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Oswald Mathias Ungers war einer der wenigen deutschen Architekten, die sich in den ersten Jahrzehnten nach 1945 durch Bauten, Theorie und Lehre internationale Geltung erwarben. In Köln begann seine Karriere 1950 als Mitarbeiter und Teilhaber des Architekturbüros Helmut Goldschmidt (1918-2005). 1958-1959 baute er im Stadtteil Müngersdorf sein erstes eigenes Wohnhaus, das schnell zu Berühmtheit gelangte. Als Wohnsitz behielt er es auch während seiner Berliner Zeit (1963-1968) und seiner zahlreichen Auslandsaufenthalte bei. Von hier aus knüpfte er Kontakte, die sich zu einem globalen Netzwerk ausweiteten. In Ausstellungen, Katalogen und Schriften stellte er die Grundsätze seines Werks dar, das bei zunehmender Formenstrenge und Abstraktion doch enge Beziehungen zur Architekturgeschichte aufrecht erhielt. Ungers war ein engagierter Sammler von Kunst und Literatur. Die legendäre Bibliothek dieses architectus doctus, dieses gelehrten Baumeisters, gehört zu den bedeutendsten privaten Fachbüchereien. Heute werden Haus und Sammlungen von einer Stiftung verwaltet.
Ungers, geboren am 12.7.1926, war der Sohn einfacher Leute. Er stammte aus Kaisersesch in der Eifel. Trier mit seinen römischen Baudenkmälern war nicht weit; Aufträge haben ihn später mehrfach in die Augusta Treverorum zurückgeführt. In der Nähe von Kaisersesch lag Kues, der Geburtsort des Neuplatonikers Nicolaus Cusanus, auf dessen Lehre vom Zusammenfall der Gegensätze sich Ungers gern berief. Nahe lag auch Maria Laach, unter den großen romanischen Kirchen eine derjenigen, die besonders strenger Geometrie verpflichtet sind. Als junger Mann verbrachte Ungers mehrere Monate bei den Laacher Benediktinern und lernte dort die wohltätige Ordnung des Rituals kennen. Aus der Eifel kam die schwarze Basaltlava, mit der er 1989 ein kubisches Bibliotheksgehäuse als Erweiterung des ersten Hauses verkleidete, als Erinnerung an die eigene Herkunft. Später errichtete er in der Eifel bei Bitburg sein zweites Domizil, ein archetypisches Haus, umgeben von einer gestalteten Ideallandschaft.
Sein Leben sei wie die römische Wasserleitung verlaufen, pflegte er zu scherzen, von der Eifel nach Köln. Dazwischen lagen allerdings viele andere Stationen. Studiert hatte er 1947-1950 an der Technischen Hochschule Karlsruhe bei Egon Eiermann (1904-1970). Auf die Kölner Anfangsjahre folgte Berlin, wo ihm 1963 der Lehrstuhl von Hans Scharoun (1893-1972) angetragen worden war. Man hielt Ungers damals für einen Nachfahren im Geiste Scharouns und des organisch-ausdrucksbetonten Bauens. Schließlich war er Mitkurator der ersten Ausstellung und Dokumentensammlung über die expressionistische Künstlergruppe Die Gläserne Kette (1919-1920), der auch der junge Scharoun angehört hatte. Und sein erstes eigenes Wohnhaus hatte Ungers wie einen Katarakt aus Beton und Ziegelsteinen entworfen, der manchen Zeitgenossen als Spätexpressionismus erschien.
Solche Erwartungen enttäuschte er mit den typologischen Studien seiner Berliner Professur. Seine Schüler allerdings waren fasziniert, bis die Studentenunruhen ihn 1968 in die USA vertrieben, zunächst an die Cornell University, Ithaca, NY. Geschichte erschien beim späteren Ungers als ein überliefertes Repertoire an Formideen, die geprüft, analysiert, variiert, neu zusammengesetzt werden konnten. Ungers nannte es das Konzept der Transformation, das er wieder und wieder durchspielte. Alle Entsprechungen des Ganzen und seiner Einzelteile waren durch Maßverhältnisse geordnet, „so dass das Gebäude wie ein einheitlicher und vollkommener Körper erscheint“ (Andrea Palladio, 1508-1580). Palladios „Quattro Libri“ stehen in Erstausgaben und Übersetzungen in Ungers’ Bibliothek.
Ein Architekt, der unserer Zeit zeitlich näher stand und seinerseits große, neuzeitliche Bauaufgaben zu lösen versuchte, war Jean Nicolas Louis Durand (1760-1834). Natürlich finden sich auch seine Werke bei Ungers. Durand ist nicht durch Bauten, wohl aber durch seine Lehrtätigkeit an der Pariser École Polytechnique und seine Publikationen bekannt geworden, vor allem durch seine „Précis des Leçons d’Architecture“, die ab 1802 erschienen. Seine Lehre beruht auf der Untersuchung der Bauelemente und Gebäudepartien, die für die Architektur dieselbe Bedeutung hätten wie die Wörter für die Sprache und die Noten für die Musik. Grundform aller Architektur seien Quadrat und rechter Winkel.
In dieser kombinatorischen, doch auch schematischen Kunst ließ sich das Komplizierte durch Addition und Vervielfachung der Teile erreichen. Durand zeichnete auf Kästchenpapier. Man musste nicht jedes Mal neu anfangen. Auch die Verständigung aller am Entwurfsvorgang Beteiligter ließ sich so leichter bewerkstelligen – ein Vorgang, den auch Mitarbeiter aus dem Büro Ungers bestätigten. Übertragbarkeit, Qualitätssicherung, Kommunikation zwischen den Planenden, zwischen Planung und Ausführung, zwischen Architekt und Bauherr waren so leichter herzustellen. Die Ars Combinatoria ist ökonomisch als logistisches Verfahren, aber auch im praktischen Sinn des Wortes.
Mit Durand im Kopf ließen sich die praktischen Bedingungen des heutigen Baualltags erfüllen, die sich Ungers seit seinen heftig kritisierten Wohntürmen im Berliner Märkischen Viertel (1962-1967) stellten. Man läuft an den langen Fassaden der Industrie-, Messe-, Bank- und Bürobauten entlang, mit pflichtschuldiger Billigung und oft auch mit Ermüdung. Auch wo die Bauten mit Ziegel oder Natursteintafeln verkleidet sind und nicht mit Glasvorhängen, bleibt deutlich, dass es sich um die zentimeterdünnen Furniere neuzeitlich hinterlüfteter Fassaden handelt. Sie tragen nichts, nicht einmal sich selbst. Was anderswo als Vortäuschung steinerner Schwere peinlich wirkt, lässt bei Ungers keinen Trugschluss zu. Die Außenflächen bilden die Hüllen des geometrischen Körpers und scheinen so materielos wie die Darstellungen stereometrischer Körper im mathematischen Lehrbuch.
Doch wo es sich bei Ungers um einen Prozess der Sublimierung handelt und nicht nur um die anständige Bewältigung großer Volumen, können Abstraktion und Wirtschaftlichkeit auch ein ganz anderes, nämlich entgegengesetztes Verhältnis eingehen. Dann steht man einem hochkonzentrierten, intelligenten Gebilde gegenüber, das jede Aufmerksamkeit fordert und verdient. Die drei eigenen Wohnhäuser – Experimente am eigenen Bauherrenleib – gehören dazu, der Bücherkubus an seinem ersten Haus (1989-1990), die Badische Landesbibliothek in Karlsruhe (1980-1984), mehrere Museen (unter anderem Deutsches Architekturmuseum Frankfurt, 1979-1984, Hamburger Kunsthalle, 1986-1997, Kölner Wallraf-Richartz-Museum, 1996-1999). Geviert und Würfel, bei denen keine Seite den Vorrang vor der anderen hat, sind - wie Kreis oder Dreieck - oft als Figuren besonderen Ranges bewertet worden. Die Vierzahl konnte die vier Weltrichtungen anzeigen, die vier Elemente, die vier Jahreszeiten, die vier Kardinaltugenden, die vier Evangelisten.
Reine Form, Konsequenz, Prinzipientreue gehören zu Ungers. Das letzte seiner drei eigenen Wohnhäuser (Köln-Müngersdorf, 1994-1996) ist von einer Konsequenz, bei der die eisige Stille der Perfektion beginnt. Nichts stört die Maße der drei – man ist versucht zu sagen - Kirchenschiffe dieses Hauses: ein Hauptschiff, zwei Seitenschiffe. Alles, was die Reinheit dieser Räume beeinträchtigen könnte, ist in eine metertiefe doppelschalige Hülle oder in die ebenfalls doppelschaligen Wandschotten verbannt: Kleider, Werkzeuge, Gartenmöbel und das Hundekörbchen. Perfektion hat ihren Preis. Und sei es den, dass man immerzu aufräumen muss.
Was die disziplinierte Architektur von Ungers nicht vermuten lässt: dass ihr ganze Fluchten von Bildern zugrunde liegen. In seinem Bilderheft Morphologie City Metaphors wirft er einen Blick in die Welt der Analogien, Metaphern, Allegorien, Symbole. Es öffnet sich ein wahres Pandämonium. Alles scheint mit jedem vergleichbar, die Frau mit den Lockenwicklern und die Metropole mit ihren Satelliten, der Krabbenpanzer und die Renaissance-Festung, der handgemachte Quilt und die durchgeplante Rasterstadt. Beim Entwerfen wird diese Bilderflut bis zur Unerkennbarkeit diszipliniert, aber sie steckt noch in ihnen. Nur sind es dann nicht mehr Frauen mit Lockenwicklern, Krabbenpanzer oder Quilts, sondern es ist das Prinzip des Attachierens, der Abschirmung oder der variierenden Wiederholung.
Ungers hat einen Müngersdorfer Nachbarn, den befreundeten, älteren Architekten Rudolf Schwarz, zitiert: „Unendlich ist der Bildstrom der Schöpfung“. Abstrahieren und Vereinfachen erscheinen als eine Notwehr gegen den Reichtum der Natur, der sonst zur Formlosigkeit führen müsste. Oder als ein Protest gegen schnell wechselnde Architekturmoden mit ihren kurzen ästhetischen Verfallszeiten.
Ungers wurden zahlreiche Auszeichnungen, Ehrungen und Ehrenmitgliedschaften zuteil: 1971 wurde er Mitglied des American Institute of Architects (AIA), 1987 erhielt er den Großen Preis des Bundes Deutscher Architekten (BDA), 1988 wurde er Ehrenmitglied des BDA. 1989 folgte der Prix Rhenan/Strasbourg, 1992 wurde er Member of the Moscow Branch of the International Academy of Architecture (IAA). 2000 ehrte man ihn mit dem Großen DAI-Preis für Baukultur des Verbandes Deutscher Architekten- und Ingenieurvereine, 2001 mit der Goetheplakette der Stadt Frankfurt am Main Bereits seit 1987 war Ungers Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften; die Technische Universität Berlin verlieh ihm 1999 die Ehrendoktorwürde. 2003 folgte die Ehrenmitgliedschaft der Hochschule für bildende Künste Hamburg.
Die Bundesrepublik Deutschland verlieh ihm 1997 das Große Verdienstkreuz, den Verdienstorden des Landes Nordrhein-Westfalen bekam er 2006.
Ungers war verheiratet mit Liselotte Ungers, geborene Gabler und hatte drei Kinder, von denen Simon (1957-2006) ein bedeutender Avantgarde-Architekt war. Ungers starb am 30.9.2007 in Köln.
Werke (Auswahl)
1958-1959 - Haus Ungers I Köln-Müngersdorf.
1959 - Mehrfamilienhaus Hansaring Köln.
1962-1967 - Wohnbebauung Märkisches Viertel Berlin.
1979-1984 - Deutsches Architekturmuseum Frankfurt.
1980-1984 - Badische Landesbibliothek.
1980-1984 - Alfred-Wegener-Institut Bremerhaven.
1980-1984 - Messehallen und -hochhaus Frankfurt am Main.
1982-1995 - Deutsche Botschaft Washington.
1986-1997 - Hamburger Kunsthalle.
1986-1988 - Haus Ungers II Glashütte, Eifel.
1989-1990 - Bibliotheksanbau Köln-Müngersdorf.
1989-1995 - Familiengericht Berlin.
1990-1994 - Bundesanwaltschaft Karlsruhe.
1994-1996 - Haus Ungers III Köln-Müngersdorf.
1996-1999 - Wallraf-Richartz-Museum Köln.
Schriften (Auswahl)
Morphologie. City Metaphors, Köln 1982.
Architettura come tema. Die Thematisierung der Architektur, Mailand 1982, Stuttgart 1983.
Architektur 1951-1990, mit einem Beitrag von Fritz Neumeyer, Stuttgart 1991.
Bauten und Projekte 1991-1998, Stuttgart 1998.
10 Kapitel über Architektur. Ein visueller Traktat, Köln 1999.
Literatur (Auswahl)
Cepl, Jasper, Oswald Mathias Ungers. Eine intellektuelle Biographie, Köln 2007.
Kieren, Martin, Oswald Matthias Ungers, Zürich 1994.
Klotz, Heinrich (Hg.), O. M. Ungers, Bauten und Projekte 1951-1984, Braunschweig, Wiesbaden 1985.
Mühlthaler, Erika (Hg.), Lernen von O. M. Ungers, archplus 181/182, Aachen 2006.
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Pehnt, Wolfgang, Oswald Mathias Ungers, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/oswald-mathias-ungers/DE-2086/lido/57c939c88a3b34.06044124 (abgerufen am 19.08.2024)