Hinter den 7 Bergen, eingekuschelt in den Pfälzer Wald und knapp vor der französischen Grenze liegt Pirmasens (Bärmesens im hiesigen Dialekt) – einst deutsche Schuhmetropole. Und so ist es nur folgerichtig, dass unser März-Projekt in einer ehemaligen Salamander-Schuhfabrik untergebracht ist: die JuKuWe, ausgeschrieben JugendKulturWerkstatt Pirmasens, in Trägerschaft des IB (Internationaler Bund).
Dieter Geisinger, der Mann mit dem kurzen grauen Pferdeschwanz, ist kulturpädagogischer Leiter, und er nimmt sich fast zwei Stunden Zeit, die Kultur-Werkstatt und die hier arbeitenden, musizierenden, filmenden, strickenden Menschen vorzustellen.
Von der Schuhfabrik zur Kultur-Werkstatt
Geisinger ist als kleiner Junge auf dem selben Fußboden, der jetzt noch liegt, durch die Hallen gelaufen, weil seine Mutter damals hier gearbeitet hat. Daher war er auch mit großem Feuereifer dabei, als es an den zweijährigen Umbau der mittlerweise leerstehenden Fabrikhallen ging. Zwei Jahre hat es gedauert, die Fabrik aus ihrem Dornröschenschlaf zu erwecken.
Geisinger zum Prozedere der Entstehung: “Die Idee, wie das alles aussieht, wurde gemeinsam erarbeitet, aber die Grundvision hat mein Chef, das ist der Tom Bayer, entwickelt. Diese Grundidee, das alles unter ein Dach zu bringen. Wir haben ‘ne gute Kombination, er ist der Visionär und ich setz es dann um.”
Es wurden Workshops belegt (“Wie baue ich mit möglichst wenig Geld ein möglichst professionelles Tonstudio?”), unverhoffte Gaben verbaut (etwa zwei 7,5 Tonner voll oranger Messestand-Platten) und kreative Wege der Gestaltung ausprobiert (Hauskünstler Pouya Nemati ließ sich vom Muster seines Hemdes zur Gestaltung der Bar im Café inspirieren). 2011 konnte dann eingezogen werden, da war immer noch viel Baustelle und vor allem – das war ganz bewusst so: viele weiße Wände zum Gestalten und Bunt werden.
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Wo früher in Akkordarbeit Schuhe produziert wurden, dreht sich nun auf 1.200 Quadratmetern von früh bis spät alles um die Kultur: Musik, bildende Kunst, Medien, Theater und perspektivisch soll auch wieder Tanz angeboten werden. Und weiß ist es hier nun wirklich nicht mehr.
Kultur für alle
Das Kerngeschäft, das ist die tägliche Kulturarbeit mit Kindern und Jugendlichen vor Ort, großer Schwerpunkt ist hier vor allem die Musik. Diesen Bereich gibt es auch am längsten, schon seit 20 Jahren. Daneben arbeitet die JuKuWe viel in Kooperationen (Kitas, Ganztagsschulen, Stiftungen, dem Träger IB etc.). Dabei arbeiten sie viel mit lokalen Partnern zusammen, etwa dem Pakt für Pirmasens oder dem Jobcenter, und ermöglichen so auch Kindern, die finanziell nicht so gut aufgestellt sind, in Kontakt mit Kunst & Kultur zu kommen. Aber auch mit weiteren sozialen Einrichtungen, etwa der Heinrich-Kimmle-Stiftung für Menschen mit Behinderung oder in generationsübergreifenden Projekte mit dem Altersheim.
Geisinger betont: “Unser Anspruch ist ‘Kultur von Anfang an, Kultur für alle.’ Wir wollen natürlich nicht, dass die JugendKulturWerkstatt eine elitäre Einrichtung ist, sondern das soll für jeden zugänglich sein. Das ist ganz, ganz wichtig für uns.”
Und auch das Zusammenbringen unterschiedlicher Zielgruppen zieht sich als wiedererkennbarer Ansatz in den Projekten durch: So berichtet Geisinger von einem Projekt für die Kimmle-Stiftung, bei dem es um die Neugestaltung von Wänden ging. “Kimmle” war unter Pirmasenser Jugendlichen zum Schimpfwort für Behinderte geworden und so brachte die JuKuWe bewusst in der Arbeitsgruppe Behinderte und Schüler*innen einer Förderschule zusammen, um Begegnung zu ermöglichen und auf diesem Weg Vorurteile abzubauen. Geisingers Beobachtung: “Am Anfang gab es ein bisschen Berührungsängst, aber nach einer Viertelstunde war das eine homogene Gruppe und da war keine Frage mehr: Wer ist behindert und wer ist Förderschüler? Unser Ansatz ist immer wieder derselbe: Wir bringen Leute, ungewöhnliche Kombinationen von Leuten zusammen, und dadurch passiert die Pädagogik selbständig. Wir beobachten das nur und steuern nach.”
Von der Berufsmusik zur JuKuWe
Geisinger selbst ist übrigens klassischer Quereinsteiger: Eigentlich war er passionierter Berufsmusiker, tourte kreuz und quer durch Europa, hat in unterschiedlichen Bands gespielt. Dann führte ihn das Heimweh zurück nach Pirmasens und durch eine Zufallsbegegnung landete er beim IB. Dort übernahm er ein kleines 2-Band-Projekt von einem Musikerkollegen – er hatte einen kleinen Karteikasten, ein Telefon, das wars. “Und dann bin ich zu meinem Chef gegangen und hab gesagt: Ok, was ist mein Job? Und er hat gesagt: Das, was Du draus machst. Und das haben wir dann draus gemacht (Geisinger zeigt um sich und lacht).
Dass die Musik immer noch eine große Leidenschaft von Dieter Giesinger ist, merkt man, wenn man sich mit ihm die JuKuWe erläuft. Da kann er schon mal ins Schwärmen geraten, wenn er im Backstage-Bereich der Bühne eine alte Autofelge entdeckt, die aus einem Schrottplatz-Musikprojekt mit Langzeit-Arbeitslosen stammt: “Die klingt doch nach tausend Euro!”
Für Geisinger ist seine Arbeit wirklich eine Berufung, das sagt er auch selber. “Ich kann von jedem Kind, von jedem Erwachsenen viel lernen, das ist für mich ein ganz wichtiger Aspekt in meinem Beruf. Ich will jeden Tag nach Hause gehen und sagen: Ich hab heute ein bisschen was gelernt. Das ist für mich spannend.”
Diese Leidenschaft für die Arbeit merkt man auch den Projekten der JuKuWe an. Die Palette spannender und preisgekrönter JuKuWe-Projekte ist zu lang, um sie hier ausführlich zu beschreiben, deshalb für den ersten Eindruck hier nur ein paar Highlights rausgepickt:
“Song für Pirmasens” (2011):
Das Großprojekt, das in den letzten Jahren am meisten Wellen geschlagen hat, gefördert durch das Bundesprogramm “Toleranz fördern, Kompetenz stärken”. Ein wilder Ritt durch die Musikgenres. 50.000 Klicks auf YouTube, Feedback von Exil-Pirmasensern aus 66 verschiedenen Ländern, zahlreise Preise. Reinschauen lohnt sich:
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Zukunft Zusammen – Chance für alle
Im Herbst 2015 wurde als Willkommens-Projekt für und mit Pirmasenser Flüchtlinge eine Plakatkampagne entwickelt, auf der Tandems aus Geflüchteten und Ehrenamtlichen als Selfies abgebildet waren. Gefördert durch das Bundesprogramm “Demokratie leben”.
Hörbar Kunst
Jugendliche aus Pirmasens begaben sich auf die Spuren von Maler Heinrich Bürkel und erstellten einen Museums-Audioguide von Jugendlichen für Jugendliche.
“Start Up” – Die Medienredaktion
Elf Jugendliche im Alter von 12 bis 20 treffen sich wöchentlich in der JuKuWe und erarbeiten ihre eigene Fernsehsendung “Start Up”. Dafür wurde ihnen im Februar 2016 den Jugend-Engagement-Preis von Malu Dreyer überreicht.
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Zukunftsmusik:
Und was sind die nächsten spannenden Projektideen, die den Pirmasenser JuKuWelern im Kopf rumschwirren? 2016 ist großes Dada-Jahr, der rheinland-pfälzische Kultursommer steht unter diesem Motto und Mitbegründer der Bewegung, Hugo Ball, stammt aus Pirmasens und war tatsächlich Sohn eines Schuhfabrikanten – das wird sich prägend auf die diesjährigen JugendKulturTage in Pirmasens auswirken.
Außerdem ist ein Nachfolge-Projekt zum “Song für Pirmasens” in Vorbereitung, Geisinger verrät: “Der Film für Pirmasens wird ganz viel Platz einnehmen in unserer Planung für die nächsten zwei Jahre, das ist ganz klar. Das ist ein Projekt, da sind wir auch sehr ehrgeizig mit. Und auch hier ist wieder der Ansatz: wir wollen mit vielen Jugendlichen, mit Amateuren arbeiten – einen Querschnitt bilden durch die ganze Bevölkerung unabhängig von irgendwelchen Handicaps oder sozialen Benachteiligungen, es soll jeder Pirmasenser die Möglichkeit haben, sich auf seine Art einzubringen.”
Zum Weiterlesen, Weiterschauen, Inspirieren lassen empfehlen wir die Homepage oder den hauseigenen Youtube-Kanal:
http://www.jukuwe-pirmasens.de
https://www.youtube.com/channel/UCDAD7dpSn40VLmwRoAzQnhw
…und natürlich einen persönlichen Besuch in Pirmasens!
Autorin: Johanna Gather