"Grippeferien" 1918
von Eberhard Blohm/AKdia 2009
Dieser lapidare Eintrag im Schultagebuch von Michelbach für den 4. bis 16. November 1918 (S.7) weckte meine Aufmerksamkeit. Zum einen wollte ich wissen, was zu dieser sonst recht ungewöhnlichen Maßnahme einer Schulschließung bei einer Allerweltserkrankung geführt hatte, zum anderen, ob außer Michelbach noch andere Schulen, auch in Altenkirchen, betroffen waren und ob es ein öffentliches Echo gegeben hat.
Immerhin lag der 1. Weltkrieg in seinen letzten Zuckungen; es folgten die Abdankung des Kaisers und die „Revolution“ 1918.
Eine kurze Recherche bei Wikipedia unter „Grippe 1918“ (de.wikipedia.org/wiki/Spanische Grippe) erbrachte die allgemeine Erläuterung, dass diese weltweit registrierte Epidemie mit ihrem oft tödlichen Verlauf zu den größten Seuchen der Geschichte zu zählen ist. Sie erfasste außer den in solchen Epidemien oft betroffenen Kleinkindern und alten Menschen oft Jugendliche und jüngere Erwachsene unter 40 Jahren. Für den Westerwald hat Priewer 2006 das Auftreten der Grippeepidemien beschrieben, dabei aber für 1918 keine Beispiele aus dem Kreis Altenkirchen zitiert.
Daraus ergab sich der Auftrag, zunächst einmal zu prüfen, ob es aussagefähige Quellen für die Annahme gibt, dass auch in Altenkirchen diese Epidemie grassierte und Opfer gefordert hat.
Das Sterberegister des Standesamts für das Amt Altenkirchen weist für die Jahre vor, während und nach dem 1. Weltkrieg die folgenden Sterbefallzahlen aus:
1911
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1912
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1913
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1914
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1915
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1916
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1917
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1918
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1919
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1920
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1921
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1922
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126
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111
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115
|
116
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187
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169
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205
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238
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145
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113
|
128
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120
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Die Zahlen zeigen, dass in Friedenszeiten jährlich weniger als 130 Sterbefälle registriert wurden, im Krieg naturgemäß mehr. Da die Meldungen von Sterbefällen auf den Kriegsschauplätzen nur mit Verzögerungen in Altenkirchen ankamen, wurden die Verluste ab 1914 erst in den Folgejahren verzeichnet. Trotz der kriegsbedingten Zunahme aller Kriegsjahre weist das Jahr 1918 den höchsten Wert in diesem Zeitraum auf.
Nunmehr wurde geprüft, ob es innerhalb des Jahres 1918 besondere Schwerpunkte in einzelnen Monaten gab und ob diese auf die Verlustmeldungen von den Kriegsschauplätzen zurückzuführen waren.
Eine Prüfung der Monatswerte ergab für 1918:
Jan
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Feb
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Mrz
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Apr
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Mai
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Jun
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Jul
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Aug
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Sep
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Okt
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Nov
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Dez
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13
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26
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16
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14
|
16
|
12
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21
|
14
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9
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39
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34
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24
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Die Zunahme für Oktober mit dem höchsten Wert, der im November ein wenig abnahm und erst im Dezember wieder in den Bereich der normalen Schwankungen zurückging, erhärtete die Vermutung eines außergewöhnlichen Einflusses.
Die Prüfung der Einzelfälle erbrachte eine weitere Klärung: von den 39 Fällen waren 34 ohne vermerkte Einflüsse des Krieges, eines Unfalls oder Totgeburten. Diese 34 Fälle wurden dann nach dem Alter der Verstorbenen geprüft. 15 waren 40 Jahre und älter, 9 über 20 Jahre, 8 über 10 Jahre, 3 waren Kleinkinder.
Da das Sterberegister der Zeit sonst keine Todesursachen nennt, wurden die Todesanzeigen im Altenkirchener Kreisblatt zu Rate gezogen (14.10. bis 1.11.1918), die für 17 von 19 Fällen vorliegen. In drei Fällen wurden im Text kein Hinweis gegeben, in drei Fällen erfolgte der Hinweis auf langes Leiden, in den übrigen elf Fällen erfolgte der Hinweis nach kurzer, schwerer Krankheit.
Eine Meldung im Altenkirchener Kreisblatt (29.10.1918) berichtet die Wahrnehmung der Zeitgenossen:
Betzdorf, 29. Okt. Die Grippe, die hier und in der Umgebung im allgemeinen diesmal etwas später als an anderen Orten auftrat, hat dann plötzlich rapide um sich gegriffen und hier und in der Umgebung eine Anzahl Opfer gefordert, durchweg junge blühende Menschenleben. Die Betriebe leiden empfindlich unter den Massenerkrankungen und die Post musste ihren Dienst etwas beschränken.
Aus dem Altenkirchener Kreisblatt (15.11.1918) ist zu entnehmen, dass nach diesem Datum wohl der Höhepunkt der Epidemie überschritten zu sein schien:
Altenkirchen, 15.Nov. Infolge Rückgangs der Grippeerkrankungen im hiesigen Bezirke ist angeordnet, dass der Unterricht am Montag, den 18. November in sämtlichen Schulen wieder aufzunehmen ist.
Auch im November und Dezember hat es aber noch Todesanzeigen für jüngere Personen gegeben, die zeigen, dass die Epidemie erst allmählich abgeklungen ist.
Zur Einordnung der örtlichen Erkenntnisse vgl. Michels, Eckard: Die "Spanische Grippe" 1918/19. Verlauf, Folgen und Deutungen in Deutschland im Kontext des Ersten Weltkriegs.- In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 58. Jg. Heft 1, 2010, S.1-33
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