und somit einer immer größeren Bevölkerungszahl in die Festung. Die Konsequenzen dieser Entwicklung spielten aber offenkundig weder für die Ausbaupläne noch bei der Forderung zur Sicherstellung der permanenten Einsatzbereitschaft der Festung eine Rolle.
Durch die Aufhebung der Umwallung und das Hinausschieben des Fortgürtels verschwanden die Festungswerke nicht nur im Wortsinn aus dem Blickfeld der Einwohner, denn die veränderte Wahrnehmbarkeit scheint nicht ohne Konsequenzen auf das Bewusstsein der lokalen Öffentlichkeit geblieben zu sein. Bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein war das Bewusstsein, in einer Festung zu leben, aufgrund der Sichtbarkeit der Verteidigungsanlagen und vor allem aufgrund der alltäglich erfahrbaren Eingriffsmöglichkeiten der Vertreter der bewaffneten Macht zweifellos stark ausgeprägt und die Auswirkungen der Festungseigenschaft beherrschten in freilich unterschiedlicher Intensität den kommunalen Diskurs. Im unmittelbaren Vorfeld des Ersten Weltkriegs erscheinen die Festungen in der stadtöffentlichen Wahrnehmung indes als ein allenfalls begrenztes Hemmnis für ökonomischen oder technischen Fortschritt wie die Diskussion über die Einrichtung eines Landeplatzes für Luftschiffe in Köln zeigt;[23] zunehmend wurden sie jedoch als ein Relikt der Vergangenheit und somit als ein bauhistorisches Denkmal wahrgenommen.[24] Die Konsequenzen einer Armierung im Fall eines Krieges und die damit verbundene Gefährdung der Einwohner dürften von den wenigsten Einwohnern realisiert worden sein.
3. Bereit zum Krieg? Festungen und Kriegsvorsorge vor dem Ersten Weltkrieg
Die permanente Einsatzbereitschaft der Festung bildete während des 19. Jahrhunderts den Kern der Instruktionen für die Festungskommandanten. Doch steht dieses Prinzip in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in einem auffälligen Kontrast zu den tatsächlichen Vorbereitungen für eine Armierung oder für eine Belagerung. Eine 1913 in Köln durchgeführte Festungsübung, die von einer Niederlage der deutschen Armee im Westen und einem Rückzug über den Rhein ausging, ignorierte sowohl die Rolle der Zivilbevölkerung für eine Armierung als auch die Auswirkungen einer Belagerung auf die Versorgung der eingeschlossenen Festung. Es verwundert daher kaum, dass in diesem Manöver einer möglichen inneren Gefährdung der Festung keine Beachtung geschenkt wurde.[25] Mag diese Haltung noch auf die ausschließlich auf taktische Überlegungen beschränkte Sicht des Generalstabs zurückzuführen sein, so herrschte zumindest bei manchem Festungskommandanten eine gewisse Unsicherheit vor,[26] wie die Einsatzbereitschaft vor dem Hintergrund des Bevölkerungswachstums aufrechterhalten werden konnte. So hatte das Kölner Festungsgouvernement 1882 eine Anfrage über die Lebensmittelversorgung der Festung im Belagerungsfall an das Kriegsministerium gerichtet. Eine möglicherweise kontroverse und die Öffentlichkeit beunruhigende Debatte hierüber erschien offenbar aber als nicht opportun, denn das Ministerium behandelte die Anfrage ausweichend. Allerdings wurde erstmals eine Verantwortung der Militärverwaltung für die Versorgung eines Teils der Zivilbevölkerung anerkannt; für 10 Prozent der Einwohnerschaft sollten vorsorglich Verpflegungsvorräte angelegt werden. Mit dieser Festlegung, der Überlegungen zum Umfang der für Armierungsarbeiten unverzichtbaren Zivilbevölkerung zugrunde lagen,[27] scheint ein Rahmen vorgegeben zu sein, denn in den folgenden Jahren verschwand die Thematik von der Tagesordnung. Hieran änderte sich auch nichts, als seit 1906 die grundsätzlichen Planungen zur wirtschaftlichen Kriegsvorbereitung und zur Versorgung der Zivilbevölkerung im Kriegsfall allmählich intensiviert wurden. Erst die Verschärfung der internationalen Spannungen mit der Balkankrise und dem Ersten Balkankrieg 1912, die den Ausbruch eines europäischen Krieges in greifbare Nähe rücken ließen, lösten eine angestrengte Diskussion auch über die Versorgung der Festungen aus.
Erstmals im März 1913 stand die Versorgungsfrage auf der Tagesordnung einer Konferenz zwischen dem preußischen Kriegsministerium, Vertretern des Reichskanzleramts, des Reichsamts des Inneren und des Reichsschatzamts. Während das Kriegsministerium auf seiner Position beharrte, die Verpflegung lediglich für 10 Prozent der Einwohnerschaft sicherzustellen, sah das Reichsamt des Innern zunächst das Reich gefordert, die Finanzmittel für die Sicherstellung des Verpflegungsbedarfs der Festungen und die Schaffung der notwendigen Infrastruktur bereitzustellen. Das Reichsschatzamt indes erblickte hierin lediglich eine Aufgabe der Wohlfahrtspflege, die somit von den Ländern wahrzunehmen sei. Noch bevor im Mai 1913 der Reichskanzler den Konflikt wenig eindeutig dahingehend entschied, dass die jeweiligen Bundesstaaten in enger Abstimmung mit dem Reichsamt des Innern besondere Maßnahmen zur Versorgung der Festungen treffen sollten, war das Preußische Innenministerium in die Verhandlungen eingebunden worden.[28] Wenngleich Innenminister Johann von Dallwitz (1855−1919, Amtszeit 1910−1914) gegenüber dem Reichskanzler die Verantwortlichkeit des Militärs betonte, fehlte dieser Hinweis in seiner Aufforderung an die Oberpräsidenten, unverzüglich Konferenzen zwischen den jeweiligen Bürgermeistern, Festungskommandeuren und den Handels- und Landwirtschaftskammern einzuberufen, um eine „positive“ Lösung der Versorgungsfrage herbeizuführen.[29] Obwohl die Verhandlungen unter strengster Geheimhaltung erfolgen sollten, um eine Beunruhigung der Bevölkerung zu verhindern, sollten die semistaatlichen Vertretungen der Landwirtschaft und des Handels einbezogen werden, auf deren Expertise für die Beschaffung und Bevorratung man trotz aller Interessengegensätze zwischen diesen Verbänden nicht verzichten zu können glaubte. Zum einen unterstützten die Vertretungen der Landwirtschaft bereits die Korpsintendanturen bei der Beschaffung des Friedensverpflegungsbedarfs und verfügten somit über die notwendigen Kontakte zu den Erzeugern,[30] zum anderen waren die Handelsbeziehungen insbesondere auch in das Ausland unverzichtbar, gingen doch die Zentralbehörden davon aus, dass die landwirtschaftliche Produktion im Reich nicht ausreichte, eine ausreichende Ernährung der Bevölkerung im Kriegsfall zu garantieren.
Die Diskussion vor Ort − in der Rheinprovinz war die Anfrage lediglich an Köln und Wesel weitergeleitet worden,[31] während Koblenz möglicherweise aufgrund der Grenzferne und der Lage außerhalb des Hauptaufmarschgebietes der deutschen Truppen unberücksichtigt blieb − spitzte sich ungeachtet aller konkreten Überlegungen zur Sicherstellung der Nahrungsmittelversorgung auf einen Konnexitätskonflikt zu. Die Kommunen lehnten jegliche Verantwortlichkeit zur Versorgung der Bevölkerung und Bereitschaft zur Kostenübernahme mit dem Hinweis ab, dass es sich um Angelegenheiten der Landesverteidigung handele.[32] Obschon das preußische Innenministerium diese Haltung in den Verhandlungen mit dem Reich durchaus teilte und die Belastung der Festungsstädte bereits im Frieden betonte,[33] versuchte die Staatsregierung dennoch von vornherein auch die jeweiligen Kommunen in die Pflicht zu nehmen. Fraglos zielte das Innenministerium hiermit in erster Linie auf eine Minimierung der Risiken für den eigenen Haushalt, musste es doch aufgrund der Entscheidung des Reichskanzlers befürchten, auf den Kosten sitzenzubleiben. Gleichzeitig sah das Ministerium die Wohlfahrtspflege ohnehin nicht zuletzt aufgrund des Ausbaus und der Effizienz der kommunalen Daseinsvorsorge weniger als staatliche denn als kommunale Aufgabe. Seine Forderung an die Kommunen, sich an der Finanzierung der notwendigen Infrastruktur zu beteiligen, verknüpfte der Innenminister erfolglos mit dem Hinweis, dass die Kommunalverwaltungen beispielsweise mit dem Bau von städtischen Kühlhäusern auch möglichen Teuerungskrisen in Friedenszeiten gegensteuern könnten.[34] Angesichts fruchtloser verfassungsrechtlicher Diskussionen und ausbleibender Ergebnisse legte das Kriegsministerium im Mai 1914 unter Umgehung des Dienstwegs einen Vermittlungsvorschlag vor,[35] der aber lediglich die Position des Reichskanzlers von 1913 wiederholte. Letztlich blieb der Konflikt, der seine Ursachen zum einen in der unklaren Stellung der bewaffneten Macht als Reichs- oder Kontingentsheer zum anderen in der unzureichenden verfassungsrechtlichen Klärung des Verhältnisses der verschiedenen staatlichen Ebenen zueinander hatte, und in dem sich die verschiedenen Ebenen aus Sorge vor einseitigen finanziellen Belastungen daher gegenseitig blockierten, bis zum Kriegsausbruch unentschieden.
Wenngleich der Zuständigkeitskonflikt zwischen Reich, Ländern und Kommunen die Verhandlungen dominierte, darf nicht übersehen werden, dass die beteiligten Institutionen durchaus bemüht waren, versorgungstechnische Fragen zu klären. Zum einen kreiste die Diskussion um die Frage, auf welche Weise die Versorgung sichergestellt werden könne, zum anderen galt es, den Nahrungsmittelbedarf überhaupt zu ermitteln. Als Vorbild galten hierbei Vereinbarungen für die Festung Thorn, die offenbar auf eine Initiative des dortigen Festungskommandanten zurückgingen. Dort waren Lieferungsverträge abgeschlossen worden, in denen sich Produzenten und Händler verpflichteten, im Kriegsfall die notwendigen Nahrungsvorräte in die Festung zu bringen. Den staatlichen Mittelbehörden und der Militärverwaltung erschien diese Praxis als geeignetes Modell für die Versorgung der Festung Wesel, obwohl der dortige Bürgermeister weitsichtig auf drohende Transportengpässe im Mobilmachungsfall aufmerksam machte. Auf größere Festungen war dieser Lösungsansatz nicht zuletzt aufgrund der Importabhängigkeit und der Sorge vor einer möglichen Blockade des Reichs, die von der Reichsleitung seit etwa 1906 befürchtet wurde, indes von vornherein nicht anwendbar. Hier sollten bereits in Friedenszeiten entsprechende Vorräte eingelagert werden, jedoch fehlte hierfür die entsprechende Infrastruktur. Ein weiteres Problem trat hinzu: aufgrund der begrenzten Haltbarkeit der Lebensmittel musste ein regelmäßiger Austausch erfolgen. Die hieraus resultierenden unternehmerischen Risiken versuchte die Regierung − freilich vergeblich − abzuwälzen, indem sie vorschlug, dass die Kommunen oder gegebenenfalls auch Privatunternehmen die Speicher unterhalten sollten. Weniger strittig war die Ermittlung des Verpflegungsbedarfs. Auch hier diente die Regelung aus Thorn als Muster. Für eine angenommene Belagerungsdauer von 210 Tage war für eine Person ein Fleisch-, Wurst-, Fisch- und Käsebedarf von 22,96 kg errechnet worden. An Gemüse und Kartoffeln waren knapp 48 kg vorgesehen, die Brotversorgung wurde mit jeweils einem halben Kilogramm pro Tag festgelegt.[36]
Als besonders konfliktträchtig erwies sich die Ermittlung, für wie viele Personen überhaupt Vorräte anzulegen waren. Einvernehmen bestand über die Evakuierung der Angehörigen aktiver Soldaten, Militärbeamter und -arbeiter sowie der Insassen von Strafanstalten und psychiatrischen Kliniken. Ausgehend von dieser Prämisse errechnete das Innenministerium eine „Normalbevölkerungsziffer“, die die Grundlage für die Arbeit der vor Ort zu bildenden Verpflegungsausschüsse bildete. In Wesel sollten demnach insgesamt 1.370 Personen (rund 6,5 Prozent der Bevölkerung im Festungsgebiet) evakuiert werden. Hiervon waren allein 1.245 Familienangehörige von Offizieren und Militärbeamten. Mithin war die Versorgung von rund 19.000 Einwohnern sicherzustellen.[37] Von den im Kölner Festungsgebiet lebenden 630.000 Einwohnern mussten entsprechend 20.000 Personen (circa 3,2 Prozent) umgesiedelt werden.[38] Zudem wurde erwartet, dass aufgrund der Einberufung der Reservisten im Gefolge der Mobilmachung die Einwohnerzahl in den Festungen deutlich sinken würde. Unklar war aber, in welchem Umfang weitere Bevölkerungskreise gezwungen werden sollten, vorsorglich die Festung zu verlassen. Hier trafen sich die Überlegungen zur wirtschaftlichen Kriegsvorbereitung mit dem, im Innenministerium unter Verweis auf den Artikel 5 der Preußischen Verfassungsurkunde in seiner Verfassungsmäßigkeit zumindest hinterfragten, schließlich aber mit dem Hinweis auf das Gesetz über den Belagerungszustand[39] gedeckten Recht der Festungskommandanten zur Einschränkung der persönlichen Freiheit und somit auch zur Ausweisung von Personen, die sich nicht selbst ernähren konnten oder die als politisch unzuverlässigen galten und die Verteidigungsbereitschaft gefährdeten. Dabei schob das Militär die Verantwortung für die Evakuierung und die Fürsorge für die Ausgewiesenen wie bereits während des 19. Jahrhunderts ausschließlich den Zivilbehörden zu und zog sich auf die, auf der Instruktion für die Festungskommandanten gründende Pflicht, die Festung zu halten zurück, denn dieser Auftrag stehe höher, als die Fürsorge für ihre Bevölkerung.[40] Dennoch machte der Kriegsminister gegenüber dem Innenministerium deutlich, welche Bevölkerungsteile aus seiner Sicht auszuweisen seien: Neben notorischen Verbrechern, Anarchisten und den Führer[n] _der Umsturzparte_i[41] sollten z. B. Frauen, Greise, Kinder, Arbeitsunfähige, Kranke evakuiert werden,[42] doch änderte sich diese Haltung, als die ersten Zahlen aus den betroffenen Städten und Gemeinden in Berlin eintrafen. Hatte sich noch der Landrat des Kreises Rees nicht in der Lage gesehen, die gewünschten Angaben ohne Erregung der Bevölkerung zu ermitteln und lediglich seiner Hoffnung Ausdruck verliehen, dass zumindest Familienangehörige der Eingezogenen bei Verwandten im Umland Aufnahme finden könnten und es somit kaum zu Abschiebungen − und unausgesprochen zu einer Belastung der kommunalen Unterstützungskassen − kommen müsse,[43] so ging der Oberpräsident für Köln von 100.000 Einwohnern aus, die auszuweisen waren.[44] Die Vertreter des Kriegsministeriums reagierten regelrecht schockiert auf diese Zahl: Solche Armeekorps von Abtransporten während der Mobilmachung zu befördern, sei vollständig ausgeschlossen.[45] Sie forderten, die Normalbevölkerungsziffer in den Festungen zu erhöhen und erklärten überraschend, dass zwischen den Teilen der Bevölkerung, die unbedingt abgeschoben werden müssen (zum Beispiel Geisteskranke, Strafgefangene, politisch Unzuverlässige), und solchen, bei denen die Abschiebung erwünscht ist (Greise, Frauen, Kinder) unterschieden werden müsse.[46] Das mit dieser Notlösung kaum kaschierte Eingeständnis der Ratlosigkeit und Überforderung offenbart eine erstaunliche Unkenntnis der Vertreter der bewaffneten Macht über die Auswirkungen und Herausforderungen der Urbanisierung, die ihre Ursachen fraglos auch in der seit den 1860er Jahre zunehmend auf eine rein militär-fachliche Perspektive beschränkten Ausbildung hatte.[47] Die zu Beginn des 19. Jahrhunderts entwickelten Maximen zur Aufrechterhaltung der Einsatzfähigkeit der Festungen mit ihrer Überbetonung des Pflichtbewusstseins und der Ehre des Offizierskorps erwiesen sich als nicht mehr zeitgemäß und die bisherigen rein fortifikatorisch-technischen Antworten auf die Herausforderungen der Moderne hatten letztlich die Problematik nur verschärft.
Trotz dieser Forderung der bewaffneten Macht in der intraministeriellen Debatte gingen die Vertreter vor Ort für Köln weiterhin von den ursprünglich genannten 100.000 Bewohnern aus. Mit der Ermittlung der Personen und den Planungen zur Bereitstellung der Transportkapazitäten war das Problem freilich nicht gelöst, denn die nur Hilflosigkeit spiegelnde erste Reaktion des preußischen Innenministeriums, den Betroffenen selbst die Sorge um ihren Verbleib und ihren Erwerb zu überlassen,[48] war völlig ungeeignet, um die auch von der Zivilverwaltung grundsätzlich anerkannte Voraussetzung zur Sicherstellung der Verteidigungsfähigkeit der Festung herzustellen. Entsprechend wurden die Behörden vor Ort angewiesen, Evakuierungsräume zu ermitteln und Unterbringungsmöglichkeiten zu schaffen. Für das erwartete Hinaufschnellen der Armenlasten in den Aufnahmekommunen wurde zwar ein Finanzausgleich avisiert, doch zu mehr als einer vagen Absichtserklärung konnten sich die Berliner Reichs- und Staatsbehörden nicht durchringen.[49] Eine Klärung der Verantwortlichkeit, die angesichts des schwelenden Konflikts über die Finanzierung der Festungsversorgung ohnehin kaum zu erwarten war, unterblieb.
Für die Unterbringung der aus Köln auszuweisenden Einwohner war zunächst das rheinisch-westfälische Industriegebiet vorgesehen, denn nur die dortigen Großstädte boten nach Auffassung des Oberpräsidenten ausreichend Quartierraum und Arbeitsmöglichkeiten. Diese Überlegungen stießen auf Widerstand der Bezirksregierungen, die aufgrund des hohen Preisniveaus im industriellen Ballungsraum erhebliche Schwierigkeiten befürchteten, so dass wie bereits in den 1860er Jahren die Provinzen Westfalen und Hessen-Nassau sowie weiter östlich liegende Gebiete als alternative Aufnahmegebiete vorgeschlagen wurden. Aber ebenso wie die Verhandlungen über die Lebensmittelversorgung blieben die Planungen zur Unterbringung der Auszuweisenden bis zum Kriegsausbruch ohne konkrete Ergebnisse, da zum einen die Frage der Verantwortlichkeit nicht geklärt werden konnte, zum anderen die Sorge vor einer Beunruhigung der Bevölkerung die Behörden zur Zurückhaltung veranlasste, wenngleich hierdurch die Gefahr wuchs, im Ernstfall eine Panik auszulösen.[50] Gleichwohl verschwand auch nach der Mobilmachung und dem raschen Vorstoß der deutschen Truppen durch Belgien das Thema nicht von der Tagesordnung. Zwar versuchte der Oberpräsident unter Verweis auf den günstigen Kriegsverlauf und die Auswirkungen auf die Moral der Bevölkerung das Problem dilatorisch zu behandeln, doch drängte das Kölner Festungsgouvernement auf eine abschließende Klärung, so dass schließlich das Innenministerium allgemein die ländlichen Räume der Provinz Westfalen als Zielort bestimmte, ohne dass diesem Beschluss Verhandlungen mit den dortigen Lokalbehörden vorausgingen oder gar Vorbereitungen in den betroffenen Gemeinden getroffen wurden.[51]
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Wunder, Bernd, Kleine Geschichte der Kriege und Festungen am Oberrhein 1630-1945, Karlsruhe 2013.
Zinnow, Uwe, Die große Baumaßnahme. Die Werke des äußeren Festungsgürtels, in: Meynen, Henriette (Hg.), Festungsstadt Köln. Das Bollwerk im Westen, Köln 2010, S. 127-217.
- 1: Zwischenzeitlich wurden auch eine Befestigung Düsseldorfs und der Bau eines verschanzten Lagers bei Trier gefordert. Vgl. Carl von Clausewitz. Schriften − Aufsätze − Studien − Briefe. Dokumente aus dem Clausewitz-, Scharnhorst- und Gneisenau-Nachlass sowie aus öffentlichen und privaten Sammlungen, hg. v. Werner Hahlweg, Band 2, Teil 1, Göttingen 1990, S. 170, 241, 319, 342-346.
- 2: Vgl. Regling, Grundzüge, S. 310.
- 3: Vgl. Rothert, Eduard, Karten und Skizzen aus der Allgemeinen Geschichte der letzten 100 Jahre, Düsseldorf 1911, Nr. 21; Walter, Preußische Heeresreformen, S. 159-160.
- 4: Grabau.
- 5: Bundesarchiv [im Folgenden BA], Militärarchiv PH 23/62 Instruction für die Kommandanten der Festungen 30.9.1809, fol. 5 ff, Zitate: fol. 5 v, 6vf.
- 6: BA, Militärarchiv PH 23/62 Publicandum über die Concurrenz und Verpflichtung der Civil-Autoritäten und Communen in den Festungen und deren Bezirken bei bestehender Einschließung oder Belagerung 30.9.1809, § 4.
- 7: Vgl. Lüdtke, „Gemeinwohl“, S. 272ff.; Sicken, Militärische Notwendigkeit.
- 8: Vgl. Lüdtke, „Wehrhafte Nation“, S. 37; Tippach, S. 100-101.
- 9: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz [im Folgenden GStA PK] I. HA Rep. 77, Ministerium des Innern, Tit. 330a, Nr. 18, Bd. 1, 29.7.1870. Vgl. hierzu auch Sicken, Militärische Notwendigkeit, S. 123.
- 10: Otto von Bismarck, Gesammelte Werke (Neue Friedrichsruher Ausgabe), Abt. IV: Gedanken und Erinnerungen, bearb. v. Michael Epkenhans u. Eberhard Kolb, Paderborn [u. a.], S. 283-284.
- 11: Vgl. Tombs, The War, S. 543-544; Walter, Preußische Heeresreformen, S. 164-165
- 12: Vgl. Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Abt. IV, Kriegsarchiv [im Folgenden BayHStA, Abt. IV, KA] MKr 4649, 11.1.1880, Zusendung der Instruktionen an den König.
- 13: Vgl. Sicken, Militärische Notwendigkeit, S. 126.
- 14: Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags, 10. Leg.Per., I. Session 1898/99, Anlagen, Nr. 118, Bericht der Kommission über den Reichshaushaltsetat.
- 15: Diese Forderung erhob 1913 im Zuge der Debatte über die Versorgung der Festungen der Oberpräsident der Provinz Pommern. Vgl. GStA PK Rep. 77 Tit. 332bb, Nr. 30, Bd. 1, Schreiben des Oberpräsidenten Schwartzkopf an das Innenministerium 21.4.1913.
- 16: Zu den Oberrheinbefestigungen siehe zuletzt Wunder, Kleine Geschichte, S. 170 ff. − Auch in Frankreich waren nach dem Deutsch-Französischen Krieg mit einer Reihe von Sperrforts entlang der Grenze zum Deutschen Reich reine Militärfestungen entstanden.
- 17: Vgl. Bay HStA Abt. IV, KA MKr 4605/2, S. 33 ff. Vgl. auch BA R 43, Nr. 1279, Mitteilung des Kriegsministers von Goßler an den Reichskanzler, 27.1.1901.
- 18: Königsberg hatte 1900 rund 190.000, Straßburg rund 150.000 und Posen etwa 117.000 Einwohner.
- 19: Vgl. Bay HStA Abt. IV, KA MKr 4605/2, S. 43; Zinnow, Die große Baumaßnahme, S. 134-135.
- 20: Zu Koblenz vgl. Tippach, Koblenz, S. 130-135.
- 21: Dezidiert war der Verkaufserlös für entbehrliche Festungswerke für die Errichtung von Friedensdepots und Herstellung einzelner Stützpunkte vorgesehen. Vgl. Bay HStA Abt. IV, MKr 4605/2, S. 20, 132.
- 22: Vgl. BA R 43, Nr. 1279 fol. 6, Schreiben des Kriegsministers von Goßler an Reichskanzler von Bülow, 27.1.1901.
- 23: Vgl. Kölner Stadtanzeiger 1.3. 1910; 1.6. 1911.
- 24: Vgl. Köln als Festungsstadt in: Kölner Local-Anzeiger 28.2. 1913; Kölner Stadtanzeiger 19.5. 1913.
- 25: Vgl. Generallandesarchiv Karlsruhe 456, F 5/46 Bericht über die große Festungsgeneralstabsreise 1913.
- 26: Vgl. hierzu und zum Folgenden Sicken, Militärische Notwendigkeit, S. 125.
- 27: Vgl. GStA PK Rep. 77 Tit. 332bb, Nr. 30, Bd. 1, Schreiben des Kriegsministeriums an das Innenministerium 13.12. 1913.
- 28: Burchardt, Friedenswirtschaft, S. 214-215; Sicken, Die Festungs- und Garnisonsstadt Wesel, S. 128.
- 29: GStA PK Rep. 77 Tit. 332bb, Nr. 30, Bd. 1, Schreiben von Dallwitz an den Reichskanzler 5.4.1913 und Landeshauptarchiv Koblenz [im Folgenden LHAK] 403 Nr. 12278, pag. 1 Schreiben von Dallwitz an die Oberpräsidenten vom 5.4.1913.
- 30: Vgl. Tippach, Koblenz, S. 266-267
- 31: Vgl. LHAK 403 Nr. 12278, Weiterleitung des Schreibens von Dallwitz an den Bürgermeister von Wesel und den Oberbürgermeister von Köln vom 8.4.1913.
- 32: Vgl. LHAK 403 Nr. 12278 pag. 24, Schreiben der Regierung Köln an den Oberpräsidenten, 30. 5.1913.
- 33: Vgl. GStA PK Rep. 77 Tit. 332bb, Nr. 30, Bd. 1 Marginale zum Schreiben des Kriegsministers an den Innenminister vom 13.12.1913, Protokoll der kommissarischen Beratung vom 9.1.1914.
- 34: Vgl. LHAK 403 Nr. 12278 pag. 110f. Schreiben des Innenministeriums an den Oberpräsidenten der Rheinprovinz, 13.2.1914.
- 35: Burchardt, Friedenswirtschaft, S. 218.
- 36: Vgl. LHAK 403 Nr. 12278 pag. 143.
- 37: Vgl. LHAK 403 Nr. 12278 pag. 77f., Bericht des Landrates des Kreises Wesel 14.7.1913 und pag. 161 Mitteilung des Innenministeriums an den Oberpräsidenten der Rheinprovinz.
- 38: Vgl. LHAK 403 Nr. 12278 pag. 168, Mitteilung des Innenministeriums an den Oberpräsidenten der Rheinprovinz 24.4.1914.
- 39: Vgl. GStA PK Rep. 77 Tit. 332bb, Nr. 30, Bd. 1, undatierter Entwurf des Oberregierungsrats Schlosser für ein Schreibens des Innenministeriums an den Kriegsminister, Jan. 1913. Die mögliche Einschränkung des Artikels 5 wurde allerdings bereits im Artikel 111 der Verfassungsurkunde und durch das Gesetz über den Kriegszustand vom 4.6.1851, bes. §§ 5 und 16 reguliert. Vgl. Gesetzsammlung für die Königlich Preußischen Staaten 1850, Nr. 3, S. 17-35, Art. 111 S. 34 und 1851, Nr. 26, S. 451-456.
- 40: GStA PK Rep. 77 Tit. 332bb, Nr. 30, Bd. 1, Korrektur zum Protokoll der kommissarischen Beratung vom 9.1.1914.
- 41: GStA PK Rep. 77 Tit. 332bb, Nr. 30, Bd. 1, Bericht des Oberpräsidenten der Rheinprovinz 14.8.1913.
- 42: Vgl. LHAK 403 Nr. 12278 pag. 54, Abschrift des Schreibens des Kriegsministers an das Innenministerium 16.5. 1913.
- 43: Vgl. LHAK 403 Nr. 12278 pag. 77f., Landrat des Kreises Rees an den Oberpräsidenten 14.7. 1913.
- 44: Vgl. GStA PK Rep. 77 Tit. 332bb, Nr. 30, Bd. 1, Bericht des Oberpräsidenten der Rheinprovinz 14.8.1913.
- 45: GStA PK Rep. 77 Tit. 332bb, Nr. 30, Bd. 1, Protokoll der kommissarischen Beratungen vom 9.1.1914.
- 46: GStA PK Rep. 77 Tit. 332bb, Nr. 30, Bd. 1, Korrektur zum Protokoll vom 9.1.1914. Hervorhebungen im Original.
- 47: Zu diesem Trend in der Ausbildung der Generalstabsoffiziere vgl. Walter, Preußische Heeresreformen, S. 526-527.
- 48: Vgl. GStA PK Rep. 77 Tit. 332bb Nr. 30, Bd. 1, Marginale des Innenministeriums auf Schreiben des Kriegsministers von Heeringen an den Innenminister vom 16.5. 1913.
- 49: Vgl. GStA PK Rep. 77 Tit. 332bb Nr. 30, Bd. 1, Protokoll der kommissarischen Beratungen vom 9.1.1914.
- 50: Diese Gefahr sah der Oberpräsident der Provinz Ostpreußen und schlug daher eine vorbereitende Pressekampagne noch während des Friedens vor. Vgl. GStA PK Rep. 77 Tit. 332bb Nr. 30, Bd. 2, Bericht des Oberpräsidenten der Provinz Ostpreußen an den Innenminister 14.5. 1914.
- 51: Vgl. GStA PK Rep. 77 Tit. 332bb Nr. 30, Bd. 2, Schreiben des Innenministers an den Regierungspräsidenten in Köln 17.9.1914.
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Tippach, Thomas, Festungen im Rheinland, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://rheinische-geschichte.lvr.de/Epochen-und-Themen/Themen/festungen-im-rheinland/DE-2086/lido/57d12ab3881883.06935053 (abgerufen am 19.08.2024)