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Das Streben nach Toleranz und Gewissensfreiheit und die Suche nach einem verbesserten Dasein des Menschen kennzeichnen den Humanismus als an antiken Vorbildern orientierte Weltanschauung im 15. und 16. Jahrhundert. Dabei geriert er zunehmend zwischen die Fronten des Glaubenskampfes und häufig auch in Opposition zu der in mittelalterlich-scholastischer Starre verharrenden altgläubig-katholischen Partei. Lebensläufe wie die des Gisbert Longolius zeigen, welch große Spannung gerade die Gelehrten dieser Zeit auszuhalten hatten, aber auch, dass sie sie aushalten konnten, ohne selbst einer von zwei Seiten zugeordnet werden zu müssen, sondern tatsächlich am inneren Kern der Reformation, der auf die Verbesserung der geistlichen Lebenswelt der Menschen und nicht ihre Spaltung abzielte, orientiert waren.
Longolius stammte aus der alten Utrechter Adelsfamilie von Langerack, über die freilich nur wenig Genaues bekannt ist. Sie stammte wohl von der in der Grafschaft Mark ansässigen Familie von Goy ab und konnte im 14. und 15. Jahrhundert mehrfach das Burggrafenamt in Utrecht, das in dieser Zeit als religiöses Zentrum der Niederlande und auch als Handelsmetropole eine Blütezeit erlebte, bekleiden. Die Familie als Teil des Stadtpatriziats wird nicht unvermögend gewesen sein. Allerdings verzweigte sie sich in mehrere Äste, teils durch illegitime Abstammung. So war Longolius, 1507 geboren als Gisbert van Langerack, vermutlich ein Sohn Mechtelt van Batenborchs (gestorben 1548) und Gerrit van Langeracks, der wiederum ein unehelicher Sohn des Utrechter Ratsherrn Gisbert van Langerack (gestorben 1500) war.
An der Domschule St. Martin erhielt Gisbert eine standesgemäße Ausbildung, bevor er mit 17 Jahren nach Köln ging, um dort seine Studien aufzunehmen. Am Rhein wirkte zu dieser Zeit noch der Skandal um die Dunkelmännerbriefe nach, in denen die alte scholastische Lehre satirisch angegriffen und deren Verbreitung schließlich durch Papst Leo X. (1475-1521, Ponfikat 1513-1521) verboten worden war, nach. Weil die Kölner Universität sich damit der aufkommenden humanistischen Lehre deutlich verwehrte, sank ihre Beliebtheit und mit ihr die Studentenzahl um etwa die Hälfte.
In diesem Umfeld also begann der junge Edelmann am 23.6.1524 sein Studium an der Laurentianerburse, die in der spätscholastischen Tradition Arnolds von Tongern (um 1470-1540) stand. Hier erwarb er am 15.11.1525 das Bakkalaureat und am 3.4. 1527 den Magistergrad. Es ist allerdings unbekannt, wie Longolius die Zeit danach verbrachte. Möglicherweise erlebte er die Verfolgung der Lutheraner in Köln, die etwa in der Hinrichtung Adolf Clarenbachs und Peter Fliestedens (gestorben 1529) einen Höhepunkt fand, mit und fühlte sich davon abgestoßen, vielleicht gelangte er auch entgegen seiner akademischen Prägung aus wissenschaftlicher Einsicht zum Humanismus. Jedenfalls bemühte Longolius sich in den folgenden Jahren um eine tiefere Bildung und auch um Nähe zu bekannten humanistischen Gelehrten.
Äußerer Ausdruck dieses Strebens ist die Benennung nach Christophe de Longueil (1490-1522), eines aus Mecheln stammenden Juristen, der sich später in Padua dem Studium und der Edition antiker Schriften, vor allem Ciceros, verschrieb, im Übrigen aber kaum von sich reden machte. Longolius muss seine Arbeit während einer längeren Italienreise 1534/1535 kennen und schätzen gelernt haben und nahm Longueils Namen in der latinisierten Form an.
Während seiner Reise studierte Longolius unter anderem in Bologna und Ferrara, dort gemeinsam mit Johannes Sinapius (1505-1560), einem aus Schweinfurt stammenden Gräzisten und Arzt – nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen schlesischen Historiker des 17. Jahrhunderts –, der es zu einiger Bekanntheit gebracht hatte. Möglich ist, dass er sich bei oder mit Sinapius zum Doktor der Medizin promovierte, jedenfalls eignete er sich gründliche Kenntnisse auf diesem Gebiet an, die ihm seine spätere Tätigkeit erlaubten.
Als er nämlich 1535, nach einem kurzen Besuch bei Erasmus von Rotterdam (1466/1469-1536) in Basel, in seine Heimat zurückkehrte, übernahm er eine Stelle als Stadtphysikus in Deventer und war damit für die medizinische Versorgung der Stadt verantwortlich, jedoch nur für kurze Zeit, denn bald schon übernahm er die Leitung des dortigen Athenaeums, der Schule, an der führende Intellektuelle des Spätmittelalters gelernt und gelehrt hatten: neben Erasmus unter anderem Geert Groote (1340-1384), Thomas von Kempen oder Nikolaus von Kues.
Die Übernahme des Rektorats deutet darauf hin, dass Longolius, obwohl ihm wahrscheinlich höhere akademische Weihen fehlten, ein vielseitig gebildeter und interessierter Gelehrter war. Neben seiner Tätigkeit auf dem Gebiet der Medizin beschäftigte er sich mit der Herausgabe von Schriften klassischer Autoren und setzte auch bildungspolitisch mit einer neuen Schulordnung für das Deventer Gymnasium Maßstäbe. Theologisch zeigte er sich offen für die neue Lehre und korrespondierte mit Philipp Melanchthon (1497-1560) und Joachim Camerarius (1500-1574). Obwohl er formal altgläubig-katholisch blieb, näherte er sich der Seite der Reformation so immer weiter an.
Im Jahr 1538 erreichte ihn ein Ruf des Kölner Stadtrats, um die vakante Universitätsprofessur für Griechisch zu besetzen, das in der Zeit der scholastischen Lehre eher vernachlässigt worden war und dessen Stärkung jetzt insbesondere in der bildungshungrigen Studentenschaft gefordert wurde. Sicherlich schwang mit der Berufung von Longolius auch die Hoffnung mit, nicht nur ein Fach, sondern die ganze Universität zu reformieren und der humanistischen Lehre zu öffnen. Dies gelang Longolius jedoch keineswegs, und er scheint auch keine konkreten Schritte in diese Richtung unternommen zu haben. Gleichwohl geriet er in Streit mit der Mehrheit der Professoren und Geistlichkeit, trug diesen jedoch nicht offen aus. Stattdessen beschäftigte er sich vor allem mit der Naturkunde und verfasste seinen „Dialogus de avibus“, der, obwohl nur als Fragment erhalten, immer noch zu den wichtigsten Quellen zur Zoologie von Hühnervögeln zählt.
Während seiner Tätigkeit in Köln stand Longolius auch in engem Kontakt zu Kurfürst und Erzbischof Hermann von Wied. Bereits zu Zeiten seiner Italien-Reise hatte er Hermann über den Jülicher Gelehrten Johannes Cäsarius (um 1468-1550) kennen gelernt und ihn mit seiner Gelehrtheit und seinen Fähigkeiten beeindruckt. Nun stand er ihm nicht nur als Leibarzt zur Seite, sondern auch als geschätzter Gesprächspartner und Ratgeber. Hermanns Versuch, das Erzstift zu reformieren, der ja anders als in vielen anderen Fällen keinem politischen oder persönlichen Interesse entsprang, sondern einer über Jahre gereiften Überzeugung, ist damit wohl auch auf Longolius zurückzuführen.
Noch bevor dieser Reformationsversuch im Jahr 1543 scheiterte, verließ Longolius Köln allerdings in Richtung Rostock, um dort die Universität zu reformieren, eine sicherlich weitaus aussichtsreichere und damit attraktivere Aufgabe als in Köln. Begleitet wurde er dabei von Johannes Bronckhorst, genannt Noviomagus (1494-1570), mit dem er sein schon in Deventer erprobtes Bildungskonzept verschriftlichte. Es sah einen dreiteiligen Ausbildungsgang vom Pädagogium für grundlegende Kenntnisse über das Gymnasium zur Erlangung der Studienreife etwa durch die Beschäftigung mit antiken Sprachen, Rhetorik und Logik bis hin zur Universität vor, ein durchaus modernes Curriculum also, das Longolius aber nicht mehr selbst verwirklichen konnte.
Im Frühjahr 1543 kehrte er noch einmal nach Köln zurück, um seine umfangreiche Privatbibliothek nach Rostock zu holen, deren Reste im Übrigen heute in der Düsseldorfer Universitäts- und Landesbibliothek zu finden sind. Hier starb er überraschend am 30. Mai; die Stadtgeistlichkeit und auch die Universität boykottierten seine Beisetzung, weshalb er von Melanchthon und Martin Bucer in Bonn unter Darreichung der Kommunion in beiderlei Gestalt beerdigt wurde. Longolius galt damit endgültig als Häretiker und wurde von der protestantisch-reformierten Geschichtsschreibung, etwa vom calvinistischen Historiker Jakob Revius (1586-1658), vereinnahmt.
Dass diese einseitige Verortung von Longolius seinem Leben und Werk nicht gerecht wird, mag vielleicht am ehesten Pietro Bembo (1470-1547) zeigen, der nicht nur humanistischer Gelehrter war, sondern auch Kardinal der römischen Kurie. Die 1540 erschienene Ausgabe seiner Briefe als Sekretär Papst Leos X. versah er mit drei Zugaben: eine für Erasmus von Rotterdam, eine zweite für Guillaume Budé (1468-1540), einem herausragenden Gelehrten am Hofe des französischen Königs Franz I. (1494-1547) und eine letzte für Gisbert Longolius, der damit schon im Urteil seiner Zeitgenossen als einer der profiliertesten Wissenschaftler des 16. Jahrhunderts galt.
Werke (Auswahl)
Dialogus de avibus et earum nominibus Graecis, Latinis, et Germanicis, 1544.
Studii litterarii publici in akademia Rostochiensi diligens et accurata restauratio, 1544.
Literatur
Finger, Heinz, Gisbert Longolius. Ein niederrheinischer Humanist, Düsseldorf 1990.
Finger, Heinz, Die Sonderstellung des niederrheinischen Humanismus und der Arztphilologe Gisbert Longolius, in: Düsseldorfer Jahrbuch 62 (1990), S. 11-67.
Freitäger, Andreas, Der Italienaufenthalt des Gisbert Longolius und seine Kölner Griechisch-Professur, in: Düsseldorfer Jahrbuch 68 (1997), S. 57-75.
Online
Finger, Heinz/Benger, Anita, Der Kölner Professor Gisbert Longolius, Leibarzt Erzbischof Hermanns von Wied, und die Reste seiner Bibliothek in der Universitätsbibliothek Düsseldorf, Düsseldorf 1987. [Online]
Krause, Karl, „Longolius, Gisbert“, in: Allgemeinde Deutsche Biographie 19 (1884), S. 155-156. [Online]
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Bock, Martin, Gisbert Longolius, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/gisbert-longolius/DE-2086/lido/57c94323d70de7.04457053 (abgerufen am 19.08.2024)