»Aus der Tiefe rufe ich zu dir«
(GL 283)
Worte von Uwe Seidel 1981; Melodie von Oskar Gottlieb Blarr 1981
Liedportrait von Meinrad Walter
„Unser täglich Lied gib uns heute“ – so benennt der Düsseldorfer Komponist Oskar Gottlieb Blarr (geb. 1934) das Motto seines Lebens und Schaffens im Blick auf neue geistliche Lieder. Blarr ist einer der profiliertesten protestantischen Kirchenmusiker und Komponisten, der bislang nicht nur vier Sinfonien und große Werke für Solisten, Chor und Orchester wie die „Jesus-Geburt“, die „Jesus-Passion“ und ein „Oster-Oratorium“ geschaffen hat, sondern auch Kammermusik und Orgelwerke, darunter eine Orgelsinfonie über das Lied „Lobe den Herren, den mächtigen König“ von Joachim Neander. Von 1961 bis 1999 war der in Bartenstein (Ostpreußen) geborene Blarr Kirchenmusiker an der Neander-Kirche Düsseldorf.
In Düsseldorf kreuzten sich die Wege von Oskar Gottlieb Blarr und Uwe Seidel (1937–1997). Seidel war protestantischer Theologe und wichtiger liturgischer Impulsgeber für viele Kirchentage. Sein Name verbindet sich mit „Beatmessen“ sowie mit der ersten „Liturgischen Nacht“, die auf dem Kirchentag in Düsseldorf 1973 gefeiert wurde und viele Nachahmer fand. Das Lied „Aus der Tiefe rufe ich zu dir“ war zunächst Teil des „Gemeinsamen Kreuzwegs der Jugend“ der Arbeitsgemeinschaft Evangelische Jugend (AEJ) und des Bunds der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ) im Jahr 1981. Erstmals erklungen ist es als Kyrie-Gesang im Rahmen der „Beatmesse 81: Wenn der Stacheldraht blüht“ in der Thomaskirche Düsseldorf und dann beim Evangelischen Kirchentag in Hamburg.
Psalm 130 „De profundis“ (Aus der Tiefe) ist ein Klage- und Vertrauenspsalm, der oft vertont wurde: von Martin Luther als Psalmlied „Aus tiefer Not schrei ich zu dir“ (GL 277), von J. S. Bach in zwei Kantaten und in Orgelwerken, später dann u. a. von Christoph Willibald Gluck, Lili Boulanger, Heinrich Kaminski, Krzystof Penderecki und Sofia Gubaidulina.
Das Lied von Uwe Seidel und Oskar Gottlieb Blarr über die beiden ersten Verse von Psalm 130 könnte schlichter kaum sein. Auf die in jeder Strophe zwei Mal erklingende und dabei gleich bleibende Anfangsgeste „Aus der Tiefe rufe ich zu dir“, die jeweils mit einem Doppelpunkt versehen ist, folgen Inhalte des Bittens. Deren poetische Parallelität erinnert an den Aufbau der biblischen Psalmverse, den sogenannten „Parallelismus membrorum“. Am wichtigsten sind die eindringlichen Verben im Modus des Imperativs: „Höre“ (Strophe 1), „öffne“ (Strophe 2) und „achte“ (Strophe 3). Mit den Verben korrespondiert die bedrängte Situation des Beters: Fragen (Strophe 1) und Verlorenheit (Strophe 2) sowie die Angst vor dem Untergehen (Strophe 3), was wörtlich zu nehmen ist, weil im hebräischen Psalm die Chaosfluten gemeint sind, die über dem Beter zusammenschlagen.
Die letzte Strophe ist poetisch anders gebaut, weil sie auch inhaltlich eine neue Wendung bringt. Dem Beter gelingt mit den Worten „Nur dir will ich vertrauen – auf dein Wort will ich bauen“ eine hoffende Perspektive, die dem fünften Psalmvers entspricht: „Ich hoffe auf den Herrn, es hofft meine Seele, ich warte voll Vertrauen auf sein Wort“.
Zur Musik gibt der Komponist Blarr einen wichtigen Hinweis: „Der Verzicht auf komplizierte Rhythmen und Pausen (sonst typisch für neue Lieder) sollte der schnellen Aufgreifbarkeit entgegen kommen.“ Im Original war es zudem „ein durchlaufendes Lied mit instrumentalen Zwischenspielen“. Das könnte ein Impuls auch für die Einführung dieses Gotteslob-Liedes sein. Kurze Improvisationen auf einem Tasten- oder Melodieinstrument zwischen den Strophen können die zentralen Gesten – Klagen, Öffnen, Flehen, Vertrauen – aufnehmen und so einen Raum des Nachdenkens und Nachklingens eröffnen. Auch diese Aufführungspraxis kommt der Liturgie und diesem Psalm zugute, ganz im Sinne von Uwe Seidels Wort: „So ist der lebendige Gottesdienst nach wie vor mein Ziel.“