»Du, Herr, hast sie für dich erwählt«
(GL 547)
Text nach „Aptata, virgo, lampade“ anonym 14. Jh.; Übersetzung Antiphonale zum Stundengebet 1979; Melodie von William Knapp (1696–1768)
Liedportrait von Meinrad Walter
Wie international und ökumenisch ausgerichtet das Gebet- und Gesangbuch Gotteslob ist, wird bei diesem Lied besonders deutlich. Die Melodie führt uns in die Kleinstadt Wareham im Südwesten von England. In der anglikanisch-musikalischen Welt heißt diese Melodie sogar bis heute „Wareham“. Der Komponist selbst hat sie so benannt, um seinem Geburtsort ein musikalisches Denkmal zu setzen. Mit unterschiedlichen Texten finden wir diese Musik in vielen anglikanischen Gesangbüchern sowie in mehrstimmigen Chorsammlungen.
Der Komponist war ein englischer Organist und Kirchenvorstand namens William Knapp, der von 1696 bis 1768 gelebt hat. Als „reisender Psalmensänger“ hat er den ländlichen Kirchenchören der englischen Grafschaft Dorset viele Impulse gegeben. Erstmals gedruckt erschien seine Wareham-Melodie in einem Liederbuch, das Knapp im Jahr 1738 unter dem Titel „A Set of New Psalm Tunes and Anthems“ veröffentlicht hat. Der ursprüngliche Text dieses Chorsatzes mit der Melodie in der Tenorstimme ist Psalm 36.
Die musikalische Besonderheit liegt in der durchgängig stufenweisen Fortschreitung. Der einzige Sprung im ganzen Lied ist die Quart im zweiten Takt. Einige „Vokabeln“ kehren häufig wieder, was zu einer großen Geschlossenheit führt. Dennoch wirkt die Melodie nie eintönig, sondern kraftvoll und hymnisch, was die anglikanische Gesangstradition ja insgesamt auszeichnet. Eine raffinierte Steigerung ergibt sich durch die Spitzentöne jeder Zeile: die erste Zeile führt die Sänger nur bis a, die zweite verlangt gleich ein h, die dritte bleibt in diesem melodischen „Rahmen“ und setzt dafür rhythmische Akzente durch zusätzliche Achtel- und Halbenoten. Nur die Schlusszeile bringt dann den Spitzenton c und eine schwungvoll-melodische Linie, die schlussendlich in den Grundton mündet.
Die Worte „Du, Herr, hast sie für dich erwählt“ stammen aus dem klösterlichen Stundengebet, das zahlreiche Hymnen kennt, die jeweils die liturgische Thematik des Tages „intonieren“. Unser Lied hat seinen ursprünglichen „Sitz im Leben“ in der Vesper an Gedenktagen selig- oder heiliggesprochener Jungfrauen. Singend werden diese mit den klugen Jungfrauen aus Jesu Gleichnis (Matthäus 25) identifiziert. Die in den 1970er Jahren entstandene deutsche Übertragung fasst das lateinische Original aus dem 14. Jahrhundert prägnant zusammen. Allerdings verzichtet sie auf einige spirituelle „Obertöne“. So wird die mittelalterliche Brautmystik in der Übertragung kaum angedeutet, obwohl sie das lateinische Original stark prägt. Außerdem entfällt die der Gottesmutter Maria als „Jungfrau der Jungfrauen“ (virgo virginum) gewidmete Strophe.
Der Aufbau der deutschen Übertragung folgt einem alten Prinzip der geistlichen Bibelauslegung. Strophe 1 benennt die Herkunft des Themas: zunächst die Erwählung Gottes und dann die menschliche Antwort, die Treue und Wachsamkeit heißt. Die zweite Strophe schlägt die Brücke vom Damals ins Heute: die klugen Jungfrauen zogen zum „königlichen Hochzeitsmahl“ ein, weil der Bräutigam ihnen die Tür geöffnet hat. Heute sind sie unser Vorbild in Wachsamkeit, Treue und Geduld.
Die letzte Strophe besingt Jesus, der „kommen wird“. Nach der Herkunft und der Gegenwart geht es nun um Zukunft und Vollendung. Was erhoffen wir? Nicht geringeres, als dass er am Ende aller Tage die „Pforten“ der Ewigkeit öffnet. Dreifach also ist das Symbol der Tür zu deuten: als Tür zu einem Hochzeitsfest, von dem die Bibel gleichnishaft erzählt (Strophe 1), sodann als Tür zur gottesdienstlichen Feier, in der dieser „Lobpreis“ erklingt (Strophe 2), und schließlich als Tür zum ewigen Festmahl an Gottes Thron (Strophe 3) mit allen Heiligen.