»Wir ziehen vor die Tore der Stadt«
(GL 225)
Worte von Gottfried Schille 1971; Melodie von Manfred Schlenker 1971
Liedportrait von Meinrad Walter
„Anhänger des neuen Weges“ wurden die ersten Christen genannt. In der Tat ist das Christentum eine bewegte Religion mit Pilgermärschen und Prozessionen. Die Richtung gibt Jesus selbst vor: Geht nach draußen! Dort war auch er, von der Krippe bis zum Kreuz.
Dieses 1971 entstandene Lied führt uns in die damalige DDR. Die Worte stammen von dem protestantischen Theologen Gottfried Schille (1929–2005), der in der Gegend von Leipzig als Pfarrer gewirkt hat; zudem lehrte er nebenamtlich Exegese des Neuen Testaments am Theologischen Seminar Leipzig. Manfred Schlenker (geb. 1926), der Komponist, war nach seinem Studium in Berlin und Halle Domkantor in Stendal sowie 1975–1987 Leiter der Kirchenmusikschule Greifswald.
Um die Ankunft des Herrn geht es. Mit dem Imperativ „Veni!“ bitten viele alte Lieder darum. Wann kommt er? Im Advent zu seiner Menschwerdung, in der Heiligen Woche zu Leid und Vollendung, am Ende aller Tage zur Wiederkunft. Diesem neuen Lied geht es aber nicht um die Zeit seines Kommens, sondern um den Ort: draußen, vor den Toren der Stadt.
Die erste Strophe knüpft an ein bekanntes Begrüßungsritual an. Die Hauptperson wird „draußen“ abgeholt, mit Gesang und erhobenen Blickes. Diese Begegnung richtet alle auf, die sich zu ihrem Herrn bekennen. Auf dem Weg des Begrüßungszuges nach draußen erinnern die Singenden sich an die Wege ihres Herrn: „Er ist entschlossen, Wege zu gehn …“ (Strophe 2). Gemeint ist Jesu Solidarität mit den Anderen, die manche Bibelwissenschaftler als „Pro-Existenz“ bezeichnen.
Das Thema der letzten Strophe klingt bereits am Ende der zweiten an: die Wege, »vor denen allen graut«. Auf solche Wege ruft er uns! Sein Leben und Sterben ist gleichsam eingespannt zwischen diesen beiden Polen draußen: Krippe und Schädelfeld. Ihm nachfolgen heißt: für die einstehen, die draußen sind. Der Schweizer Hymnologe Andreas Marti hebt zurecht hervor, „dass es dem Textdichter gelungen ist, eine in sich konsequente Bildsprache zu finden, die einerseits den ganzen Reichtum der Tradition mitbringt, die aber ohne weiteres offen ist für ein modernes Nachempfinden.“
Ein dynamisches Lied also, das einen Weg abschreitet. Im Kern geht es um Jesu Ruf in seine Nachfolge: „Er ruft uns vor die Tore der Stadt …“ Dies erfordert einen Ortswechsel, wobei der äußerliche Ort zum Sinnbild der inneren Position wird: „Steht für die draußen ein!“ Vier Mal erklingt das Schlüsselwort „draußen“ in der letzten Strophe. Schon Jesus wählt diesen Ort, nicht die behagliche Innenperspektive, von der armseligen Krippe bis zum Kreuz.
Die Musik von Manfred Schlenker steigert den Gestus des Nach-draußen-Gehens zu einem Marschieren, fast wie bei einem Demonstrationszug. Der fanfarenhafte Quartsprung, der zum Aufbruch bläst, ist vier Mal zu hören. Durch die harmonische Weitung der Perspektive am Schluss der zweiten Liedzeile – h statt b auf der Silbe „fern“ – rückt auch der Quartsprung einen Ton höher.
Wo spielt der Glaube? Er kennt das hoffnungsstarke Bild der himmlischen Stadt als ewiger Heimat. So klingt das Ziel. Wichtig ist aber auch der Weg. Dieses Lied ist in der damaligen DDR entstanden. Der Text war ursprünglich ein Adventstext, der auch gut zum Palmsonntag passt. Überdies hat er sich „aufgrund der allgemeinen DDR-Situation sozusagen zu einem Demonstrationstext gemausert“ (Gottfried Schille). Im Gotteslob ist dieses Lied durchaus sperrig, wenig gefällig, gar nicht idyllisch. Doch es ist ein gutes Lied für die „Anhänger des neuen Weges“ (Apostelgeschichte 19,23).