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Der Radrennfahrer Willy Schmitter aus Mülheim am Rhein (heute Köln-Mülheim) war der Inbegriff des fröhlichen und unbeschwerten „kölschen Jung“. Umso tragischer war es, dass der junge Mann, der offenbar über großes Charisma verfügte, erst durch seinen frühen Tod im Alter von 21 Jahren zu wahrer Berühmtheit gelangte und sich die Darstellungen seines kurzen Lebens letztlich vor allem mit seinem Tod beschäftigen.
Zu Beginn des 20. Jahrhundert galt der am 8.2.1884 als Sohn des Bäckermeisters Wilhelm Robert Schmitter Geborene als das große deutsche Talent auf der Radrennbahn und aufsteigender Stern neben dem damaligen Steher-Star Thaddäus Robl (1877-1910) aus München. Nach der Schule erlernte Schmitter zunächst den Beruf des Drogisten, war aber schon für den Radsport begeistert und trainierte fleißig. Im Mai 1902 gewann der eher zierliche Fahrer in Köln als „Flieger“, wie damals die Sprinter genannt wurden, den „Rheingold-Pokal“ für Amateure vor dem dänischen Star Orla Nord (geboren 1875) . Wenige Wochen später wurde er Zweiter der Kölner Meisterschaft hinter seinem Freund Peter Günther, der zwar sein Rivale, aber auch sein Tandempartner war.
1903 trat Schmitter in das Profilager über und wurde Steher, gegen den anfänglichen Widerstand seines Vaters. Die Radrennen hinter donnernden Motoren waren seit der Jahrhundertwende der populärste und wohl auch lukrativste Zuschauersport in Deutschland. Zehntausende kamen auf die Radrennbahnen, um die in ungewohnt hoher Schnelligkeit ausgetragenen Rennen mitzuerleben, aber auch des Kitzels wegen, da es oft zu gefährlichen, ja tödlichen Stürzen kam.
Im ersten Jahr seiner Profikarriere kam der 19-jährige Schmitter auf ein Preisgeld von 1.650 Reichsmark, im Jahr darauf waren es bereits 8.935 Reichsmark (zum Vergleich: um 1900 verdiente ein Arbeiter jährlich rund 800 Mark). In der Wertungsstatistik für „Große Preise“ lag er 1903 mit zwölf gewonnen Rennen auf Platz vier und schon 1905 führte er die Wertung an – eine Entwicklung also, die zu Recht zu den schönsten Hoffnungen Anlass gab, zumal Schmitter auch schon Weltklasse-Fahrer wie Robl, den US-Amerikaner Robert Walthour (1878-1949), den Niederländer Piet Dickentman (1879-1950) sowie seinen Freund, Tandempartner und späteren Weltmeister aus Köln, Peter Günther, besiegte hatte. Um erfolgreich zu sein, hatte Schmitter den französischen Schrittmacher Charles Peguy (gestorben 1907) verpflichtet und sich von ihm auch zwei Führungsmotorräder bauen lassen.
Das „Sport-Album der Rad-Welt“ schrieb: „Nicht allein sein eminentes Können, sondern vor allem seine guten Charaktereigenschaften haben ihm zahlreiche Freunde verschafft und ihn zum erklärten Liebling seines engeren Vaterlandes gemacht. Ein ‚Schmitter-Sieg‘ in Köln glich einem grossen Ereignis und die Begeisterung der Kölner fand keine Grenzen. Aber es war auch für Fernstehende eine Freude, den jungen Fahrer mit Riesenschritten der Extraklasse zusteuern zu sehen.“ In den Monaten vor seinem Tod entschied er vor heimischem Publikum auf der Radrennbahn in Köln-Riehl (die Bahn befand sich seit 1889 auf einem Areal, das heute zum Kölner Zoo gehört) sechs international besetzte Rennen für sich. Wie leidenschaftlich es dabei zuging, zeigt ein Vorfall aus dem Mai: Da es nieselte, und dies besonders für die Motorrad-Schrittmacher auf der offenen Bahn zu gefährlich war, beschloss die Rennleitung, die Rennen ohne Motoren zu bestreiten. Daraufhin entspann sich unter den Zuschauern ein Tumult: „Die Preisrichtertribüne wurde erstürmt, fortwährend mit der Glocke geläutet, […] Biergläser zertrümmert“. Erst nach einer Stunde konnten die Gemüter mithilfe der Polizei beruhigt werden. Tags darauf wurde um das „Goldene Rad von Köln“ gefahren, und als Schmitter gewann, musste er zwei Ehrenrunden fahren, begleitet von steten Hochrufen, und wurde schließlich von Freunden auf dem Rad sitzend in die Kabine getragen, „die fast vom begeisterten Publikum gestürmt“ (Kölner Stadt-Anzeiger vom 9.5.1905) wurde.
Im Juli 1904 belegte Schmitter den vierten Platz bei der Steher-Weltmeisterschaft der Profis in Antwerpen, wenn auch nach 100 Kilometern mit 14 Runden Rückstand auf den Sieger. Weltmeister wurde der US-Amerikaner Robert Walthour, gegen den Schmitter allerdings nur zwei Wochen später in Köln beim „Preis um die goldene Ecke“ gewann und mit dem er sich zahlreiche weitere Duelle lieferte und in der Folge auch häufiger gewann.
Seine Freundschaft mit dem zweiten Kölner Lokalmatadoren Günther war inzwischen einer erbitterten Rivalität gewichen; die jeweiligen Anhänger nannten sich „Schmitter-„ und „Günther-Partei“. Diese Fehde hatte sich auch auf die Schrittmacher übertragen und entlud sich besonders bei Rennen in Köln. So kamen am 9.7.1904 beim „Großen Preis vom Rhein“ beide Fahrer und ihre Schrittmacher zu Fall, weil sie versucht hatten, sich gegenseitig abzudrängen, alle Beteiligten blieben aber unverletzt. Die größere „Schmitter-Partei“ gab anschließend dem Schrittmacher von Günther, Heinrich Otto, die Schuld, was Peter Günther in Köln eine zeitlang Sympathien kostete.
Die Erfolge Schmitters führten dazu, dass er im September 1905 zu dem Rennen um die „Meisterschaft von Europa“ in Leipzig eingeladen wurde, wo er laut dem Berliner Radsportjournalisten Fredy Budzinski (1897-1970) „fröhlich und selbstbewußt“ erschien. 30.000 Zuschauer waren vor Ort und erlebten entsetzt seinen fatalen Unfall in der 66. Runde des Rennens. Dieser Sturz in Leipzig gehörte zu den damals klassischen Fällen: Die Fahrradreifen zu Anfang des 20. Jahrhunderts waren für die Geschwindigkeiten von bis zu 100 Kilometern pro Stunde bei Steherrennen ungeeignet und platzten deshalb häufig. Der Steher stürzte und wurde oftmals von folgenden Schrittmacher-Motorrädern überrollt.
So geschah es auch Willy Schmitter; er erlitt einen Schädelbruch – ebenfalls die häufigste Form der Verletzung bei Stehern – und starb in der folgenden Nacht im Krankenhaus. Der tödliche Unfall rief, so der „Kölner Stadt-Anzeiger“, „in der ganzen Stadt allgemeine Teilnahme“ hervor. Die Fachzeitschrift „Rad-Welt“ vermeldete gar, das in Köln „zahlreiche Geschäfte das Bildnis Schmitters, mit Trauerflor und Blattpflanzen geschmückt, ausgestellt“ hätten und dass diese Schaufenster „umlagert“ seien, und sie selbst musste wegen der großen Nachfrage Exemplare ihrer Ausgabe mit dem Nachruf auf Schmitter nachdrucken lassen. Zur Beerdigung strömten per Schiff, Eisen- und Straßenbahn Tausende Menschen - eine „Völkerwanderung“ (Rad-Welt) - nach Mülheim, um Willy Schmitter das letzte Geleit zu geben. Die drei Kilometer lange Strecke von der Windmühlenstraße zum Mülheimer Friedhof war von rund 50. 000 stillen und andächtigen Menschen gesäumt, und die Mülheimer Polizei musste Verstärkung aus Köln anfordern, um das lebensgefährliche Gedränge zu ordnen: „Die Trauer des Publikums um einen seiner Günstlinge kam bei Schmitters Beerdigung zu großartigem Ausdruck“ (Kölner Stadt-Anzeiger vom 22.9.1905). Dem Sarg selbst, der unter riesigen Gebinden und Kränzen – 200 waren es insgesamt – kaum zu sehen war, folgten außer Familie und Freunden zahlreiche Delegationen von verschiedenen Radsportvereinen. Trotz des großen Andrangs verlief die Beerdigung Schmitters, „dem vor Kurzem noch Tausende zugejubelt haben und dessen Gruft heute ebenfalls Tausende umdrängen“, würdevoll: „Als dann der greise Vater tiefgebeugt seinem Liebling die letzte Ehre erwies und der Vertreter des Sportplatzes Leipzig sowie Herr Stevens-Köln im Namen des Deutschen Rennfahrerverbandes von dem unvergeßlichen Kameraden mit tränenerstickter Stimme Abschied nahmen und den letzten Lorbeer ins Grab warfen, blieb kein Auge trocken“ (Kölner Stadt-Anzeiger vom 22.9.1905). Selbst in den Tagen nach der Beerdigung hielt der Andrang auf dem Friedhof an.
Fredy Budzinski verewigte das kurze Leben von Willy Schmitter, „den die Rheinländer […] liebten und vergötterten“, in einem Bändchen, in dem er in gruseliger Weise den Unfall in Leipzig beschrieb: „Doch noch Einer […] fuhr auf der Bahn. […] Seine Farbe war das Schwarz des Bahrtuchs. […] Da löst sich eine knochige Hand aus dem wallenden Mantel, streckt sich lang aus und faßt den mutigen Schmitter ins Genick. Ein Zischen, Knallen, Pfeifen, Brechen … und ein menschlicher Leib schleift über die Fläche. […] Da grüßt ein hoffnungsvoller Jüngling den Tod.“ Budzinski widmete Schmitter auch ein Gedicht und den kurzen Vers:
Was noch am Morgen strahlend glänzte,
Sinkt in den Staub beim Abendrot;
Kein Mensch kann dem Geschick enteilen,
Der schnellste Renner ist der Tod!
Diesem Geschick konnte auch Schmitters Schrittmacher Peguy nicht enteilen: Im Juni 1907 verunglückte er tödlich auf der Radrennbahn in Spandau (heute Berlin-Spandau), als er den Franzosen Paul Guignard (1876-1965) führte. Guignard hatte 1905 das Rennen, bei dem Schmitter verunglückt war, als Europameister beendet. Schmitters Kölner Rivale und Freund Peter Günther starb 1918 auf der Radrennbahn in Düsseldorf den „Stehertod“.
Als Ende November 1919 auf dem Kölner Südfriedhof ein Denkmal für Peter Günther enthüllt wurde, fand am gleichen Tage zur Erinnerung an beide Sportler ein Requiem in St. Aposteln statt, und an Schmitters Grab wurden ebenfalls Kränze niedergelegt. 1930 wurde der Radsportverein „RC Schmitter“ in Köln gegründet, der heute in Hürth beheimatet ist.
Literatur
Budzinski, Fredy, Willy Schmitter. Biographien berühmter Rennfahrer, Band 11, Berlin 1906.
Sport-Album der Rad-Welt. Ein radsportliches Jahrbuch, 2. u. 4. Jahrgang, Berlin 1904, 1906.
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Franz, Renate, Willy Schmitter, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/willy-schmitter/DE-2086/lido/57c9483c4f9eb7.31414460 (abgerufen am 19.08.2024)