»Holz auf Jesu Schulter«
(GL 291)
Das Kreuz als Baum des Lebens
Worte: Dichter Willem Barnard (1920–2010); Musik: Ignace de Sutter (1911–1988)
Liedportrait von Meinrad Walter
Viele Deutungen des Kreuzes gibt es in der Theologie und Spiritualität, in Bildender Kunst und Musik. In manchen Epochen wird mehr das Leiden Christi betont, in anderen zugleich die Hoffnung auf Verherrlichung. Dieses Lied nun lotet Spannungen aus: Kreuz und Auferstehung, Wort und Ton, traditionelle und neue Sprache. Die Melodie verdanken wir Ignace de Sutter (1911–1988), einem belgischen Musiker und Theologen. Der Text des niederländischen Originals stammt von dem Priester und Dichter Willem Barnard (1920–2010). Wirklich übersetzbar waren die virtuosen Wortspiele der Urfassung jedoch nicht. Deshalb hat Jürgen Henkys (geb. 1929), Autor zahlreicher Kirchenlieder und Nachdichtungen, eine poetisch wie theologisch geglückte Verdeutschung geschaffen, die im katholischen Raum durch den „Kreuzweg der Jugend“ und die Aufnahme in einige Liederbücher bekannt geworden ist.
Ignace de Sutter bezieht seine musikalische Inspiration aus der ältesten Kirchenmusik, dem gregorianischen Choral. Der Kyrieruf der Messe „Orbis factor“ (XI) erklingt als Zitat in der Mitte des Liedes und bildet zugleich dessen melodische Keimzelle. Der Impuls des Zweiten Vatikanischen Konzils, der gregorianische Gesang möge den „ersten Platz“ einnehmen, wird so gerade mit einem neuen Lied eingelöst. Überaus gelungen ist die zweite Liedzeile: Sie weist mit einer emphatischen Geste nach oben zum Zielton d, der zugleich das Kyrie-Zitat vorbereitet. „Frucht“ erklingt so eine Oktave höher als „verflucht“ in der ersten Zeile.
Die erste und letzte Strophe handeln vom Kreuz, wobei das am Anfang genannte „Holz“ erst im letzten Vers als „Kreuz“ identifiziert wird – fast wie bei einem Rätsellied. Das wichtigste christliche Symbol soll nicht vorschnell oder gar gedankenlos besungen werden. Vielmehr wird ihm in Wort und Ton ein Weg gebahnt. Das „Holz“ lastet auf Jesu Schulter als Zeichen der schändlichsten Strafe, die damals denkbar war und einer „Verfluchung“ gleichkommt. Erst im zweiten Schritt wird das Kreuz von Ostern her gedeutet. In ihm liegen Heil, Leben und Hoffnung, wie es in der Liturgie des Karfreitags heißt. Auch die „Frucht“ ist ein altes Passionsmotiv, denn als „Baum des Lebens“ erinnert das Kreuz an das Paradies. Auch „durchkreuzt“ dieses Holz alle allzu menschlichen Vorstellungen vom Königtum Christi. Sein Reich ist nicht von dieser Welt und seine Herrschaft ist nicht ohne das Kreuz, wie es der Theologe Tertullian um 200 n. Chr. formuliert hat: „Wer unter allen Königen trägt das Zeichen seiner Macht auf der Schulter und nicht die Krone auf dem Haupt oder das Zepter in der Hand? Allein der neue König der neuen Zeiten Christus Jesus hat seine neue Herrlichkeit, Macht und Erhabenheit auf der Schulter getragen, nämlich das Kreuz, sodass der Herr vom Holze her herrscht.“
Der Kehrvers ist eine kleine „Theologie der drei Tage“: Wohin gehen wir mit Jesus? In den Karfreitag. Darauf folgt – vor allem in der ostkirchlichen Theologie – der Karsamstag als Befreiung der Toten, wenn Jesus die Pforten der Unterwelt aufsprengt und die Toten herausruft. „Lass uns auferstehn“ ist eine hoffend-österliche Andeutung, ähnlich wie die poetische Anspielung an Jesu letztes Wort am Kreuz „Es ist vollbracht“ in der dritten Strophe.
Jürgen Henkys fasst die Botschaft des Liedes so zusammen: „In diesem zugleich kräftigen und stillen Lied wird der Widerstreit von Kreuz und Auferstehung, von Sinnlosigkeit und Lebensreichtum so durchdacht, dass Jesu Geschick und unser eigenes immer mehr zusammen geschaut werden. Das Kreuz als Galgen und damit als Zeichen des Todes erschließt sich dem Glauben als Baum des Lebens.“