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Die Sehnsucht verorten – und dabei dem Stern trauen
Den folgenden Text habe ich im „Mattheiser Brief“, dem Rundbrief der Benediktinerabtei Trier, in der letzten Nummer von vor Weihnachten entdeckt. Dieser Benediktinerabtei bin ich dadurch verbunden, dass dort ein ehemaliger Student, der in meiner Katholischen Hochschulgemeinde Kaiserslautern sehr aktiv war, als Bruder lebt – von Zeit zu Zeit besuche ich ihn.
Der Text stammt von Bruder Ansgar Schmidt, der früher Abt der Abtei St. Matthias war, dann Erzabt der Benedikterabteien-Kongregation und jetzt als älterer und weiser Bruder in der Abteil lebt und dort auch den Dienst des Gästebruders versieht. Ich schätze ihn sehr, und er hat mir erlaubt, seinen Text als „Impuls“ zu nehmen. Das, was er schreibt, kann ich nur unterstreichen – es hätte auch inhaltlich so von mir stammen können, aber da er es schon so schön in Worte gefasst hat, übernehme ich seine Gedanken, mache sie mir zu eigen – und empfehle sie allen Leserinnen und Lesern.
Und ich wünsche Ihnen – im Sinne des Impulses -, dass Sie im neuen Jahr auf der Spur Ihrer Sehnsucht leben und dem Stern, der von Gott her über Ihrem Leben leuchtet, trauen.
Ihr
Dr. Christoph Maria Kohl
Domdekan & Domkustos
Caspar, Melchior und Balthasar:
Könige werden sie genannt, Weise oder Sterndeuter.
Zu allererst aber – scheint mir – sind es aufmerksame Menschen.
Sie vermögen hinzuschauen auf etwas,
das ihnen über all das hinaus bedeutsam ist,
was eine diesseits-, nutzen- und erlebnisorientierte Welt ihnen bietet.
Ihr Lebensinteresse ist nicht eingeengt auf Fragen wie:
Was habe ich davon? Oder: Was bringt mir das?
Sie lassen es sich nicht genug sein, auf dem Markt der Möglichkeiten,
der Schnäppchen und Erlebnisofferten unterwegs zu sein,
unruhig, bestimmt und geplagt von der Sorge, etwas zu versäumen.
Nein, diese drei haben so etwas wie einen „Lärmschutz für die Seele“,
wie es Bischof Franz Kamphaus einmal ausgedrückt hat.
Sie sind auf einer anderen Ebene aufmerksam,
nehmen sich Zeit für ein Hinschauen, ein Innehalten und Ausschauen.
Sie haben sich so etwas wie eine Kultur der Aufmerksamkeit geschaffen.
„Lärmschutz für die Seele“
Beneidenswert? – Vielleicht… doch viel wichtiger: nachahmbar.
Dafür muss man nicht Sterndeuter sein,
sondern „nur“ die eigenen Prioritäten ordnen und ändern.
Vor allem hieße das wohl, Abschied zu nehmen von der Sorge,
etwas zu versäumen oder mal nicht dabei zu sein.
Dass es langweilig wird,
wenn man sich im eigenen Leben auf Wesentliches konzentriert,
diese Sorge hatten diese drei nicht.
Weder fade noch langweilig fromm ist ihr Leben, nicht eingeengt.
Seine Weite bekommt es durch das regelmäßige Ausschauen
und Beobachten des Sternenhimmels.
Der Sehnsucht Geleit und Richtung geben
Solch eine wache Aufmerksamkeit braucht
Training, Disziplin, Ausdauer – kurz: einen langen Atem.
Caspar, Melchior und Balthasar lassen ihre Sehnsucht
nicht konfus werden, im ausdauernden Ausschauen gewinnt sie vielmehr
Kontur in einem Stern, den sie aufgehen sehen,
einem Stern, der sie fasziniert und ihnen zum Wegweiser wird,
ihrer Sehnsucht Geleit und Richtung gibt.
Und doch führt er nicht geradewegs zum Ziel –
nein, nicht zum Königspalast in Jerusalem führt sie der Stern,
sondern nach Bethlehem in einen Stall.
Die Kontur ihrer Sehnsucht wird korrigiert.
In Bethlehem finden sie, was ganz unfasslich ist,
das Kind und seine Mutter
und fallen nieder und beten an.
Mehr noch als in den kostbaren Geschenken
drückt sich darin aus, dass sie vor allem sich selbst
mitgebracht haben – so wie sie sind. Ganz.
Ich mag mich fragen:
Steckt nicht in mir, in jedem und jeder von uns
etwas von diesen Königen?
Sehnsucht jedenfalls ist uns eingepflanzt
seit unserer Taufe.
Es gilt, sie wach zu halten;
es gilt, sich auf den Weg zu machen,
Widrigkeiten und Irritationen zu ertragen,
Konturen korrigieren zu lassen.
Gott um Gott bitten
Am wichtigsten bleibt,
sich selbst mitzunehmen
und mit langem Atem immer wieder
Gott um Gott zu bitten.
Das, meine ich, haben die drei,
das haben Caspar, Melchior und Balthasar getan –
und der leuchtende Stern war ihnen
der rote Faden ihrer Sehnsucht.
Bruder Ansgar Schmidt OSB, Abtei St. Matthias, Trier
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Auch wenn ich für jemanden bete, stehe ich dem anderen bei.
„Lieber Christoph, es bedeutet mir so viel, dass du für mich betest. Vielen Dank!“ Das hat mir eine Bekannte vor zwei Wochen geschrieben. Ich bete für sie, weil es ihr nicht so gut geht. Genauso wie für einen Bekannten, der privat und beruflich vor neuen Herausforderungen steht. Und ich bete für einen unserer Chorsänger, dessen Ehefrau gestorben ist und der darüber auch nach einem Jahr nicht hinwegkommt. Und für einen krebskranken Freund. In meiner Gebetsecke liegen einige Zettel mit Namen darauf. Jeden Morgen nehme ich sie in den Blick und bete für diese Menschen. Auch wenn ich im Gespräch die Sorgen oder das Leid eines Mitmenschen mitbekomme, biete ich oft ausdrücklich an, dass ich für ihn bete - das hat noch nie jemand abgelehnt, im Gegenteil.
Es tut immer gut, wenn Menschen aneinander denken. Erst recht dann, wenn es jemandem nicht gut geht - dann ist es hilfreich zu wissen, dass der andere mir innerlich nahe ist, dass er mir „einen guten Gedanken schickt“ - wie manche sagen.
Das geschieht auch bei einem Fürbitt-Gebet. Aber da geht es noch einen Schritt weiter. Wenn ich für jemanden bete, dann ist das eine ganz starke innere Verbindung von Mensch zu Mensch - weil diese Verbindung über Gott führt. Darin kommt zum Ausdruck: Dieser Mensch liegt mir am Herzen. Ich sehe seine Freuden und seine Sehnsucht, seine Sorgen und seine Not. Dabei habe ich zugleich Gott im Blick, der will, dass es jedem einzelnen Menschen gut geht. Diesem Gott des Lebens und der Liebe lege ich denjenigen, für den ich bete, besonders ans Herz. Ich bitte Gott darum, dass er ihm nahe ist - und dass der andere das spürt. Oder, um es in einem anderen Bild zu sagen: Ich lege durch mein Beten den anderen in Gottes Hände. Damit er ihn trägt und ihm Halt gibt, dass Gott ihn aufrichtet und mit neuer Lebenskraft und Lebensfreude erfüllt.
Natürlich ist das Gebet kein Ersatz dafür, dass ich einem anderen auch konkret durch Rat und Tat beistehe, so gut ich es vermag. Aber darüber hinaus ist das Fürbittgebet auch eine Weise, wie ich für den anderen da sein kann. Dadurch wird nicht nur die Verbindung zu diesem Mitmenschen vertieft, sondern auch die Verbindung von uns beiden zu Gott als der Quelle des Lebens.
Probieren Sie es doch mal aus! Ich kann es nur empfehlen.
Ihr
Dr. Christoph Maria Kohl
Domdekan & Domkustos
(Rundfunk-Morgenansprache von Christoph Maria Kohl, „Anstöße / Morgengruß“ in SWR 1 / SWR 4 am Donnerstag, 21.10.2021)
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Im Sommerurlaub vergangenes Jahr war ich in der Bretagne, wo Freunde ihr Ferienhaus haben. Besonders gern bin ich dort wandern gegangen, und zwar auf den „sentiers des douaniers“, den früheren Pfaden der Zöllner und der Schmuggler. Stundenlang kann man darauf die Küstenlinie entlang gehen, auf den Klippen, um Halbinseln herum, über Strände. Dabei hat mich als Hobby-Fotograf eines besonders fasziniert: Im Weitergehen sehe ich alles in einer immer wieder wechselnden Perspektive. Die Klippen, die Inseln draußen im Meer, die Landschaft auf der anderen Seite einer Bucht, die Ortschaften an der Küste – das Bild von ihnen ändert sich, wenn ich ein Stück weitergehe. Dann eröffnet sich eine neue, reizvolle Perspektive; ich sehe dasselbe von einer anderen Seite, es wirkt ganz anders – und ich entdecke daran wieder etwas Neues, Interessantes, Schönes. Das gibt nicht nur wunderbare Fotos – das ist auch ein Gleichnis für unser Leben.
Da ist es auch gut, wenn ich öfter mal die Perspektive wechsele. Wenn ich meinen bisherigen Standpunkt mal verlasse und einen Menschen aus einer anderen Richtung anschaue – dann kann mir bisher Unbekanntes an ihm auffallen, dann lerne ich ihn besser kennen. Wenn ich meine Sichtweise mal variiere, eine andere Brille aufsetze, durch die ich die anderen und das Geschehen um mich anschaue, dann sehe und verstehe ich mehr von der Welt und vom Leben. Perspektivwechsel ist immer gut! Es ist wie eine Entdeckungsreise.
Das erlebe ich zum Beispiel auch, wenn Kinder zu mir zum Beichtgespräch kommen. Wenn sie erzählen, was sie ihrer Meinung nach falsch gemacht haben, z.B. bei einem Streit mit Geschwistern oder einer Auseinandersetzung mit den Eltern. Dann frage ich sie manchmal: „Hast Du die Situation schon mal mit den Augen der anderen betrachtet?“ Das spielen wir dann gemeinsam durch – und meist wird dem Kind dabei klar, woran es da gehakt hat. Und das Verständnis für den anderen wächst. Denn jeder Perspektivwechsel eröffnet mir ein neues Stück Wirklichkeit und neue Farben des Lebens.
Ein grundlegender Perspektivwechsel ist für unser Leben aus dem Glauben besonders wichtig: Christ sein und aus dem Vertrauen auf Gott zu leben bedeutet, die Menschen, das Leben und die Welt immer mehr mit den Augen Jesu zu sehen. Dazu ist vor allem hilfreich, die vier Evangelien zu lesen. Dort erfahren wir, was Jesus gesagt und getan hat – und welche Lebensauffassung und welche Grundüberzeugungen er hatte. Dadurch lernen wir die Sichtweise Jesu kennen und vertiefen uns in sie. Je mehr jemand das tut, desto mehr wächst er oder sie nicht nur in die Sichtweise Jesu, sondern in ihn selbst hinein. Und dann können natürlich Meditation, Gebet und Gottesdienst das ihre dazu beitragen, weiter in Jesus Christus und dadurch in Gott hineinzuwachsen.
Während meines Studiums habe ich mich einmal zu ein paar Tagen des Innehaltens und der Besinnung in das Kloster Esthal (bei Neustadt an der Weinstraße) zurückgezogen. Am Ende der Tage war ich dann beim damaligen Spiritual der Schwestern beichten. Im Beichtgespräch hat er mir ein Gebet empfohlen, das er selbst immer wieder gebetet hat. Und dieses Gebet ist mir im Laufe der Jahre immer wichtiger geworden. Es lautet:
„Gott, schenke mir die Gnade,
mich so zu sehen, wie du mich siehst.
Und schenke mir dann auch die Gnade,
die anderen so zu sehen, wie du sie siehst.“
Dieses Gebet kann ich Ihnen nur weiterempfehlen.
Und ich hoffe, dass sich Ihnen nun in der Ferien- und Urlaubszeit nicht nur andere Perspektiven des Lebens und unserer Welt als im Alltag erschließen, sondern auch, dass Sie sich und die anderen und das Leben immer tiefer mit den Augen Jesu und des Vaters im Himmel sehen – und dass das eine spannende Entdeckungsreise wird …
Das wünsche ich Ihnen von Herzen!
Ihr
Dr. Christoph Maria Kohl
Domdekan & Domkustos
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In diesen Wochen wächst und reift das Getreide auf den Feldern. Demnächst wird es geerntet. Am Anfang steht, dass die einzelnen Weizenkörner gesät werden. Sie keimen, treiben Wurzeln – und daraus wachsen die Halme und dann die Ähren. Eine Verwandlung zu neuem, vielfachem Leben: Ein Samenkorn wird so zu vielen Körnern in der Ähre.
Wenn dann aus dem Getreide Brot gebacken werden soll, kommt noch ein zweiter Verwandlungsprozess dazu: Die Körner werden gemahlen, aus dem Mehl wird der Teig gemacht, aus dem dann das Brot wird – Lebens-Mittel für uns.
Dieser „Werdegang“ eines Weizenkorns ist ein schönes Bild; er hat hohen Symbolwert. Er zeigt, wie Leben weitergeht, wie neues Leben entsteht.
Das Johannes-Evangelium spiegelt wider, dass Jesus diese Symbolik des Getreidekorns aufgegriffen hat: „Amen, amen, ich sage euch: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es reiche Frucht“ (Joh 12,24). Wenn Jesus das so sagt, dann spricht er zunächst von sich selbst, von dem, was und wie er lebt; von seiner Grundhaltung, von seiner Lebensauffassung. Er ist ganz für die Menschen da, denen er begegnet – er wendet sich ihnen zu, hilft ihnen in ihrer ganz unterschiedlichen Lebensnot und schenkt ihnen seine Frohe Botschaft als Wegweisung für ein gelungenes Leben. Und sein Leben gipfelt darin, dass er am Kreuz sein Leben für alle Menschen hingibt, damit die Macht des Bösen und des Todes gebrochen ist und „Leben in Fülle“ (Joh 10,10) möglich wird.
So ist Jesus Christus die menschgewordene, leibhaftige Liebe Gottes, die bis zum Äußersten geht. Er versteht sein Leben als Selbst-Hingabe, als Dasein für andere, als Pro-Existenz. Er ist nicht auf sich bedacht; er braucht sich aufgrund seines Vertrauens auf den Vater im Himmel keine unnötigen Sorgen um sich selbst zu machen; er hat keine Angst um sich – und deshalb kann er sich ganz offen den Menschen zuwenden, und so wird er zum Segen für alle. „Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt“ (Joh 15,14). Das tut er, indem er sich wie ein Weizenkorn säen und verwandeln lässt und so neues, vielfältiges Leben ermöglicht.
Doch spricht Jesus dabei nicht nur von sich selbst und von der Grundhaltung, die ihn und sein Leben prägt und bestimmt. An Jesus wird zugleich deutlich – und er sagt es auch ausdrücklich –, dass das im Bildwort vom Weizenkorn Gesagte über ihn hinaus gilt, ja ein „Lebensgesetz“ ist. Wer sein Leben für sich haben will, dem wird es entgleiten, der wird es „verlieren“ (s. z.B. Lk 17,33). Wer um sich selbst kreist und nur auf sein eigenes Wohlergehen bedacht ist, der verpasst das, was das Leben wirklich ausmacht und schön macht. Originalton Jesus: „Wer sein Leben zu bewahren sucht, wird es verlieren; wer es dagegen verliert, wird es erhalten“ (Lk 17,33). Wer sein Leben als Dasein für andere versteht und vollzieht, wer es „loslässt“ und sich so hingibt, der „wird das Leben gewinnen“ – der wird darin Erfüllung finden – und neues Leben ermöglichen, weitergeben. Wer in diesem Sinn selbstvergessen lebt, der findet gerade dadurch zu sich selbst. Und wer vom Leben erfüllt ist, vom dem geht Leben aus.
Im Bild vom Weizenkorn kommt eine Grundhaltung zum Ausdruck, die man auf ganz verschiedene Weise verwirklichen kann: in der Achtsamkeit dafür, wie es einem anderen geht, für seine Freuden und Sorgen; durch wache Empathie für die Mitmenschen; im konkreten Engagement für eine Aufgabe oder bestimmte Menschen; dadurch, dass Eltern Kindern das Leben schenken und in ihrer Fürsorge begleiten; in der Pflege alter oder behinderter Angehöriger u. ä.. Das ist gelebte Hingabe im Kleinen und Großen. Je weiter ein Einsatz für andere geht, je mehr jemand sich davon beanspruchen lässt und dabei auch von sich selbst absieht, desto mehr lebt er oder sie das Lebensgesetz des Weizenkorns, stellt seine Lebenskraft, sich selbst für die Lebensmöglichkeiten anderer zur Verfügung - und lässt sich davon bestimmen und auch einschränken. Er riskiert sich dabei - und erfährt dadurch innere Verwandlung wie das Weizenkorn. Und dadurch bringt sein Leben Frucht, dadurch wird ein Menschenleben fruchtbar - wie Jesus es für uns vorgesehen hat: „Ich habe euch erwählt und dazu bestimmt, dass ihr euch aufmacht und Frucht bringt und dass eure Frucht bleibt“ (Joh 15,16).
Überlegen Sie einmal, ob Sie einen oder mehrere Menschen kennen, die diese Grundhaltung spürbar leben oder gar ganz davon geprägt sind. Wie erleben Sie diese Menschen? Was geht von ihnen aus? Ich kenne jemanden, der auf diese Weise ein großer Segen für andere ist.
Und ich hoffe, dass Sie selbst schon erlebt haben: Wenn ich mich für andere einsetze,
wenn ich Hingabe im Kleinen oder Großen lebe, dann werde auch ich selbst dadurch und darin beschenkt und erfüllt und bin ganz nah am Wesentlichen des Lebens.
Gerade in der noch andauernden Corona-Zeit und wenn es dann darum geht, deren mittel- und langfristige Folgen gemeinsam zu meistern, ist die durch das Weizenkorn symbolisierte Grundhaltung sehr hilfreich, ja notwendig. Und Jesus ermutigt und befähigt uns dazu, sie in seinem Geist zu leben.
Dass Sie das auch selbst so erleben, das wünsche ich Ihnen von Herzen.
Ihr
Dr. Christoph Maria Kohl
Domdekan & Domkustos
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„Diversität“ ist derzeit in der Medienszene und in der öffentlichen Diskussion en vogue. Im Fokus ist dabei weniger die Bio-Diversität (Arten-Vielfalt bei Tieren und Pflanzen) als vielmehr die Gender-Diversität (die Vielfalt bez. der Geschlechtsaspekte), die Vielfalt der Kulturen und die zunehmende Internationalität unserer Gesellschaft u. ä.. Bei der Bio-Diversität geht es darum, dass die naturgegebene Vielfalt nicht weiter vom Menschen beeinträchtigt wird, sondern erhalten bleibt. Bei anderen Arten von Diversität geht es darum, dass die Vielfalt der Prägungen, Orientierungen, Überzeugungen anerkannt, geachtet und gefördert wird.
Zum Teil wird dabei der Eindruck erweckt, dass Diversität an sich (über die vorgegebene Bio-Diversität hinaus) ein Ziel, eine neue Norm, ja fast Selbstzweck und ein absoluter Wert ist. Wenn aber etwas mehr oder weniger absolut gesetzt wird, dann bringt das die Gefahr mit sich, dass es dann ideologisch aufgeladen wird und dass man es sich mit dieser Thematik oder diesem Wert etwas zu einfach macht. Diese Gefahr sehe ich auch hier.
„Diversität“ ist ein Begriff, der zunächst eine Gegebenheit, ein vorfindliches Faktum beschreibt. Vom lateinischen Wort „diversus“ her bedeutet es: Vielfalt, Vielfältigkeit, Verschiedenheit, Unterschiedlichkeit - bis hin zu „entgegengesetzt - völlig verschieden - widersprechend - gegnerisch - feindlich“. In diesem Sinn „divers“ können Individuen, soziale Gruppen, Kulturen und Staaten usw. sein. Diversität ist ein deskriptiver Begriff, der einen Aspekt der Wirklichkeit beschreibt, wie sie ist oder wie sie sein kann.
Wenn aber die Menschen und die verschiedenen Gruppierungen in einer gewissen Vielfalt leben und unterschiedlich, ja gegensätzlich sind, dann ist das über das bloße Faktum hinaus vor allem eine Herausforderung, eine Aufgabe.
Je unterschiedlicher die Einzelnen und alle Teil-Welten sind und je größer von daher die Diversität im Ganzen ist, desto anspruchsvoller, ja schwieriger ist es, damit gut umzugehen. Denn für ein „gutes Leben für alle“ ist nicht nur der Freiraum notwendig, in dem die Einzelnen und Gruppierungen in ihrer Eigenart leben können und so toleriert werden, sondern zugleich auch das, was sie verbindet und zusammenhält, ein Zusammengehörigkeitsgefühl bis hin zu einem gewissen Grundwerte-Konsens - sonst „geht nichts mehr zusammen“ und fällt alles auseinander. Diese beiden Aspekte oder vielleicht auch gegenläufigen Kräfte, die Diversität bzw. der Freiraum für sie einerseits und der Zusammenhalt, das Verbindende andererseits, sind aufeinander angewiesen - eine gute Balance dieser beiden ist für das Gelingen des Lebens notwendig.
Und weil das so ist, ist das Leben in Diversität nicht an sich etwas automatisch Gutes. Es muss entsprechend gestaltet werden, damit es dadurch als bereichernd und hilfreich erfahren werden kann. Wenn die dazu notwendigen Voraussetzungen (bei den Einzelnen und in der Gesellschaft) nicht gegeben sind, dann kann Diversität Ängste, Abschottung und Abwehrreaktion bis hin zu Spaltung, Hass und Gewalt auf allen Ebenen hervorrufen - dafür gibt es genügend Beispiele, gerade auch in der Corona-Zeit.
Was eine wichtige Voraussetzung dafür ist, dass die Vielfalt und Verschiedenheit ihre positive Seite zeigen können, das können wir an den Aposteln Petrus und Paulus ablesen. Das ist mir aufgegangen, als wir in der vergangenen Woche ihren Gedenktag gefeiert haben, „Peter und Paul“ am 29. Juni.
Petrus und Paulus waren „sehr divers“, ganz unterschiedlich bis gegensätzlich in vielerlei Hinsicht - was Herkunft, Bildung, Lebensmilieu, Beruf, religiöse Prägung, Persönlichkeit, Überzeugungen usw. angeht. Beide waren sie „voller Feuer“, voller Leidenschaft in ihrem Einsatz für Jesus Christus, seine Frohe Botschaft und für die ersten Christengemeinden. Und dabei waren sie durchaus auch unterschiedlicher, ja gegensätzlicher Meinung, was z.B. die Mission unter den Heiden angeht (s. Apg 10-15). Das spiegelt die „Apostelgeschichte“ (Apg) im Neuen Testament trefflich wider (es lohnt sich, diese Erfahrungsberichte und Glaubenszeugnisse aus der ersten Zeit der christlichen Gemeinden und der wachsenden Kirche einmal zu lesen!). Sicherlich hat es öfter „gekracht“ zwischen Petrus und Paulus. Beim sogenannten Apostelkonzil in Jerusalem, der ersten „Generalversammlung“ der jungen Kirche (Apg 15, 6-29), kam es dann zur offenen Auseinandersetzung zwischen den beiden und den zwei Parteien, die sich um sie gebildet hatten. Und es kam zu einer Einigung - die den Weg dazu geebnet hat, dass aus den ersten kleinen Gemeinden dann die Weltkirche werden konnte; also eine ganz entscheidende Weichenstellung! Danach haben Petrus und Paulus „an einem Strang gezogen“ - und jeder hat auf seine Weise dazu beigetragen, dass die Frohe Botschaft von Jesus Christus ihren Weg zu den Menschen finden konnte.
Und am Ende ihres Wirkens und Lebens gibt es nochmals etwas, was sie tief verbindet: Beide sind in Rom als Märtyrer gestorben, haben ihr Leben ganz für Jesus Christus hingegeben.
Die „Diversität“ von Petrus und Paulus, dass sie in verschiedener Hinsicht sehr unterschiedlich, ja gegensätzlich waren, hat sich also letztlich trotz mancher Auseinandersetzung nicht negativ ausgewirkt, sondern positiv, indem sie auf gemeinsamer Grundlage unterschiedliche Zielgruppen für Jesus Christus gewinnen konnten. Entscheidend dafür war, dass es bei aller Diversität doch auf tiefere Ebene etwas Gemeinsames, Verbindendes zwischen ihnen gab. Ihr Wirken und ihre Lebenshingabe im Martyrium spiegeln wider, dass sie sich in Jesus Christus wiederfinden und zusammenfinden konnten - dass sie für IHN und aus IHM gelebt haben; das ist der Punkt, der ihnen eine fundamentale Gemeinsamkeit gegeben hat, so dass sie von daher mit ihrer faktischen Diversität (auf anderer Ebene) gut umgehen und sie fruchtbar machen konnten. Daran wird deutlich: Die Voraussetzung dafür, dass Diversität sich positiv auswirken kann, ist, dass es auf tieferer Ebene etwas Verbindendes und Gemeinsames gibt. Das gilt auch heute, wenn es darum geht, wie wir mit „Diversität“ umgehen und sie gestalten. Je tiefer wir in dem verbunden sind, was uns „im Grunde“ gemeinsam ist, desto besser können wir mit der gegebenen Diversität umgehen, damit sie wirklich eine Bereicherung wird.
Dazu noch ein paar Anregungen - im Sinne einer „Wahrnehmungs-Übung“:
• Wo erleben Sie „Diversität“? Bei welchen Menschen/gruppen und in welchen Lebensräumen?
• Wie wirkt die erfahrende Verschiedenheit, Vielfalt, Gegensätzlichkeit auf Sie? Welche Gefühle und innere Regungen spüren Sie dabei?
• Überlegen Sie einmal, wenn Sie Diversität in verschiedener Weise erleben, was „darunter“, auf tieferer Ebene, möglicherweise das Gemeinsame und Verbindende sein könnte, wo man sich zusammenfinden kann - und, wie von daher (wie bei Petrus und Paulus) die Unterschiedlichkeit positiv gestaltet werden kann?
• Fallen Ihnen Menschen ein, denen es gelingt, sich auf die faktische Diversität gut einzustellen und gut mit ihr umzugehen? Haben Sie eine Ahnung davon, warum ihnen das gut gelingt?
• Was ist hilfreich, was können Sie selbst dazu beitragen, dass das bei aller Diversität notwendige Zusammengehörigkeitsgefühl und der Grundwerte-Konsens wachsen?
Ich wünsche Ihnen, dass Sie in die gegebene Diversität eintauchen und sich so mit ihr beschäftigen, dass Sie sie dann als Chance und Bereicherung erleben können!
Ihr
Dr. Christoph Maria Kohl
Domdekan & Domkustos
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In den Restaurants und Cafés in Speyer sind die Sitzplätze an den Tischen der Freisitze in den vergangenen Wochen oft gut gefüllt mit Gästen. Die Menschen genießen es, dass sie wieder ausgehen können, dass man sich mit größeren Freiheiten auch zuhause wieder mit mehr Personen treffen kann – vor allem auch zum gemeinsamen Essen und Trinken. Mir geht es genauso: Nach sieben digitalen Treffen der Speyerer Weinbrüder konnten wir vor zwei Wochen wieder „live“ zusammen sein – eine ganz andere Qualität von Gemeinschaft! In der vergangenen Woche war ich bei einem befreundeten Ehepaar zu einem sternekoch-verdächtigen Abendessen eingeladen und hatte einmal auch selbst Besuch, den ich bekocht habe. Wunderbar, dass es wieder möglich ist, unbeschwert bei einem guten Essen miteinander zu erzählen!
Denn das gemeinsame Essen und Trinken, das Mahl miteinander, bringt ein Stück Lebensqualität in den Alltag. Es ist ein intensives Zusammensein, das auch den Austausch untereinander beflügelt – und wenn es noch dazu gute Speisen und Getränke gibt, dann ist das wirklich wie eine Oase – Entspannung, Auftanken, Sich-gegenseitig-beschenken mitten im Alltag. Ein Labsal für Leib und Seele. Das gilt erst recht für ein richtiges Festmahl zu einem besonderen Anlass, wenn wir gelöst miteinander feiern. Da kann ein Stückchen Himmel auf Erden aufleuchten …
Deshalb ist es auch kein Zufall, dass die Bibel als eines der Bilder für den Himmel, für die Vollendung unseres Lebens bei Gott, das Bild vom „himmlischen (Hochzeits-)Mahl“ wählt.
Am schönsten in Worte gefasst ist das beim Propheten Jesaja, der das als „Festmahl auf dem Berg Zion“ (Jes 25,6-8) beschreibt:
„Der HERR der Heerscharen wird auf diesem Berg
für alle Völker ein Festmahl geben
mit den feinsten Speisen, ein Gelage mit erlesenen Weinen,
mit den feinsten, fetten Speisen, mit erlesenen, reinen Weinen.
Er verschlingt auf diesem Berg die Hülle, die alle Völker verhüllt,
und die Decke, die alle Nationen bedeckt.
Er hat den Tod für immer verschlungen
und GOTT, der Herr, wird die Tränen von jedem Gesicht abwischen.“
Das Bild vom gemeinsamen Festmahl ist bestens geeignet, um die „Fülle des Lebens“ (Joh 10,10) auszudrücken. Das gemeinsame Essen und Feiern ist ein Kulminationspunkt, ein Gipfelerlebnis. Darin kommt vieles zum Ausdruck, darin ist vieles erfahrbar, was das Leben ausmacht und schön macht und was uns „beseligen“ kann: die Gemeinschaft untereinander, das miteinander Teilen von Lebensnotwendigem beim Essen und beim Erzählen, gelöst und innerlich frei beisammen sein.
Deshalb ist es kein Wunder, sondern nur folgerichtig, dass auch Jesus gerne bei anderen zu Gast war und Mitmenschen zu sich nach Hause eingeladen hat. Er hat gut und gerne bei Festen mitgefeiert – seine Gegner haben ihn deshalb „einen Fresser und Säufer“ (Mt 11,19) genannt. Jesus hat beim Essen und Feiern die Gemeinschaft mit ganz unterschiedlichen Menschen und Bevölkerungsgruppen gepflegt: mit Sündern und Zöllnern (Mt 9,10; Mk 2,15 u.ö.), mit Pharisäern (Lk 7,36-50; Lk 11,37-54), mit der Schwiegermutter des Petrus (Mt 8, 14-15); mit der großen Menschenmenge, die gekommen war, um ihm zuzuhören und von ihm geheilt zu werden (z.B. Mt 14,13-21 und Mt15,32-39). Die ersten zwei Jünger gewinnt Jesus im Johannes-Evangelium dadurch, dass er sie zu sich nach Hause einlädt (Joh 1,36-41). Ein Höhepunkt seines Wirkens ist die Hochzeit zu Kana, die er mitfeiert und „rettet“, als der Wein auszugehen droht (Joh 4,46-54). Und so ist es alles andere als ein Zufall, dass Jesu den Höhepunkt seines Lebens, seine Hingabe am Kreuz für alle Menschen, vorwegnimmt im Zeichen des letzten Abendmahls, das er mit seinen Jüngern feiert (Mt 26,20-29). Und wir feiern immer wieder neu in der Messe, dass er uns nahe ist und im Brot der Eucharistie zu uns kommt und uns Anteil gibt an seiner Kraft, an seinem Geist, an sich selbst. Die eucharistische Mahlgemeinschaft ist der dichteste Ausdruck der Gemeinschaft mit IHM und untereinander – und der Anteilhabe am Leben, das Gott uns schenkt – eben bis zur Vollendung beim „himmlischen Hochzeitsmahl“.
So haben das gemeinsame Essen und Trinken, das Mahl und das festliche Feiern in unserem Alltag, in allen Kulturen und Religionen und erst recht in der christlichen Religion und Kultur eine besondere Bedeutung: Wir feiern das, was das Leben ausmacht; wir feiern den und die, die uns Leben und Freude am Leben schenken; wir teilen das Leben miteinander und wir bekommen beim Mahl Leben geschenkt.
Da das jetzt wieder mehr und unbeschwerter möglich ist, kann es nur gut tun, wenn Sie in der nächsten Zeit das gemeinsame Essen und Trinken zuhause oder im Restaurant, das Mahl-feiern mit Gästen und bei Besuchen ganz bewusst erleben und dabei wahrnehmen, was an Schönem, Belebendem, Aufbauendem darin für Sie drinsteckt und erfahrbar wird.
Ich wünsche Ihnen, dass Sie das intensiv erleben und innerlich verkosten, ja genießen können – und dadurch ganz auf der Spur des „Lebens in Fülle“ (Joh 10,10) sind.
Ihr
Dr. Christoph Maria Kohl
Domdekan & Domkustos
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Als „systemrelevant“, ja sogar als „Helden“ sind vergangenes Jahr in der ersten Lockdown-Zeit manche Mitmenschen benannt worden. Es wurde in der Krisenzeit bewusst, wie wichtig manche Berufsgruppen für das Funktionieren der Gesellschaft sind, vor allem Krankenpfleger/innen, sonstige Mitarbeiter/innen im Gesundheitssystem und z.B. auch Verkäufer/innen im Lebensmitteleinzelhandel. Deren Bedeutung leuchtete auf, und sie wurden gelobt und beklatscht. Es wurde auch eine angemessenere Entlohnung für sie gefordert.
So sind bestimmte Personengruppen als „systemrelevant“ identifiziert worden, als „relevant für das System“ - weil sie unbedingt notwendig sind für das Funktionieren unserer Gesellschaft, für lebenswichtige Aufgaben und Dienstleistungen; weil sie etwas am Laufen halten, was wirklich lebensnotwendig ist. Das ist ja durchaus eine wichtige Frage: Auf welche Dienste und Menschen sind wir angewiesen, damit unser Alltag klappt? Interessant war, welche Berufsgruppen dabei genannt worden sind – und welche nicht. Mit Sicherheit sind nicht alle wirklich wichtigen aufgezählt worden.
1.
Positiv daran war aber, dass dadurch bewusst wurde, was und v.a. wer alles für die Sicherung selbstverständlicher Lebensabläufe in der Gesellschaft wichtig ist. So kann der Blick geschärft werden für die Menschen, die ohne viel Aufhebens Tag für Tag selbstverständlich ihren zum Teil nicht leichten Dienst für uns tun. Dabei wurde auch deutlich, dass viele davon in unteren Lohngruppen angesiedelt sind – obwohl sie so wichtig sind und so Wichtiges tun (das könnte ja eine Anfrage an unser Entlohnungssystem sein!).
2.
Aber: „Vorsicht – Falle!“ Es ist dabei priorisiert worden. Ein solches Ranking von Berufsgruppen nach ihrer empfundenen Systemrelevanz ist eine Be-Wertung: Manche Menschen erscheinen in diese Hinsicht als wichtiger, andere als nicht so wichtig, andere sind eben gar nicht im Blick.
Was ist dann mit denen, die dabei weiter unten stehen oder gar nicht genannt werden? Und was ist mit denen, die vielleicht wirklich nicht so „systemrelevant“ sind im o.g. Sinn?
Welchen Stellen-Wert haben dann die Alten, die Behinderten, die Kranken? Die Menschen, die nicht sehr belastbar oder leistungsfähig sind? Diejenigen Mitmenschen, die aus irgendeinem Grund am Rand der Gesellschaft stehen?
Wenn dann die „Systemrelevanz“ unbewusst die Messlatte wird, das Kriterium für den (System-Stellen-)Wert eines Menschen, was für ein Menschenbild schleicht sich dabei ein?
Wenn die Menschen nach ihrer Systemrelevanz eingestuft werden, dann erwächst dadurch auch die Gefahr, dass es auf mich, auf uns zurückschlägt – so, wie Jesus es in der Bergpredigt sagt: „Denn wie ihr richtet, so werdet ihr gerichtet werden und nach dem Maß, mit dem ihr messt, werdet ihr gemessen werden.“ (Mt 7,2)
Wird eine Gesellschaft, die die Menschen auf ihre Systemrelevanz hin abklopft und bewertet, nicht inhuman?
3.
Angesichts dieser Gefahr ist ein Punkt umso wichtiger: Bei Gott ist jeder Mensch „systemrelevant“. Jede/r, die/den Gott geschaffen hat, ist ihm einfach so „teuer und wertvoll“ (s. Jes, 43, 1-5), ganz ohne irgendwelche Bedingungen oder Anforderungen. Gott schenkt allen seine Liebe – der o.g. Begriff der „Systemrelevanz“ spielt da überhaupt keine Rolle, weil „das System Gottes“ als solches eben die bedingungslose Liebe ist. Gott hat die Menschen, uns alle, als Mitfeiernde seiner Liebe geschaffen, die er über alle ausgießt.
Wenn wir also die Mitmenschen mit den Augen Jesu / Gottes betrachten - uns das gehört wesentlich zum Leben aus dem Glauben dazu! –, dann bedeutet das, dass wir sie gerade nicht einstufen und bewerten nach irgendeiner Art von Relevanz, nach ihrer Leistungsfähigkeit oder ihrem Beitrag zum Gemeinwohl o.ä. – weil jeder Mensch einen absoluten Wert hat, der durch nichts relativiert werden kann.
4.
Wenn wir uns dieser Gefahr bewusst sind; wenn der Begriff „systemrelevant“ entsprechend relativiert ist und somit ausgeschlossen ist, dass wir die Mitmenschen damit bewerten, dann kann es sehr aufschlussreich sein, dann lohnt es sich sehr wohl, das, was damit positiv gemeint ist, in den Blick zu nehmen:
Wenn ich auf mich, auf uns und unseren Alltag, auf unseren Lebensraum schaue, auf „mein Lebenssystem“: Wer ist für mich, für mein Leben und das unserer Familie „systemrelevant“?
Und zwar in dem Sinne:
• Auf wen, auf welche Menschen bin ich angewiesen, damit mein Leben funktioniert, dass es gut wird und erfüllend wird?
• Wer hat in besonderem Maße dazu beigetragen, dass ich die Corona-Zeit gut überstanden habe?
• Wer alles sorgt im Alltag für mich?
• Wer sorgt sich um mich persönlich, kümmert sich um mich, dass es mir gut geht?
Dabei ist mir wichtig, auch einen Blick gerade für diejenigen Mitmenschen zu entwickeln oder ihn zu schärfen, die im Alltag still ihre Dienste für mich und uns tun. Wenn ich nur an den Morgen des Tages denke: Meine Zeitungszustellerin, die Müllwerker und Mitarbeiter der Wasserwerke, die Bäcker und die Briefzusteller – sie sind alle schon für mich am Arbeiten, bevor ich am Frühstückstisch sitze!
Gehen Sie doch einmal Ihren Alltag durch und vergegenwärtigen sich dabei all die Menschen, die in einem guten Sinn für Sie „systemrelevant“, wichtig oder gar lebenswichtig sind. Denen tut es gut, wenn Sie an sie denken und ihnen ein Wort des Dankes oder ein Zeichen der Anerkennung schenken. Und es spricht überhaupt nichts dagegen, diese Menschen, die auf ganz verschiedene Weise für Sie da sind, Gott anzuempfehlen und für sie zu beten - dann bewegen Sie sich erst recht im „System Gottes“, im Raum seiner Liebe. Und dann kann diese Liebe Kreise ziehen und unser Leben noch mehr erfüllen.
Dass Sie das erleben und dass Sie so selbst dazu beitragen,
das wünsche ich Ihnen von Herzen!
Ihr
Dr. Christoph Maria Kohl
Domdekan & Domkustos
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Meldung in der „Rheinpfalz am Sonntag“ am 6.6.2021, also vergangenen Sonntag: „Intensivmediziner rechnen damit, dass sich die in Indien entdeckte Delta-Variante des Coronavirus in Deutschland durchsetzen wird. Wenn die Menschen unvorsichtig würden, könnten die Infektionszahlen wieder hochschnellen … Dann ist eine vierte Welle möglich.“
Wenn ich aus meinen Fenster auf den Speyerer Domplatz und auf die von ihm ausgehende Hauptstraße schaue, dann habe ich den Eindruck, dass viele Menschen in der Tat unvorsichtig, leichtsinnig sind. Zu viele verhalten sich so, als ob Corona weg wäre oder nie dagewesen wäre. Sie wollen wieder „Normalität“, all das, was sonst immer zum Leben dazugehört (hat), was lange nicht möglich war – aber das daraus resultierende Verhalten ist etwas bedenklich, ja gefährlich, v.a. wenn ohne Maske kein Abstand mehr gehalten wird.
Die Sehnsucht, die dahintersteckt, ist höchst verständlich. Nach über einem Jahr bedrückender Situation mit gravierenden äußeren Einschränkungen des Lebens und mit verminderter Lebensqualität, in gedrückter Stimmung und mit ständigem Auf-sich-aufpassen-müssen wollen die Menschen endlich wieder locker, gelöster, mit mehr Leichtigkeit im Herzen leben – ich auch! Aber dabei gibt es eben einen wichtigen Unterschied zwischen „leichten Sinnes leben“ und „sich leichtsinnig verhalten“.
Was „leichten Sinnes leben“ bedeuten kann, das machen uns vielfach die Kinder vor: locker und gelöst sein; verspielt, ja wie tänzerisch durchs Leben gehen, es leicht nehmen, sich einfach seines Lebens freuen; unbeschwert und fröhlich sein; herumtollen und wage-mutig sein; mal etwas Verrücktes tun; in und aus der Intuition leben und ganzheitlich da sein. Wohl dem Erwachsenen, in dem „das Kind im Manne/in der Frau“ weiterleben darf und auch „herauskommt“!
Das Gegenteil davon wäre: niedergedrückt und in ständiger Anspannung leben; sich vom „Ernst des Lebens“ innerlich gefangen nehmen und blockieren lassen; sich nur noch mit großer Vorsicht, ja Ängstlichkeit bewegen; verkopft leben oder verkrampft sein; sehr (selbst)kontrolliert handeln oder gar eine gewisse Zwanghaftigkeit entwickeln.
Auf der anderen Seite gibt es eben auch ein leichtsinniges Verhalten. Das zeichnet sich – im Unterschied zum „leichten-Sinnes-leben“ - dadurch aus, dass die Sehnsucht nach Leichtigkeit mit einem Menschen durchgeht und dadurch manche wichtige praktische oder ethisch relevante Gesichtspunkte nicht beachtet werden. Beim leichtsinnigen Verhalten werden dessen Gefahren und Risiken unterschätzt oder ganz außer Acht gelassen. Es übertreibt das „leichten-Sinnes-leben“ in unguter Weise und gefährdet es genau dadurch auch! Wenn bei jemandem Leichtsinn „not-wendig“ ist, dann stellt sich die Frage, wofür er Ersatz ist, Ersatz für welches tief-menschliche Bedürfnis oder für welche Lebensdimension, die bei jemandem zu kurz kommt, die bisher nicht sein konnte oder gar durfte. Leichtsinn kann darauf hinweisen, dass die Lebens-Dimension „Spiel – spielen – verspielt sein – spielerisch mit sich und dem Leben umgehen“ nicht im notwendigen Maße zum Zuge kam.
Dabei haben wir als Christen die Chance, ja den Vorteil, dass wir das Leben nicht bitterernst, sondern in einer gewissen Leichtigkeit sehen und angehen können - wenn wir uns in Gott geborgen fühlen, im Vertrauen auf ihn und als Erlöste leben.
Dazu ein paar Fragen und Anregungen:
In der dritten Strophe des Liedes „Nehmt Abschied, Brüder” heißt es: „Das Leben ist ein Spiel, und wer es recht zu spielen weiß, gelangt ans große Ziel“…
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen, dass Sie erst recht in dieser Phase der Corona-Zeit gelöst und verspielt leben können – ganz ohne leichtsinnig werden zu müssen!
Ihr
Dr. Christoph Maria Kohl
Domdekan & Domkustos
Wer das Thema noch etwas vertiefen möchte, dem empfehle ich die Beschäftigung mit dem Vierer-Schema des Jesuitenpaters Peter Knauer, das er im Anschluss an den griechischen Philosophen Aristoteles entwickelt hat. Er hat ein hilfreiches Schema entwickelt, das er leicht macht, bei einem Wert oder einer bestimmten Verhaltensweise alles im Blick zu haben, was dabei wichtig ist. In unserem Fall könnte das so aussehen:
leichtsinnig sein, verantwortungslos
| leichten Sinnes, gelöst und locker sein und leben | verantwortungsbewusst sein und handeln | verkrampft oder gar zwanghaft sein |
Bei diesem Schema geht es um das, was im zweiten Kästchen von links eingetragen ist. Indem links davon, also ganz links, die Übertreibung/das Extrem dieser Haltung/Verhaltensweise festgehalten wird und dann ganz rechts das glatte Gegenteil davon, stellt sich fast von selbst im Kästchen rechts von der Mitte der Wert bzw. die Verhaltensweise heraus, die zu dem, worum es geht (im Kästchen links von der Mitte) notwendigerweise dazugehört: Nur wenn „leichten Sinnes sein und leben“ gepaart ist mit einem gewissen Verantwortungsbewusstsein, dann kann es sich positiv auswirken - andernfalls führt es zu einem unguten Verhalten, hier dem Leichtsinn.
Dieses Vierer-Schema kann man übrigens auf alle möglichen Werte, Haltungen und Verhaltensweisen anwenden - jedes Mal wird dann deutlich, welcher zweite Wert unbedingt zu dem gehört, um den es geht.
Wenn also ein gewisses Verantwortungsbewusstsein als ergänzender Wert und ein entsprechendes Verhalten dazu kommen, dann sichert das die Möglichkeit, wirklich leichten Sinnes, gelöst und locker zu leben.
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Auch in diesem Jahr haben wir Fronleichnam Corona-bedingt ohne Prozession gefeiert. Die Prozession ist das Besondere an diesem Festtag. Viele haben in Erinnerung, wie in vergangenen Jahrzehnten der Prozessionsweg aufwendig geschmückt worden ist. Fronleichnam hat in der traditionellen Frömmigkeit einen hohen Stellenwert - und ist auch für uns heute ein Fest mit einer starken und wichtigen Botschaft.
Das ganze Jahr über feiern wir Eucharistie in der Kirche. Wir gehen zur Kommunion und empfangen Jesus Christus im Brot der Eucharistie – darin wird spürbar, dass er bei uns ist, dass er jede/n von uns erfüllen möchte und dass er unser eigentliches Lebens-Mittel ist. In der eucharistischen Anbetung verehren wir Jesus Christus - sie ist wie ein verlängerter Augenblick zwischen der Wandlung und dem Kommunionempfang: Wir haben Jesus Christus vor Augen, der für uns das Brot des Lebens sein möchte. Die Feier und Verehrung der Eucharistie ist mit das Dichteste, das wir in der Kirche erleben können, der intensivste Ausdruck der Nähe und Liebe Jesu zu uns und allen.
Aber einmal im Jahr gehen wir damit aus der Kirche hinaus, ganz bewusst. Bei der Prozession tragen wir Jesus Christus im Brot der Eucharistie durch unsere Straßen, durch unsere Lebenswelt. Ein starkes Zeichen, durch das Mehreres zum Ausdruck kommt.
1.
Wenn wir die Monstranz mit dem eucharistischen Brot durch die Straßen tragen, dann „geht Jesus mit uns“ – dorthin, wo wir wohnen, arbeiten, leben. Jesus ist als Gott Mensch geworden, um uns nahe zu sein: „Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt“ (Mt 28,20).
Er hat am eigenen Leib alles erfahren, was zum Leben dazugehört. Auch nach seiner Auferstehung trägt er noch die Wundmale, die Zeichen der Verletzungen, die er zu Lebzeiten erlitten hat, und Zeichen dafür, dass er in Hingabe für die Menschen gelebt hat. Dafür steht das gebrochene Brot der Eucharistie.
So wird durch die Prozession an Fronleichnam deutlich: Jesus Christus ist unter uns gegenwärtig, mitten in unserer Alltagswelt. ER geht mit uns – und wir gehen mit IHM. Er beschenkt uns auf all unseren Wegen mit seiner Gegenwart, mit seiner Nähe. Die innere Verbindung mit ihm schenkt uns eine andere Lebensqualität. „Mit Jesus an der Hand“ oder besser noch: „An der Hand Jesu“ lebt es sich anders, in großem Vertrauen und mit „Kraft von oben“.
2.
Wenn wir mit Jesus Christus im eucharistischen Brot durch unsere Straßen gehen, so kommt darin auch zum Ausdruck: Jesus heiligt unsere Alltagswelt; er macht sie sich sozusagen zu Eigen und ist selbst darin präsent und wirksam. Es gibt darin keinen einzigen „gottlosen Winkel“; Gott hat seine Geschöpfe und Schöpfung im Blick und sorgt für sie. Seine Fürsorge, sein Wohlwollen, seine Liebe zu uns bezieht sich auf alle unsere Lebensdimensionen in uns und um uns. Unsere ganze Alltagswelt ist erfüllt von seinem Segen - und auch wir sind darin Gesegnete: Wir können unsere Alltags-Wege gehen als Menschen, die auf seine Nähe, seinen Beistand, seine Führung und seine Kraft vertrauen können.
3.
Das lässt uns Jesus Christus in der Eucharistie, wenn wir zur Kommunion gehen, ganz dicht spüren. Aber sie ist nicht einfach dazu da, dass „wir es uns mit Jesus gut gehen lassen“. In dem, was Gott uns für uns und unser Leben schenkt, steckt immer auch ein Auftrag drin; aus der Gabe wird dann auch eine Aufgabe - auch bei der Eucharistie.
Dies kam am Ende der früheren lateinischen Messe gut zum Ausdruck. Nach dem Segen hieß es dort nicht „Gehet hin in Frieden! - Dank sei Gott, dem Herrn!“, sondern treffender: „Ite, missa est! - Deo gratias!“ / „Geht, es ist Sendung = ihr seid gesandt! - Dank sei Gott!“.
Der Name „Messe“ kommt also von diesem Wort „missa / Sendung“, die Eucharistie-Feier läuft auf die Sendung in die Alltags-Welt hinaus. Wer aus der Messe kommt, hat den Auftrag, das, was er darin geschenkt bekommen hat, im Alltag weiter zu schenken. Die Kommunion ist nicht etwas, was sich in der Kirche „abspielt“ – die communio = Gemeinschaft mit IHM und untereinander, alles, was Jesus uns in der Eucharistie schenkt, soll uns dazu befähigen, dass wir diese Gemeinschaft in unserer Alltagswelt leben und ausstrahlen – und dass wir dadurch zu Zeugen seiner Nähe und der Kraft, die er uns und allen gibt, werden.
Von daher gesehen ist Fronleichnam zwar keine „Demonstration der Katholiken“, aber sehr wohl ein Zeugnis von dem, was uns wichtig ist, was uns trägt und nährt, von Jesus Christus selbst. Auch das kommt zum Ausdruck, wenn wir ihn durch unsere Straßen tragen. Wir „zeigen ihn der Welt“, weil wir und alle aus seiner Nähe und Kraft Entscheidendes für unser Leben bekommen können –
so, wie es das Lied im Gotteslob Nr. 414 sehr schön ausdrückt:
„Herr, unser Herr, wie bist du zugegen
und wie unsagbar nah bei uns.
Allzeit bist du um uns in Sorge,
in deiner Liebe birgst du uns.“
Dass Sie selbst diese Erfahrung machen - und dass Sie sie dann ausstrahlen,
das wünsche ich Ihnen von Herzen.
Ihr
Dr. Christoph Maria Kohl
Domdekan & Domkustos
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„UT UNUM SINT“ / „Damit sie eins seien“ (Joh 17,11.21.22 ) - das steht in Großbuchstaben oben auf dem Hauptportal unseres Doms. Der Dom ist Zeichen und Mahnmal der Einheit - der Einheit unter den Christen, in Europa und auch unter uns heute im alltäglichen Leben.
„Einheit“ ist ein zentrales Lebens-Thema. Leben in Einheit ist noch mehr als Leben in Frieden; Leben in Einheit ist der Gipfel von gutem Zusammenleben. Also ist sie für jede Art von Miteinander relevant, angefangen von Freundschaft, Ehe und Familie bis hin zur Einheit Deutschlands oder Europas oder der Welt. Das Gegenteil von Einheit sind Uneinigkeit, Spannungen und Konflikte, Missverständnisse, Zerwürfnis, Auseinandertriften, „Hölle auf Erden“.
Einheit bedeutet nicht Uniformität, Gleichmacherei, Vereinheitlichung oder gar Gleichschaltung durch Dominanz oder gar Unterdrückung und Macht. Echte Einheit führt zugleich dazu, dass darin jede/r nicht nur geachtet wird, sondern dass durch diese Einheit und in ihr jede/r sich besser entfalten kann und mehr sie/er selbst wird. Das geht nur, wenn die Einheit von innen, vom Herzen kommt - sonst kann sie nicht die Herzen der anderen ergreifen, bewegen und in die Einheit hineinziehen. So ist sie etwas hoch Dynamisches, immer in Bewegung - und braucht stets neue Nahrung.
Wenn sie so gelingt, ist die Erfahrung von Einheit ein echtes Highlight im Leben, etwas, was unendlich wohltuend sein kann. Ich hoffe, dass Sie eine solche Einheit schon erlebt haben, ein solches Eins-Sein, bei dem Sie spüren, dass Sie mit (einer/einem) anderen tief innerlich verbunden sind, sich aufeinander eingeschwungen erleben - als ein größeres Ganzes.
Ein Beispiel dafür aus meinem dienstlichen Alltag möchte ich Ihnen erzählen. Vor fast genau einem Jahr sind wir zu viert nach Hildesheim gefahren: die Speyerer Dombaumeisterin, der Domkapellmeister, der Domkantor und ich. Wir müssen im Speyerer Dom ein Podest für den Domchor bauen. Dafür gibt es in Hildesheim eine sehr gute Lösung, die wollten wir uns anschauen.
Auf der Hinfahrt haben wir überlegt, worauf es bei diesem Projekt besonders ankommt. Und schon das war ein Zusammentragen und ein Austausch, bei dem es ohne die geringste Kommunikationsstörung nur so floss: Jeder hat seine Erfahrungen und Kompetenzen eingebracht. Der eine Gedanke ergab den nächsten. Jeder hat aufmerksam auf die anderen gehört, die Botschaft des einen kam beim anderen wohlverstanden an - jeder hat aufgegriffen und weitergeführt, was der andere gesagt hat. So haben wir uns die Bälle zugespielt. Und so haben wir ohne Mühe alles Wichtige zusammen gehabt. Und das Ganze war eine tolle Erfahrung von wohltuendem Miteinander. So, wie es eben sein kann, wenn es fließt, wenn der Lebensstrom ungehindert fließen kann.
Und so ging es in Hildesheim selbst weiter. Beim Mittagessen das gleiche herzliche Verstehen mit den dortigen Kollegen. Als wir das Chorpodest im Dom besichtigt haben, haben wir Vier uns angeschaut - und schon war klar, was wir von dort an Ideen übernehmen können. Und nach dem Gespräch beim Abendessen war das Speyerer Chorpodest in unserer Vorstellung fertig, weil die Beobachtungen und Ideen von allen Vieren wunderbar zusammenflossen. Weil wir auf einer Wellenlänge waren und in gemeinsamer Schwingung.
Eine wunderbare Erfahrung. Auf der Rückfahrt im Zug kam ich mir vor, als ob ich auf „Wolke sieben“ schwebte. Ich hatte zwei Tage erlebt, die sehr beglückend waren, fast himmlisch schön. Da stimmte alles, da kam alles wunderbar zusammen. So kann es gehen, wenn der Lebensstrom im Miteinander ungehindert fließen kann. Weil dabei keine Eitelkeit oder Besserwisserei im Spiel war, keine Rechthaberei oder Übertrumpfen. Weil jeder den anderen geachtet hat und auf ihn eingegangen ist. Wo das gelingt, können wir uns ein wenig Himmel auf Erden bereiten. Auch im Alltag.
Das war für mich eine Erfahrung von Einheit. Wir haben uns aufeinander eingestellt, ja eingeschwungen - oder muss ich vielleicht besser sagen: Wir haben uns gemeinsam auf den Heiligen Geist eingeschwungen. Denn es verbindet uns ein gemeinsamer Geist; wir sind „auf gleicher Wellenlänge“, nämlich auf der des Heiligen Geistes. Und deshalb konnte es dann unter uns nur so fließen - menschlich sehr wohltuend und in der Sache sehr ertragreich. Seitdem ist „Es fließt!“ bei uns ein geflügeltes Wort - wenn wir es wieder einmal so intensiv erfahren, und das kommt öfter vor. So geht Einheit, dadurch, dass wir „eines Geistes sind“, uns vom gleichen Heiligen Geist erfüllen und beflügeln lassen.
Das Urmodell und die Quelle aller Einheit stellt uns der heutige Dreifaltigkeits-Sonntag vor Augen, die Einheit zwischen Gott-Vater und -Sohn im Heiligen Geist. Dort „fließt es“ zwischen Vater und Sohn unaufhörlich und ohne die geringste Beeinträchtigung. Jesus betet, wie das Johannesevangelium überliefert, zu seinem und unserem Vater:
„Alle sollen eins sein: Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir bin, sollen auch sie in uns sein …, damit sie eins sind, wie wir eins sind, ich in ihnen und du in mir. So sollen sie vollendet sein in der Einheit.“ (Joh 17,21-22) Jesus möchte uns also Anteil geben an der Einheit, die er in Reinform er-lebt. Einheit „geht“, indem wir uns hineinziehen lassen in die Einheit im dreifaltigen Gott und uns davon inspirieren lassen.
Jesus selbst er-lebt und „kultviert“ diese Einheit auf verschiedene Weise. Er lebt in der inneren Verbindung mit dem Vater. Er spürt sich als vom Vater gesandt, der hinter ihm steht: „Du bist mein geliebter Sohn, …“ (Mk 1,11 u.ö.) Jesus zieht sich zum Gebet zurück, um ganz beim Vater zu sein und sich in ihn hinein zu vertiefen. So ist er auch ganz beseelt vom Geist des Vaters. Das Vertrauen auf ihn ist so groß, dass er sich durchringen kann, seinen Weg konsequent bis zum Kreuz zu gehen. Auch der Moment der Gottverlassenheit, den er dort durchleidet, reißt ihn aber nicht aus der Einheit mit dem Vater heraus - denn die ist stärker als alles andere. Und der Vater lässt ihn dieses Eins-Sein als Auferstandener und in den Himmel Erhöhten nochmals verdichtet erleben. Der Strom des Lebens und der Liebe fließt seitdem nicht nur ohne jegliches Hindernis zwischen Vater und Sohn; vielmehr zieht uns der Heilige Geist seitdem immer neu und sehr erfinderisch in diese Einheit hinein - damit auch zu uns hin und unter uns der Strom des Lebens und der Liebe von Gott her möglichst gut fließen kann. So „geht“ Einheit, die ganz konkret in unserem Leben spürbar ist - und die dann im Himmel von Gott vollendet wird.
Mein Vorschlag:
• Nehmen Sie sich einmal ein wenig Zeit. Schauen Sie in Ihrem Inneren und in Ihrem Leben einmal nach, wo und wann Sie schon einmal so etwas wie eine tiefe Einheit (mit …) erlebt haben; dass es so richtig fließt, dass Sie sich wie tief zusammengeschwungen (mit …) gespürt haben – und was das ihnen an Lebensqualität geschenkt hat.
• Kennen Sie (einen) Menschen, der eine besondere Gabe darin hat, andere gut „zusammenzubringen“; Einigkeit zu fördern; durch sein Wesen und seine Äußerungen einen Raum zu eröffnen, wo etwas zusammengehen kann?
• Was bedeutet für Sie „Einheit“, „Eins-Sein“, „Einigkeit“ pflegen?
• Vollziehen Sie einmal das Gebet Jesu zum Vater nach, in dem er von seinem Eins-Sein mit dem Vater und der Einheit, die er uns allen schenken möchte (Joh 17, 1-26), spricht. Am besten dadurch, dass Sie einen oder zwei Verse herausgreifen und auf Ihren Atemrhythmus beten, sie innerlich wiederholen und sich dadurch meditierend hineinvertiefen. Das kann viel in Ihnen aus-lösen…
Je mehr wir uns in die Einheit in Gott hineinziehen lassen, desto mehr kann jede/r von uns und können wir miteinander eins werden - und so können wir Himmlisches auf Erden erleben. Nichts weniger möchte Gott uns schenken!!!
Und solche Erfahrungen wünsche ich Ihnen von ganzem Herzen!
Ihr
Dr. Christoph Maria Kohl
Domdekan & Domkustos
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Die Corona-Zeit ist nicht die Zeit für Träumereien, große Pläne und Visionen. Im Gegenteil: Die Realität holt uns ein und bedrängt uns. Viele Menschen, gerade auch jüngere, sehen ihre Zukunftsperspektiven schwinden. Auch in der Politik wird nur „auf Sicht gefahren“, also nur nach dem nächsten richtigen Schritt gesucht, der helfen könnte, aus der Krise herauszukommen. Die größeren Horizonte sind ganz in den Hintergrund gerückt; mit unserer äußeren Bewegungsfreiheit scheint auch der Radius unseres Denkens und Handelns sehr eingeschränkt zu sein. Das aber hat ungute Konsequenzen. Im Bild gesprochen: Wer mit gesenktem Kopf vor sich hin trottet und nur die nächsten ein, zwei Schritte im Blick hat, der verpasst vieles Schöne, was um ihn ist und vor ihm liegt - worauf er sich freuen könnte, weil es das Leben erfüllt.
Genau deshalb sind Visionen, die uns Hoffnung schenken können, „gute Aussichten“ für die Zukunft, jetzt umso wichtiger. Gott schenkt seinem Volk Israel und auch uns heute immer wieder Visionen. Das sind nicht utopische Pläne für die Zukunft, die wir als Ziel vor Augen haben und die wir konsequent und mit viel Anstrengung verwirklichen sollen. Visionen im ursprünglichen, biblischen Sinn sind Zusagen, Verheißungen Gottes, was ER selbst für und mit seinem geliebten Volk tun möchte, welche Zukunft ER uns schenken möchte: „Ich will euch eine Zukunft und eine Hoffnung geben“ (Jer 29,11). Visionen stellen uns das Lebens-Szenario Gottes vor Augen, das er für uns bereitet und wohinein er uns führen möchte - in unserem Leben hier und heute, in unserer Welt, und dann vollendet im Himmel. Visionen spiegeln wider, dass Gott es unendlich gut mit uns meint. Visionen sind ein Lebensangebot. Wenn jemand sich auf eine solche Vision einlässt und sie vor Augen hat, dann kann das ungeahnte Kräfte freisetzen!
Eine der alttestamentlichen Lesungen, die für die Pfingsttage vorgesehen sind, stammt aus dem Buch des Propheten Joel. Er richtet dem Volk Israel die Hoffnungs-Botschaft Gottes aus: „Ich werde meinen Geist ausgießen über alles Fleisch. Eure Söhne und Töchter werden Propheten sein, eure Alten werden Träume haben und eure jungen Männer haben Visionen. Auch über Knechte und Mägde werde ich meinen Geist ausgießen in jenen Tagen“ (Joel 3, 1-2). Mit anderen Worten: Groß und Klein, Jung und Alt, alle Menschen quer durch alle gesellschaftlichen Schichten und Verantwortungen werden mit der Kraft des Heiligen Geistes erfüllt werden. Und das wird u.a. zur Folge haben, dass sie erfüllt werden von der Hoffnung und den unwahrscheinlichen Zukunftsperspektiven, die Gott uns eröffnet. Diese „Träume“ und „Visionen“ können sie beflügeln und ihnen die Kraft geben, sich in die Richtung zu bewegen und zu engagieren, die ihnen der Geist Gottes weist - und als Visionäre andere dabei zu begeistern und mitzuziehen. Denn die gottgeschenkte Zukunft ist attraktiv, anziehend (von lat. attrahere = anziehen)!
Diese Zusage, die Gott durch den Propheten Joel und andere Propheten hat ausrichten lassen, gilt auch heute, gilt auch uns. Der Gott der Hoffnung und Zukunft und Vollendung schenkt uns auch heute Visionen. Die Frage ist nur, ob wir einen Sinn, ein Gespür dafür haben; ob wir sie erkennen, ob wir sie herausdestillieren aus dem Vielen, was äußerlich und innerlich auf uns einströmt und uns in Beschlag nimmt. Um Visionen und Visionäres wahrnehmen zu können, dazu braucht es wohl ein wenig Abstand vom Alltag. Wenn ich nur im Strom des Alltags schwimme oder gar getrieben werde, dann reicht die Kraft oft nur dazu, den Kopf über Wasser zu halten - wodurch der Blick nicht allzu weit reicht. Wenn ich aus dem Fluss des Alltags einmal kurz heraussteige, mich ans Ufer stelle und von außen eine Weile betrachte, was im Fluss des Lebens alles drinsteckt und zum Vorschein kommt - dann kann das ganz neue, erfrischende Perspektiven eröffnen. Dann kann der Durch-Blick über das Menschenmögliche hinaus auf das Gottmögliche frei werden, auf das, was Gott für und mit uns möglich, wirklich machen möchte. „Gott hat mehr Möglichkeiten, als Du denkst!“ - auch dieses Vertrauen ist eine Frucht der Visionen, die er schenkt.
Wie können wir den Visionen Gottes für uns, für unser Leben und unsere Welt, für uns persönlich auf die Spur kommen? Ein paar Anregungen dazu:
• Die Bibel kann uns die Augen öffnen für die Visionen Gottes. Lesen Sie mal in den Propheten-Büchern! Besonders dicht sind die Verheißungen Gottes bei Jesaja: Jes 2,1-5; 43,1 - 44,5; 62,1-12; 65,16 - 66,14.
• Jesus selbst lebt ganz im Horizont der Verheißungen Gottes - seine Sendung, seine Lebensaufgabe ist es, dass durch ihn die Visionen Gottes anfangen, sich konkret zu erfüllen (s. Lk 4,16-21) - was das heißt und wie das geht, das durchzieht das ganze Evangelium. Gehen Sie mal v.a. in den Evangelien nach Matthäus, Markus und Lukas auf Spurensuche nach dem, was Gott den Menschen an Zukunftsmöglichkeiten konkret eröffnet!
• Es gibt auch heute Menschen, die spürbar eine Vision für ihr Leben, für das Zusammenleben aller, für die Welt haben - die das ausstrahlen und davon beflügelt sind. Oft sind das Menschen, deren Herz für eine bestimmte Sache oder bestimmte Menschen regelrecht „brennt“, die dafür mit Leidenschaft engagiert sind. Durch solche Menschen, die „etwas Visionäres an sich haben“ (wie man treffend sagt), leuchtet etwas von den Visionen Gottes für uns auf. Überlegen Sie mal, ob Sie solche von einer gewissen Vision getragene Menschen kennen - wenn nicht, suchen Sie bewusst mal nach ihnen. Denn diese können uns die Augen öffnen für Visionen, die „in der Luft liegen“, d.h. vom Windhauch des Heiligen Geist zu uns geweht werden. Und solche Menschen können uns Wegbereiter und Vorbild dafür sein, dass wir selbst in der Kraft einer Vision leben.
• Gönnen Sie sich ab und zu eine Zeit, in der Sie sich dem Alltagsgetriebe entziehen und einen Freiraum haben, damit Sie einen wohltuenden äußeren und inneren Abstand zur alltäglichen Wirklichkeit gewinnen können. Bitten Sie Gott, dass er Ihnen Durchblicke schenkt, in denen seine Visionen für Sie und für die Welt aufleuchten können. Spüren Sie auch Ihrer eigenen Lebens-Sehnsucht nach - denn die Sehnsucht ist eine Kraft, die Gott in unser Inneres gegeben hat und die uns auf Erfüllung, auf die „Fülle des Lebens“ (Joh 10,10), auf ihn als die Quelle des Lebens ausrichten möchte.
• Wenn Ihnen dabei „etwas dämmert“ oder gar „ein Licht aufgeht“, was die Visionen Gottes für Sie und uns alle angeht, ist es hilfreich und verstärkend, das, was Ihnen dabei und davon aufgegangen ist, irgendwie auszudrücken: in einem Bild, das Sie malen; in einem Lied, das Sie kennen, oder einer Melodie, die Ihnen spontan neu aus dem Herzen steigt; in einem kleinen, spontanen Tänzchen (warum nicht?); in einem Text oder einem persönlichen Gebet - durchaus auch ähnlich wie die Psalmen. Wenn Sie das, und sei es Ihrer Meinung nach noch so wenig, was Ihnen bei der Suche nach den Visionen anfanghaft aufgeht, so zu und vor Gott bringen, dann kann er es aufgreifen, es durchformen und mehr daraus machen …
So wünsche ich Ihnen zu Pfingsten, dass Sie das konkret erfahren, was Gott durch den Propheten Joel zugesagt hat: Dass er für Sie Träume und Visionen parat hat und dass er uns auf Wege führen möchte, auf denen sie Wirklichkeit werden.
Mit einem herzlichen Gruß
Ihr
Dr. Christoph Maria Kohl
Domdekan & Domkustos
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Immer noch engt die Corona-Bedrohung unsere Kontaktmöglichkeiten ein. Nur in geringem Maß sind Besuche und auch Begegnungen beim gemeinsamen Essen so möglich, wie wir es gewohnt sind und wie es normalerweise zum Leben dazugehört und gut tut. Sport in einer Mannschaft oder gemeinsame Konzertbesuche und ähnliche gesellige Unternehmungen fallen ganz aus. Nur im eigenen Haushalt kann man sich „normal begegnen“, und mit wenigen anderen ist ein dichterer Kontakt mit Vorsichtsmaßnahmen möglich, z.B. im Beruf.
Das ist ein Verlust an Lebensqualität und das macht vielen verständlicherweise zu schaffen. Doch ist es auch möglich, diese Situation als eine Chance zu nutzen – als eine Chance, die wenigen Kontakte bewusster und intensiver zu leben - und dabei Grundhaltungen zu vertiefen, die für das Miteinander hilfreich, ja notwendig sind. Dazu zählt für mich an vorderster Stelle eine „Kultur der Wertschätzung“.
„Du hast aber gute Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter!“ Das hat einmal jemand gesagt, der zu einer Besprechung in mein Büro gekommen ist und beim Gang durch das Haus schon dem einen und der anderen begegnet ist. Auf seine Feststellung hin habe ich gesagt: „Stimmt. Ich habe wirklich hervorragende Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Das sehe ich genauso. Erstens weiß ich das. Zweitens wissen meine Mitarbeiter, dass ich das weiß. Und drittens sage ich es ihnen ab und zu auch ganz bewusst.“
Mir ist eine Kultur der Wertschätzung wichtig. Dazu gehört, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zwischendurch immer wieder mal zu danken für ihre Arbeit. Sie sollen spüren können: Was sie leisten, wird wahrgenommen und anerkannt. Ich merke, dass ihnen das gut tut. Und ich hoffe, dass von mir als ihrem Vorgesetzten rüberkommt: „Ich bin froh, dass Du da bist / dass Sie da sind!“ Jeder soll gerade auch bei der Arbeit seine Würde und seinen Wert erleben können.
Das gehört zentral zum christlichen Verständnis von Arbeit. Und es ergibt sich aus dem Menschenbild der Bibel. Jeder Mensch ist Gottes Ebenbild. Das geht aus der Schöpfungserzählung hervor. Und aus dem Evangelium erfahren wir: Im Mitmenschen begegnen wir Jesus Christus. Gott ist Mensch geworden. Gott selbst möchte uns in jedem einzelnen Menschen begegnen. Gott ist die innerste Mitte jedes Menschen. Alles, was er in ihm angelegt hat, möchte er in ihm entfalten. Damit jeder zu dem Original wird, als das Gott ihn erdacht hat. Das ist die höchste Vorstellung von der Würde und vom Wert jedes einzelnen Menschen, die man sich denken kann.
Das soll keine hehre Theorie sein. Ihre Würde und ihren Wert sollen die Menschen im Alltag spüren, konkret erleben. Wenn ich ihnen da mit der entsprechenden Einstellung begegne, kann etwas rüberkommen vom unschätzbaren Wert jedes Einzelnen. Gerade auch in der Arbeit, die ja einen Großteil der Lebenszeit ausmacht. Deshalb möchte ich meinen Mitarbeitern gegenüber achtsam sein, in liebevoller Ehrfurcht mit ihnen umgehen – das ist eine wichtige Grundhaltung.
Und die tut allen Beteiligten gut. Auch mir selbst. Ich kann mich jeden Morgen auf meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter freuen – und ich weiß, dass sie sich auch auf ihren Chef freuen. Das spiegelt die Erfahrungsweisheit wider, die der Volksmund in Worte gefasst hat: „Wie es in den Wald hineinschallt, so schallt es auch wieder heraus.“
Was für den beruflichen Bereich gilt, gilt noch mehr für das Miteinander im privaten-persönlichen Bereich – und auch für den Umgang in den sonstigen Lebensfeldern des Alltags. Ob Ehefrau/Ehemann, Partner/in, Kinder, Verwandte, Freunde, die Kassiererin im Supermarkt, der für seinen Verein engagierte Vorsitzende usw.: Es fördert das Zusammenleben, das Miteinander, wenn dabei die Wertschätzung der/des anderen spürbar ist. Je dichter das Zusammenleben, je intensiver die Beziehung, desto wichtiger und wirkungsvoller ist das.
In dieser Richtung habe ich ein paar Vorschläge für die nächste Zeit:
• Nehmen Sie bewusst wahr, wie Sie bei den ganz unterschiedlichen Begegnungen mit anderen im Alltag von den anderen beschenkt werden!
• Sagen Sie Ihrer Frau / Ihrem Mann oder Partner/in, ihren Kindern und Freunden, den Menschen, die Ihnen besonders nahe stehen und wichtig sind, öfter mal, was sie Ihnen bedeuten und was an ihnen Ihnen besonders gut tut!
• Überlegen Sie einmal, was Sie tun können, damit die Menschen, denen Sie sonst begegnen, ihren eigenen Wert und ihre Würde durch die Begegnung mit Ihnen spüren können!
• Riskieren Sie einmal ein liebes Wort gegenüber z.B. der Kassiererin oder dem Busfahrer – es tut gut, wenn solche Mitmenschen dadurch konkret erleben können, dass sie und ihr Dienst gesehen werden – heißt: dass sie Ansehen haben.
Dadurch wächst und vertieft sich auch in Ihnen die entsprechende Haltung - denn sie wird ja dadurch regelrecht „trainiert“ – bis dahin, dass sie Ihnen dann in „Fleisch und Blut übergeht“, dass Sie ein durch und durch wertschätzender Mensch sind.
Jede Geste und jedes Wort der Wertschätzung werden mit Sicherheit ihre Wirkung zeigen
– davon könnte ich viel erzählen. Und umgekehrt wirkt sich alle fehlende, ausbleibende Wertschätzung auch entsprechend aus.
Christen steht es besonders gut, wenn sie eine „Kultur der Wertschätzung“ entwickeln und praktizieren. Sie ergibt sich aus der Grundeinstellung derer, die Jesus Christus nachfolgen; denn er trägt uns auf: „Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben.“ (Joh 13,34) und „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ (Mt 22,39) Darüber hinaus legt sich eine Kultur der Wertschätzung auch von daher nahe, dass wir ja in jedem Menschen Jesus Christus selbst begegnen und dass wir wissen, dass jede und jeder von uns Gottes Ebenbild ist - also gehören für uns die Einstellung und die Zeichen der Wertschätzung Gott gegenüber und den Mitmenschen gegenüber unbedingt zusammen. Gott ehren bedeutet unabdingbar auch, den Mitmenschen zu ehren.
Ich wünsche Ihnen, dass Sie eine „Kultur der Wertschätzung“ für sich in der Ihnen gemäßen Art und Weise entwickeln oder vertiefen - das wird Ihre Lebensqualität (und die Ihrer Mitmenschen!) spürbar steigern.
Mit einem herzlichen Gruß vom Speyerer Dom
Ihr
Dr. Christoph Maria Kohl
Domdekan & Domkustos
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Für die Schutzmaßnahmen gegen das Corona-Virus und für dessen Bekämpfung sind die Virologen, Epidemiologen und ähnliche Fachwissenschaftlicher unbedingt wichtig, keine Frage. Ihre Deutung der Situation und ihre Maßnahmen-Vorschläge müssen auf jeden Fall in die Gesamtbetrachtung einfließen. Doch sehe ich eine Gefahr dabei: Je mehr die naturwissenschaftliche, biologisch-medizinische Perspektive dabei dominiert oder gar ausschließlich zum Zuge kommt, desto einseitiger oder eingeengter ist die Sicht der Gesamtsituation, desto mehr bleiben andere, wichtige Kriterien und Sichtweisen außer Betracht - mit entsprechenden Folgen. Meiner Meinung nach wird zu wenig bedacht, welches Menschenbild und welche Lebens-Auffassung hinter dem faktischen Versuch der Krisenbewältigung stehen und dafür maßgeblich sind. Wenn relevante Dimensionen des Menschseins nicht entsprechend mit einbezogen werden, muss das gravierende nachteilige Folgen für die Einzelnen und die Gesellschaft haben. Dem möchte ich ein wenig nachgehen. Und es kann nur gut sein, wenn dabei auch die Frage auftaucht: Welches Menschenbild habe ich? Welches Menschenbild ist bei mir leitend für meine Wahrnehmung, mein Denken und Handeln?
Zu beobachten ist, dass die faktische Bekämpfung des Corona-Virus verschiedene ungute Folgen mit sich gebracht hat und noch bringt, die entweder in Kauf genommen oder gar nicht so richtig bedacht worden sind. Gerade während des ersten Lockdown sind viele Menschen in den Krankenhäusern einsam gestorben, weil niemand sie besuchen durfte, auch nicht die nächsten Angehörigen. In Altersheimen und zuhause sind alte Menschen durch lange Isolation vereinsamt, worunter die Lebensqualität im Alter sehr gelitten hat. Die Kinder und Jugendlichen, die nicht mehr wie sonst in die Schule gehen und Freunde treffen oder Hobbies pflegen konnten, sind zunehmend unausgeglichen und überspannt und kommen an ihre Grenzen - Kinder- und Jugendpsychotherapeuten haben alle Hände voll zu tun. Auch die Beratungsstellen für Studierende sind derzeit überlaufen: Den Studierenden setzt die rein digitale Studienweise zu, und viele sehen ihre Zukunftsperspektiven schwinden. Viele Erwachsenen sind belastet durch Homeworking (mit Homeschooling), durch fehlende Möglichkeiten zur Entspannung und zum sozial-emotionalen Ausgleich, auch durch fehlende Begegnung mit anderen und die fehlenden Möglichkeiten zum „Ausgehen“, etwa zum Essengehen oder zu Konzerten und Ausstellungen u. ä. - bei gleichzeitig größerer psychischer Beanspruchung bis hin zur Angst um die Zukunft, den Arbeitsplatz oder die berufliche Existenz.
Vor diesem Hintergrund kann ich z.B. verstehen, wenn eine Mutter ihre beiden Kinder gemeinsam mit anderen auf dem Bolzplatz herumtoben lässt, weil sie danach nicht nur ausgepowert und müde, sondern vor allem wieder ausgeglichen und „bei sich“ sind - in dieser Zeit, deren Anforderungen gerade Kinder aus dem inneren Gleichgewicht bringt. Das ist doch ein verantwortungsbewusstes Abwägen zwischen „100 Prozent Schutz vor Infektion“ (mit entsprechenden Folgen) und dem Wohl der Kinder.
Natürlich ist absolut wichtig, dass das Virus weiter eingedämmt wird, damit nicht Menschen durch es zu Tode kommen oder das Leben lahmgelegt wird. Aber angesichts der genannten und ähnlicher Folgen der derzeitigen Corona-Politik stellt sich die Frage, ob dabei alle für das Menschsein und das Zusammenleben nachhaltig wichtigen Gesichtspunkte bedacht worden sind - oder ob nicht manches zu kurz kommt, was für das Menschsein wichtig ist.
„Gesundheit“ umfasst nicht nur die körperlich-organische Gesundheit (die bei der Virus-Bekämpfung maßgeblich im Blick ist!), sondern auch die seelische, psychische Gesundheit. Und „Lebensqualität“ oder „Lebensglück“ bedingt darüber hinaus, dass der Mensch als ganzer, ganzheitlich gesehen wird, in allen Dimensionen des Menschseins und des Lebens, mit allen seinen inneren Kräften und allen Ausdrucksmöglichkeiten. Und auch die soziale Dimension ist dabei wichtig, wie es um das Zusammenleben steht, um den sozialen Frieden und Spannungen in der Gesellschaft. All das muss bei der Bekämpfung des Corona-Virus mitbedacht werden und eine Rolle spielen - wenn sie nachhaltig den Menschen und dem Leben dienen soll.
Dafür ist ein ganzheitliches Menschenbild unabdingbar, weil es dann zu humaneren Folgen führen kann. Das christliche Menschenbild ist bewusst ein ganzheitliches Menschenbild. Es integriert in sich die verschiedenen Dimensionen und Bezüge des Menschseins.
Der Mensch ist Person - Individuum, das in Beziehung und Gemeinschaft lebt. „Das Ich wird am Du“ (Martin Buber). Der Mensch ist also ein soziales Wesen. Der Mensch lebt in und aus der Beziehung mit Gott und den Mitmenschen. Dabei setzt eine gute Beziehung zum anderen voraus und ist dafür förderlich, dass jede/r sich selbst annehmen kann und eine gute Beziehung zu sich selbst, seinem Inneren hat. Zum Menschen gehören seine inneren Kräfte (Sehnsucht, Grund-Bedürfnisse, Gefühle, Wille, …) und alle seine äußeren Ausdrucksmöglichkeiten, Gestaltungsmöglichkeiten. Zu dem, was ganzheitlich gut tut, gehören z.B. Bewegung und Sport, die Musik, Kunst, Kultur, alles Schöne. Im Rahmen eines ganzheitlichen Menschenbildes hat das alles seinen wichtigen Platz, weil es zum Menschsein und zur Lebensqualität dazugehört - und es sollte deshalb auch im Leben zumindest im notwendigen Maß wirklich möglich sein.
Bei Jesus kann man in den Evangelien ablesen, was für die christliche Sicht des Menschen wichtig ist. Er sieht und fördert den Einzelnen als Individuum, z.B. seine zwölf Apostel. Er führt die Einzelnen mehr zu sich selbst, z.B. indem Zachäus mit sich versöhnt ganz anders weiterleben kann. Jesus fördert das Miteinander und die Gemeinschaft, z.B. im Jünger/innen-Kreis und indem er Aussätzige heilt, so dass sie wieder in ihre Lebensgemeinschaft zurück können. Er lässt sich gerne einladen und feiert Feste mit, weil das die Freude am Leben und die Gemeinschaft bestärkt. Er heilt „Besessene“, damit sie ihre inneren Kräfte und ihre Ausdrucksmöglichkeiten frei entfalten können. Er heilt Kranke nicht nur körperlich, sondern verhilft ihnen gleichzeitig dazu, dass ihnen von Gott her immer wieder neues Leben zufließen kann („Vergebung der Sünden“) - weil zum Menschen gehört, dass Gott für ihn die Quelle des Lebens ist.
Jede/r hat ein bestimmtes Menschenbild, das - vielleicht unbewusst - immer auch für sein Denken und Handeln maßgeblich ist. Je ganzheitlicher dieses Menschenbild ist, gerade auch das, das beim Umgang mit der Pandemie leitend ist, desto positiver wirkt sich das auf die Einzelnen und das Zusammenleben, auf die Lebensqualität im Ganzen aus. Deshalb kann es hilfreich sein, sich einmal Fragen wie den folgenden zu stellen:
• Was ist mir für mein Menschenbild wichtig?
• Was davon schlägt sich in meiner Wahrnehmung, in meinem Denken und Handeln konkret nieder? Wie wirkt es sich dabei aus?
• Was gehört vom Menschsein her unbedingt zum Leben dazu?
Im Blick auf die derzeitige Situation:
• Welche Kriterien und Maßstäbe sind für mein Verhalten im Umgang mit der Pandemie leitend? Welches Menschenbild kommt darin zum Ausdruck?
• Bekommt der/die Einzelne in allen Dimensionen des Menschseins „Nahrung“, die notwendige Erfüllung grundlegender Bedürfnisse?
• Sind bei der konkreten Corona-Bekämpfung alle wichtige Dimensionen von Gesundheit entsprechend mitbedacht?
• Inwieweit geht es dabei nur um „Überleben“ - oder ist im Blick, was der Mensch zum „Aufleben“ oder gar zum „Leben in Fülle“ (Joh 10, 10) braucht?
• Was ergibt sich für mein Menschenbild aus meinem Erleben und meiner Einschätzung der derzeitigen Situation?
Ich hoffe, dass dabei das Menschenbild, das Sie faktisch prägt und leitet und das sich auch in Ihrem Verhalten ausdrückt, bewusst und vertieft wird - und dass Sie dadurch dem „Leben in Fülle“ näher kommen und dienen können.
Das wünsche ich Ihnen von Herzen
Ihr
Dr. Christoph Maria Kohl
Domdekan & Domkustos
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Vielen Eltern beschert Corona Homeoffice samt Homeschooling - und dabei ist noch kein Ende in Sicht. Es ist ein „Härtetest“ für alle Betroffene, wenn ein oder beide Elternteile zuhause arbeiten und dabei die Kinder nicht nur betreuen müssen, sondern auch noch alles dafür tun müssen, dass das Homeschooling irgendwie klappt und Lernfortschritte erbringt. Kein Wunder, dass dabei alles Mögliche durcheinander gerät, nicht nur der sonst gut eingespielte Tagesablauf, sondern darin auch das Verhältnis von Nähe und Distanz, von außerhalb- und zuhause-Sein, von Eigeninteressen / Für-sich-Sein und Gemeinschaft/Miteinander-Sein. Aber allein schon Homeoffice und all das, was an sonst gewohnten Alltagsbeschäftigungen (Besuche, Freizeitaktivitäten, Konzerte, …) nicht oder nur ganz eingeschränkt möglich ist, bringen es mit sich, dass der Tag und die Woche(n) ihre sonst übliche Struktur verlieren. Das kann auf die Dauer das Leben erheblich erschweren. Denn ein guter Rhythmus und eine hilfreiche (Tages-)Struktur sind eine wichtige Stütze im Leben - es kann nur gut sein, darauf gerade auch in der Corona-Zeit zu achten.
Nicht umsonst gibt es so etwas wie „Klosterauszeit für Manager“, zu der v.a. Benediktinerabteien einladen, oder „Klostertage für Führungskräfte“, die sogar von einer Akademie für Führungskräfte angeboten werden. Die großen Orden haben in ihrer Ordensregel und in ihrem Alltagsleben eine jahrhundertelange Erfahrung, wie man mit einem guten Rhythmus und einer förderlichen Tagesstruktur lebt. Das kann man von ihnen und bei ihnen gut lernen.
Rhythmen gehören zur Schöpfung von vornherein dazu. Tag und Nacht, Morgen und Abend, Wachen und Schlafen, die Jahreszeiten - all das ist der Schöpfung, der Natur eingestiftet - das Leben vollzieht sich in Rhythmen.
Und wir sind Teil der Schöpfung - und sind deshalb gut beraten, diese Rhythmen, in die wir eingebettet sind und auf die wir angewiesen sind, zu beachten und uns in sie einzuschmiegen. Leib, Geist und Seele werden es uns danken. Andererseits: Wer gegen diese Rhythmen lebt, der bekommt das entsprechend negativ zu spüren.
Wir brauchen einen guten Rhythmus von Wachsein und Schlafen, Arbeit und Erholung, Anspannung und Entspannung, Zeit für sich und Zeit miteinander, auch einen gewissen Rhythmus, was unsere Mahlzeiten angeht. Der Körper lebt im Februar anders als im Juni, morgens um sechs anders als am Abend. Auch der Geist braucht immer wieder Pausen, sonst leiden die Schaffenskraft und die Kreativität. Der entsprechende Rhythmus und eine gute Tagesstruktur sind keine unnötige Festlegung und Einengung; im Gegenteil: Sie geben Halt und setzen Kräfte frei.
„Ora et labora (Gebet und Arbeit)“ ist der Grundrhythmus des Lebens nach der Regel des heiligen Benedikt. Vor allem Gebet und Arbeit strukturieren den Tag in einer Benediktinerabtei. Wenn die Mönche bis zu sieben Mal am Tag zum Gottesdienst (kirchliches Stundengebet wie Laudes, Vesper und Komplet = Gebet am Morgen, Abend und zu Beginn der Nacht; Eucharistiefeier) zusammenkommen, dann praktizieren sie etwas, was auch uns gut tun kann: Sie unterbrechen die sonstigen Alltagsbeschäftigungen, die Arbeit, und halten inne. So gewinnen sie immer wieder einen guten inneren Abstand zu dem, was sich aufdrängen und was einen in Beschlag nehmen, ja innerlich gefangen nehmen könnte. Wenn es auch uns gelingt, da immer wieder „rauszukommen“, dann gewinnen wir an innerer Freiheit.
Zudem bringt es eine solche rhythmisierte Tages- und Wochenstruktur mit sich, dass all das, was Lebens-wichtig, Lebensnot-wendig ist, fast automatisch seinen guten Platz im gewohnten, festgelegten Ablauf hat. Ich kann meinen Rhythmus, die für mich / uns passende Struktur, so gestalten, dass dabei alles, was mir wichtig ist, darin vorkommt und in einem guten Verhältnis zueinander ist, das rechte Maß hat. Es ist auch Kräfte-schonend, wenn ich nicht jeden Morgen „den Tag neu erfinden muss“, sondern auf Bahnen gehen kann, die gut tun und die sich bewährt haben. Wer im richtigen Rhythmus lebt, der bekommt dadurch auch die Kraft und die Freiheit, einmal bewusst davon abzuweichen, wenn die Umstände es erfordern.
Damit wir uns in diesem Sinne gerade in der Corona-Zeit die Vorteile von Rhythmus und (Tages-)Struktur zu eigen und zunutze machen können, hätte ich ein paar Vorschläge und Leitfragen:
• Wo und wann in Ihrem Leben haben Sie schon einmal das Hilfreiche von Rhythmus und Tagesstruktur / Wochenstruktur besonders stark erlebt? Was hat Ihnen da besonders gut getan?
• Haben Sie „Ihren Rhythmus“ und „Ihre Tagesstruktur“ gefunden? Was zumindest hat sich da als hilfreich für Sie (und Ihre Partner/in / Familie) herauskristallisiert?
• Wie steht es derzeit darum? Hat sich in der Corona-Zeit diesbezüglich etwas verändert? Was ist womöglich neu oder anders nötig, damit Rhythmus und Struktur Ihr Leben unter Corona-Bedingungen erleichtern und bereichern können?
• (Wie) pflegen Sie tagsüber und in der Woche / im Monat die Aspekte „unterbrechen“ - „innehalten“ - „(äußeren und inneren) Abstand gewinnen“ - „zur Ruhe kommen“?
• Haben dabei auch Gebet, Meditation, Tagesrückblick und Gottesdienst ihren Platz?
So wünsche ich Ihnen, dass Sie auf der Spur dieser Erfahrungen und Anregungen gerade in diesen Zeiten Lebensrhythmus und -struktur neu in ihrem Wert vertieft entdecken und für Ihren Alltag fruchtbar machen können.
Mit einem herzlichen Gruß
Ihr
Dr. Christoph Maria Kohl
Domdekan & Domkustos
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„Friede sei mit euch!“ - das ist das Erste, was Jesus Christus seinen Jüngern wünscht, als er als Auferstandener wieder zu ihnen kommt (Joh 20, 19.21.26). Das ist kein Zufall - denn Frieden ist ein zentrales Lebensthema. Und wie wichtig es ist, das kommt in der Corona-Zeit besonders gut heraus, in der ja alle existenziellen Fragen hochgespült werden und alles, was wirklich lebensnotwendig ist, in seiner Bedeutung aufleuchtet. Der Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts.
Das Thema „Frieden“ hat verschiedene Dimensionen:
• Weltfrieden, Frieden zwischen zwei Völkern
• sozialer Frieden in der Gesellschaft
• Frieden zwischen verschiedenartigen Gruppierungen
• Frieden in der Familie, im Verein, am Arbeitsplatz
• Frieden zwischen mir und den Mitmenschen
• der innere Friede (in mir selbst)
• zufrieden sein
• Friede zwischen Mensch und Schöpfung (statt Ausbeutung und Zerstörung)
Dabei ist Frieden kein Zustand, sondern etwas sehr Dynamisches, ein Weg, ein Prozess - etwas, das je neu der Aufmerksamkeit und des (gemeinsamen) Einsatzes bedarf.
Das gilt in Corona-Zeiten umso mehr. Denn die Pandemie gefährdet den Frieden auf den verschiedenen Ebenen zusätzlich. Viele ärmere Länder werden jetzt noch ärmer, weil sie wirtschaftlich niedergehen, weil noch mehr Menschen ihr Leben unterhalb des Existenzminimums fristen müssen und sich nicht vor dem Virus schützen können - und diese Verzweiflung kann dem Weltfrieden auf verschiedene Weise zusetzen. In unserer Gesellschaft verstärkt Corona so manche Spaltungen und Konflikte, die es vorher schon gab. Und auch der eigene innere Frieden ist bei vielen „angekratzt“, weil das Leben unter den Corona-Einschränkungen und mit den absehbaren Folgen der Pandemie ihnen seelisch zusetzt. Kein Wunder, wenn z.B. manche junge Menschen ihre guten Zukunftsaussichten schwinden sehen.
Da tut besonders gut, dass Ostern den Frieden in den Blick rückt - als das, was der auferstandene Jesus Christus als Allererstes den Seinen gibt. Dieser Friede ist eine Frucht der Auferstehung. Angekündigt hat ihn Jesus schon früher, bei seinen Abschiedsreden an die Jünger: „Frieden hinterlasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch; nicht, wie die Welt ihn gibt, gebe ich ihn euch. Euer Herz beunruhige sich nicht und verzage nicht“ (Joh 14,27). Weil dieses Geschenk Jesu so wichtig für uns ist, wird es uns in jeder Messfeier von neuem zugesagt - beim Friedensgruß, der in der Messe einen zentralen Platz hat, zwischen der Wandlung und dem Kommunionempfang. Dort werden diese Worte Jesu zitiert und uns in unsere aktuelle Situation hinein zugesprochen.
Auffällig dabei ist der Teilsatz: „nicht, wie die Welt ihn gibt, gebe ich ihn euch“. Was macht da den Unterschied aus? Was ist das Spezielle, das „Plus“, das den Frieden auszeichnet, den Jesus Christus bringt?
Er sagt ja ausdrücklich: „Meinen Frieden gebe ich euch“. Dieser Frieden ist also „sein“; er hängt mit ihm zusammen und geht von ihm aus. Im Alten Testament ist einer der Namen für den erhofften Retter-Messias „Friedefürst“. Und in den Briefen des Neuen Testaments ist die Glaubenserfahrung der frühen Christen festgehalten: „ER ist unser Friede“ (Eph 2, 14). Das bedeutet genau genommen: ER, Jesus Christus selbst als Person IST dieser Friede. Und das wiederum hat zur Folge: Je mehr jemand in der inneren Verbindung mit Jesus Christus und daraus lebt, desto mehr lebt er in und aus diesem Frieden, den Jesus ihm schenkt. Wer - wie z.B. der Apostel Paulus sagt - „in Jesus lebt“, der lebt „im Frieden“. Der Glaube, das Sich-hineinvertiefen in Jesus Christus, schenkt inneren Frieden. Und wer diesen inneren Frieden in sich spürt und davon erfüllt ist, der kann dann als „friedvoller Mensch“ auch in seinem täglichen Leben jemand sein, von dem Friede ausgeht - indem er einfach von ihm ausstrahlt und in seinem Denken und Handeln wirksam wird.
So schenkt Jesus Christus, der als Auferstandener uns nahe ist und uns mit seinem Geist beflügelt, inneren Frieden - und der ist die Quelle dafür, dass der Friede im Leben Kreise ziehen kann, dass das Reich Gottes als Reich des Friedens um uns herum weiterwachsen kann.
Uns so von seinem Frieden erfüllen zu lassen und ihn weiter zu verbreiten - das ist Geschenk und Auftrag, „Gabe und Aufgabe“ für uns als Christen. Der Friede ist nicht etwas, das man für sich hat und womit man es sich gut gehen lassen kann. Schon in der ersten Osterbegegnung der Jünger mit dem Auferstandenen wird das klar: „ Jesus sagte noch einmal zu ihnen: ‚Friede sei mit euch! Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch‘ (Joh 20, 21).“ Frieden ist die Sendung Jesu in der Welt und für sie, und Friede ist als seine Gabe an uns unsere Sendung in unserem alltäglichen Leben.
Das gelingt umso leichter und wirksamer, je mehr jede und jeder von uns von innerem Frieden erfüllt ist. Und die Quelle dafür ist, dass sie oder er sich von Jesus Christus als unserem Frieden erfüllen lässt.
Dass Sie das erfahren und auf diesem Weg des Friedens weitergeführt werden, das wünsche ich Ihnen für die nächsten Wochen der Osterzeit
mit einem herzlichen Gruß
Ihr
Dr. ChristophMaria Kohl
Domdekan & Domkustos
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Die Einschränkungen und Veränderungen unseres Lebens, die das Corona-Virus mit sich bringt, machen vielen das Herz schwer und lasten auf der Seele. Zumal langsam dämmert, dass die Pandemie auf verschiedenen Ebenen langfristige Folgen haben wird und dass nicht mehr alles so „normal“ werden wird, wie wir es von vorher gewohnt waren. Und es ist immer öfter davon die Rede, dass die Corona-Situation bei vielen auch die seelische Gesundheit in Mitleidenschaft zieht. Wie können wir gut mit dem umgehen, was uns „runterziehen“ kann?
Es gibt da ein hilfreiches Vorbild in den Ostererzählungen der Bibel, nämlich die Begegnung mit dem Auferstandenen auf dem Weg nach Emmaus (Lk 24, 13-35). Da gehen zwei Jünger Jesu total enttäuscht von Jerusalem zurück nach Hause, in ihr altes Leben. Sie hatten auf Jesus gesetzt und gehofft, dass er ihnen neue, bessere Lebensperspektiven eröffnet – und dann war er die große Enttäuschung ihres Lebens: Er war tot, alles war aus. Und so schleichen sie als geknickte Gestalten (in manchen Bildern davon ausdrucksstark dargestellt) in ihren grauen Alltag zurück. Dabei haben sie aber noch die Kraft, miteinander über das zu reden, was sie erlebt haben, wie das wohl zu verstehen sei und „was das mit ihnen macht“. Sie fassen ihre verblichenen Hoffnungen und ihre Enttäuschung ins Wort und tauschen sie aus. Allein das hat ihnen sicherlich schon gut getan – auch wenn sich dadurch noch keine neue Perspektive für sie eröffnet.
Genau das aber ereignet sich im weiteren Verlauf ihres Gesprächs. Da kommt ein Dritter hinzu und geht mit ihnen; er mischt sich einfach so unter sie und mischt sich ein – er nimmt den Faden ihres Gesprächs auf und öffnet ihnen die Augen für das, was sie in ihrer Trauer und Depression gar nicht sehen konnten, und für das, was über ihre Vorstellungskraft hinausging. Der unerwartete Begleiter geht so auf sie ein und ergänzt ihre je eigene Sichtweise derart, dass die beiden immer mehr „die ganze Wirklichkeit“ erkennen; dass ihnen aufgeht, was mit Jesus wirklich passiert ist und was seine Auferstehung für ihr persönliches Leben bedeutet.
Die beiden sind wohl so sehr im Bann dessen, was ihr Begleiter ihnen verdeutlicht, dass sie gar nicht überlegen, wer das wohl ist. Da er ihnen aber unendlich gut tut, ist es nur allzu verständlich, dass sie ihn am Ende ihres Weges, zuhause, als es Abend geworden ist, einladen, er möge doch bitte als ihr Gast bei ihnen bleiben. Er nimmt ihre Einladung an. Und als sie dann zu Abend essen, nimmt er das Brot, spricht den Lobpreis darüber und gibt es ihnen. „Da gingen ihnen die Augen auf und sie erkannten ihn“ (Lk 24, 31): Sie erkannten, dass es Jesus Christus war, der zu ihnen in ihrer Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung gekommen ist und sie aufgerichtet hat – durch das, was er ihnen an neuer Erkenntnis und damit neuer Lebensperspektive geschenkt hat. Und dann auch durch das Brot, das er ihnen gab – das sie an das Letzte Abendmahl erinnert hat und an seine Zusage, dass er sich ihnen im Brot schenken möchte, damit sein Geist sie erfüllt, damit sie ihm nachfolgen können, damit sie wie er in Gottvertrauen mit neuer Hoffnung und Kraft so leben können, wie er es getan hat, als Menschen voller Liebe, die ihr Leben für andere einsetzen – und gerade dadurch Erfüllung finden. Jetzt erkennen sie, dass es Jesus ist, der sich zu ihnen gesellt hat. Er hat ihnen also doch für ihr Leben die erhoffte neue Perspektive, ein für alles tragfähiges Fundament und ein lohnendes Ziel geschenkt – dafür hat er ihnen die Augen geöffnet. Davon sind sie nun einfach überwältigt. Kein Wunder, dass die beiden Emmaus-Jünger dann auf der Stelle, durch die Nacht, nach Jerusalem zurückgerannt sind und dort den Jüngern freudestrahlend vorgeschwärmt haben, was sie erlebt haben. Und dann können sie mit einem neuen Lebensgefühl nach vorne schauen – ganz anders, als es ihnen vor ihrem Gespräch und ihrer Begegnung mit dem geheimnisvollen Dritten, mit dem auferstandenen Jesus Christus ging.
„Geheimnisvoll“ deshalb, weil sie ihn ja im Gespräch selbst gar nicht erkannt hatten, erst beim abendlichen Brotbrechen, der Eucharistie, seinem ausdrücklichen Erkennungszeichen. Alle Erscheinungen des Auferstandenen, alle seine Begegnungen mit seinen Jüngerinnen und Jüngern haben etwas Geheimnisvolles an sich. Der Auferstandene ist nicht genauso da wie vor seinem Tod; er gibt sich meist selbst von sich aus zu erkennen, damit die Seinen die Gewissheit haben, dass er es ist und dass er bei ihnen ist – „alle Tage bis zum Ende der Welt“ (Mt 28, 20).
Das bedeutet aber auch, dass Jesus Christus als Auferstandener bei uns ist und unter uns wirkt, aber dass wir das womöglich nicht unmittelbar so wahrnehmen und erkennen. Jesus ist als Auferstandener unter uns gegenwärtig und „mischt sich ein“ - und steht uns bei wie bei den Emmaus-Jüngern, gerade auch dann, wenn es uns nicht gut geht - auch ohne dass uns das vielleicht als solches direkt bewusst ist.
Bei den Emmaus-Jüngern war die Voraussetzung dafür, dass Jesus ihrem Gespräch eine unerwartet neue Wendung geben konnte, die Tatsache, dass sie sich einander geöffnet und ihre innere Not erzählt haben. Sie sind „aus sich herausgegangen“, haben ihre existenziellen Fragen und Enttäuschungen in Worte gefasst - und haben sie einander mit-geteilt. In diesen ihren persönlichen Austausch hat der Auferstandene hineingewirkt und ihnen das Erlebte (aus der Heiligen Schrift) gedeutet und den Horizont für „das Ganze“ geweitet – auf den Hoffnungshorizont Gottes für uns hin. So wirkt der Auferstandene offensichtlich – und zwar nicht nur damals, sondern auch heute.
Damit er so auch bei uns, bei Ihnen und bei mir, wirken kann, könnten wir es ja genauso machen wie die Emmaus-Jünger. Mein Vorschlag: Nehmen Sie sich mal Zeit dafür, in sich hinein zu spüren, welche Gefühle, innere Regungen und welche Grundstimmung derzeit – gerade auch bedingt durch die Corona-Situation – in Ihnen sich zeigen. Je unmittelbarer und spontaner diese Wahrnehmung ist, desto „ehrlicher“ und aussagekräftiger ist sie in der Regel auch. Und sprechen Sie dann über das, was Ihnen dabei aufgegangen ist, mit einem Ihnen nahen, vertrauten Menschen, dem Sie sich öffnen können – soweit es je nach Beziehung möglich ist. Machen Sie ihrem Herzen Luft, wie man so schön sagt. Dann ist zum einen das, was Sie innerlich beschäftigt und auch niederdrücken kann, „raus“ – es tut gut, sich das „von der Seele zu reden“. Und wenn Sie dafür ein offenes Ohr und ein offenes Herz gefunden haben, dann tut gut, dass ein lieber Mitmensch das mitweiß und mitträgt, was in Ihnen ist und Ihnen womöglich zusetzt. Und warum sollte es bei diesem persönlichen Miteinander-Teilen nicht auch wie bei den Emmaus-Jüngern möglich sein und passieren, dass der Auferstandene Sie im Gespräch mit seinem Geist erfüllt und weiterführt zu neuen Erkenntnissen und neuer Hoffnung? Jedenfalls gilt doch – wie die Emmaus-Erzählung zeigt –gerade für eine solche persönliche Begegnung im Austausch die Zusage Jesu: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.“ Und dadurch kann er Sie wie seine Jünger „zu neuen Ufern führen“, neue Hoffnung und Lebensperspektiven schenken.
Warum sollen nicht auch Sie dabei die Erfahrungen der Emmaus-Jünger machen können, die das Lied im Gotteslob Nr. 325 widerspiegelt?!:
„Bleibe bei uns, du Wandrer durch die Zeit!
Schon sinkt die Welt in Nacht und Dunkelheit.
Geh nicht vorüber, kehre bei uns ein.
Sei unser Gast und teile Brot und Wein.
Weit war der Weg. Wir flohen fort vom Kreuz.
Doch du, Verlor‘ner, führtest uns bereits.
Brennt nicht in uns ein Feuer, wenn du sprichst
Zeige dich, wenn du nun das Brot mit uns brichst.
Weihe uns ganz in dein Geheimnis ein.
Lass uns dich sehn im letzten Abendschein.
Herr, deine Herrlichkeit erkennen wir.
Lebend und sterbend bleiben wir in dir.“
Solche Emmaus-Erfahrungen, erst recht im persönlichen Gespräch mit anderen,
wünsche ich Ihnen für die weitere Osterzeit –
mit einem herzlichen Gruß
Ihr
Dr. Christoph Maria Kohl
Domdekan & Domkustos
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„Das Leben ist ein Kampf.“ - das wird öfter gesagt, wenn jemand gerade wieder einmal eine entsprechende Erfahrung gemacht hat. Wir „kämpfen“ manchmal mit uns selbst, mit unserem Inneren; mit einem Mitmenschen, mit dem wir uns schwer tun oder der uns anfeindet; mit einer Aufgabe, die wir schier nicht lösen können; mit gravierenden Lebensproblemen; manchmal auch wie Jakob oder Hiob mit Gott. Von daher kommen manche zu dem Schluss: „Das Leben ist ein einziger Kampf.“ - bedeutet: sehr anstrengend, durch und durch voller widriger, problematischer Gegebenheiten. Eine solche Erfahrung oder Deutung macht das Leben nicht gerade einfacher … Auch die Corona-Zeit kann uns dazu verführen, das Leben so zu sehen.
„Ja, das Leben ist ein Kampf. Ein Kampf zwischen Leben und Tod - aber mit klarem Ausgang. Dieser Kampf ist von Jesus Christus her schon längst für uns ausgestanden.“ Diese Überzeugung spiegelt die Bach-Kantate „Christ lag in Todesbanden“ wider, die Johann Sebastian Bach mit dem Text eines Luther-Liedes für den Ersten Ostertag komponiert hat, ja, sie spielt sie uns zu - damit wir sie uns zu eigen machen und erlöst leben können.
(Text: http://www.emmanuelmusic.org/notes_translations/translations_cantata/t_bwv004.htm; Aufnahme: https://youtu.be/IDMYl0YjCn0)
Die Kantate besingt die Auferstehung Jesu Christi - besser gesagt, den Auferstandenen und das, was er für uns getan hat. Die „Todesbande“ sind gesprengt, überwunden - mit der Konsequenz: Das Leben hat ein für allemal über den Tod gesiegt. In den Worten der Kantate: „Es war ein wunderlicher Krieg, da Tod und Leben rungen; das Leben behielt den Sieg, es hat den Tod verschlungen.“
Um das zu verdeutlichen, spricht die Kantate vom Kampf Leben - Tod. Nach dem Vorbild der Oster-Sequenz, in der es heißt: „Mors et vita duello conflixere mirando / Tod und Leben, die kämpften einen unbegreiflichen Zweikampf.“ Oder wie es ein bekanntes Lied formuliert: „Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen.“
Das ist kein frommes Gesäusel; das sind keine formelhaften, inhaltsleeren Worte. Das ist eine Wirklichkeit; das können wir erfahren, jeden Tag neu. Nicht nur, dass wir sterblich sind, dass das Leben in den Tod einmündet, sondern, dass Todesmächte ins Leben hineinwirken: Wir können „jemandem das Leben zur Hölle machen“ - der dann womöglich sagt „Du bringst mich noch ins Grab“. Es gibt Tödliches in unserem Leben. Wir können einem Mitmenschen „einen Stich ins Herz“ versetzen - durch Worte, durch unser Verhalten. Wir können jemandem den sozialen Tod bereiten - auch ohne ihn körperlich umzubringen. Wir können durch unsere Einstellung, durch unser Verhalten die Lebensqualität eines Mitmenschen entscheidend beeinträchtigen. Die Mächte des Bösen können unser Leben schädigen oder gar zunichtemachen. Innere Zwänge und Ängste können einem Menschen die Lebenskraft rauben. Wer um sich selbst kreist und nur auf sich bedacht ist, der schädigt sich selbst und andere; der katapultiert sich raus aus dem Strom des Lebens - aus der Gemeinschaft, die ihn trägt und ihn zu sich selbst bringen könnte.
Bei alldem spielt, wie auch die Kantate deutlich macht, die Sünde eine Rolle. Das Wort „Sünde“ kommt vom althochdeutschen „suntea“ und bedeutet von daher „Trennung / Trennendes“. Sünde in diesem Sinn ist alles, was den Lebensfluss von Gott her hemmt und unterbricht; was das gute Miteinander stört und kaputt macht; was einen Menschen innerlich blockiert, so dass er keinen Zugang zu seiner eigenen Mitte hat. Sünde ist das, was trennend dasteht zwischen mir und Gott, zwischen mir und meinen Mitmenschen, zwischen mir und meinem eigenen Inneren.
So gesehen ist der „Sünder“ ein „homo in se incorvatus“ (ein in sich verkrümmter Mensch); einer, der um sich selbst kreist und in sich verschlossen, „zu“ ist; einer, der ganz auf das Eigene bedacht ist und auf sich selbst fixiert ist; jemand, den die Angst um sich selbst im Griff hat, die Angst, zu kurz zu kommen.
Die Folge davon: Der andere, die Schöpfung wird für sich selbst eingespannt und instrumentalisiert - also missachtet und missbraucht. Der Weg dahin beginnt mit lieblosem, wenig achtsamem Verhalten in verschiedenen Variationen.
Dadurch, durch solches sündiges Verhalten, kommt der Tod, kommt Lebenszerstörerisches in unser Leben. Und der Kampf zwischen Leben und Tod offenbart das, was Sünde ist: Liebloses, sündiges Verhalten bringt das Tödliche in unser Leben. In den Worten der Kantate: Die Sünde bringt so den Tod.
Diesen Kampf zwischen Leben und Tod, verursacht durch die Sünde, den spiegelt die Kantate wider - und sie besingt den Sieg des Lebens über den Tod, über alles Lebensfeindliche. Sie besingt ihn als den Sieg Jesu Christi durch seine Auferstehung.
Jesus Christus - sein Sterben, sein Tod am Kreuz und seine Auferstehung bedeuten:
• Die Mächte des Bösen haben nicht das letzte Wort.
• Jesus Christus durchbricht den Kreislauf der Gewalt - durch seine Liebe bis zum Äußersten, bis zum Tod, durch die Hingabe, die er konsequent lebt.
• Der Tod ist nicht das Ende.
• Gott schafft aus dem Tod einen neuen Anfang.
• Erlösung bedeutet: Die Todesmächte haben keine Macht mehr über uns.
• Gott offenbart in der Auferstehung Jesu, dass die Liebe stärker ist als der Tod, stärker als alles, was das Leben beeinträchtigen kann.
Gott bestätigt damit, dass Jesus Recht hatte mit seinem Lebensentwurf: Wer das Gegenteil von „Sünde“ lebt; wer nicht um sich selbst kreist und nicht auf sich bedacht ist; wer in Liebe lebt, sein Leben für andere einsetzt und so Hingabe lebt - der wird beglückend erfahren, was Leben bedeutet, der hat ein erfülltes Leben: jetzt schon - und dann nach dem leiblichen Tod vollendet bei Gott.
Wer so lebt, der ist das Gegenteil von einem Sünder. Wer so lebt, der ist ein österlicher Mensch - das ist unsere Bestimmung, das ist unsere Chance. Das will Jesus Christus uns schenken, aus uns machen.
Der Auferstandene bringt die Auferstehung in unser Leben - mitten hinein in allen Kampf zwischen Leben und Tod. Das besingt die Kantate:
„So feiern wir das hohe Fest
Mit Herzensfreud und Wonne,
Das uns der Herre scheinen läßt,
Er ist selber die Sonne,
Der durch seiner Gnade Glanz
Erleuchtet unsre Herzen ganz,
Der Sünden Nacht ist verschwunden.
Halleluja!“
Dass Sie ein solch österlicher Mensch werden,
dass Sie bei allem „Kampf“ im Alltag auf den „Sieg des Lebens“ vertrauen und ihn immer wieder neu erleben -
das wünsche ich Ihnen von Herzen!
Ihr
Dr. Christoph Maria Kohl
Domdekan & Domkustos
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Wieder, ein zweites Mal feiern wir Ostern unter Corona-Bedingungen. Mit spürbaren Einschränkungen statt mit kleineren oder größeren Freiheiten für unseren Alltag. Das tut an den Ostertagen besonders weh. Nicht nur, weil wir auf etwas „Luft“, mehr Normalität rund um Ostern gehofft haben, sondern weil die auferlegten Beschränkungen gerade zu Ostern als dem „Fest der Entgrenzung des Lebens“ so gar nicht zu passen scheinen.
Vor diesem Hintergrund ist das, was das Osterfest mitten in die Corona-Situation hinein zu sagen und uns zu geben hat, umso wichtiger. Zu dieser aktuellen Botschaft von Ostern sind mir mehrere Aspekte eingefallen.
1.
Gott ist offensichtlich für Überraschungen gut – er hat die Jünger Jesu nach seinem Tod „aus dem Konzept gebracht“ und eines Besseren belehrt. Die Begegnungen der Apostel mit dem Auferstandenen und am deutlichsten die Geschichte von den Emmaus-Jüngern (Lk 24,1-35) zeigen: Mit dem Tod Jesu war für die Jünger alles aus. Sie waren in ihrer Hoffnung auf Jesus enttäuscht worden; sie gingen jetzt davon aus, dass sie auf den Falschen gesetzt hatten und dass nach dem Karfreitag alles wieder so ist „wie vorher“. Das „Kapitel Jesus“ in ihrem Leben, ja Jesus selbst war quasi „abgehakt“. Da aber hat Gott sie dann gründlich überrascht – dadurch, dass er Jesus auferweckt hat; dadurch, dass es mit ihm nicht nur nicht „aus war“, sondern dass er durch seine Auferstehung die Macht des Bösen und die Grenzen des Lebens für immer und ewig gesprengt hat. Und dadurch ging auch das Leben der Jüngerinnen und Jünger anders weiter, als sie gedacht hatten. Gott hat ihr Lebenskonzept aufgesprengt, geweitet.
Ostern demonstriert uns, dass Gott für Überraschungen gut ist – und dass es für uns gut ist, wenn wir damit rechnen, dass Gott uns (immer wieder neu) überrascht. Denn Gott hat mehr Möglichkeiten, als wir denken, – und er ist sehr erfinderisch darin, wie er uns Leben zuspielt. Lassen wir uns also von Gott überraschen!
2.
Die Auferstehung Jesu macht deutlich, dass Gott stärker ist als der Tod und als alle Todesmächte in unserem Leben, als das Böse und alles, was uns und unser Leben einschnüren und zunichte machen kann. Gott erweist sich in der Auferweckung Jesu als der Gott der Liebe und des Lebens, der allem Lebensfeindlichen seine Macht über uns nimmt und die Grenzen des Lebens niederreißt. Wir können in der Hoffnung leben, dass das Leben stärker ist als der Tod und stärker als alles, was uns äußerlich und innerlich in unseren Lebensmöglichkeiten begrenzt – weil Gott die Quelle des Lebens ist und weil ER uns durch die Auferstehung Jesu Christi an diesem seinem Leben teilhaben lässt, uns so etwas wie eine neue „göttliche Lebensqualität“ schenkt. Dadurch kann unser Leben ein „Spiel ohne Grenzen“ werden.
3.
Das bedeutet, dass durch die Auferweckung Jesu auch für uns nicht mit dem Tod alles aus ist. Auch wenn wir alle sterben müssen – der Auferstandene hat uns den Weg gebahnt und nimmt uns mit hinein in die Ewigkeit Gottes. Unser Leben, Ihr und mein je eigenes Leben ist nicht mit dem Tod vorbei, sondern wird bei Gott vollendet. Gott möchte jede und jeden von uns von aller äußeren und inneren Begrenztheit befreien und in uns das „zur Auferstehung bringen“, was im irdischen Leben sich nicht entfalten konnte oder jenseits unserer Vorstellung von uns selbst war.
4.
Das ist aber keine billige Vertröstung auf das Jenseits (Karl Marx: „Religion als Opium für das Volk.“) Denn die Kraft der Auferstehung kommt nicht erst nach unserem leiblichen Tod zur Geltung. Denn offensichtlich wirkt der Auferstandene mit seinen göttlichen Lebensmöglichkeiten „direkt“ nach seiner Auferweckung, also „ab sofort“ in das Leben der Menschen hinein, damals und heute. Und das „Ewige Leben“, das, was Gott aus dem Leben machen kann und will, das gilt „ab sofort“: „Wer glaubt, hat das Ewige Leben“, sagt Jesus im Johannesevangelium (Joh 6, 47). Wenn wir an Jesus, den Auferstandenen, glauben; wenn wir auf den Gott des Lebens vertrauen – dann kann er „bei uns loslegen“, kann das, was Auferstehung bedeutet, uns und unser Leben verwandeln. Die Auferstehung Jesu lässt unser Leben in einem ganz neuen Licht erscheinen. Und im Horizont der Auferstehung leben, – das kann ungeahnte Kräfte wecken und die eigene innere Freiheit enorm wachsen lassen – weil wir eben mit den Möglichkeiten Gottes mit uns rechnen können, mitten im Hier und Heute, mitten in unserem Alltag.
5.
Das können wir tagtäglich erleben. Ich habe während dieser Karwoche schon mindestens dreimal solche Ostererfahrungen geschenkt bekommen – nicht im Gottesdienst, sondern im Leben, im Alltag.
Am Dienstagabend haben wir (Corona-konform) eine Messe im kleinen Kreis gefeiert. Mit einem Bibelgespräch statt einer Predigt. Der Austausch zu siebt über das zunächst etwas sperrig wirkende Tagesevangelium (Joh 13, 21-38) entwickelte sich so tiefgehend und fruchtbar, dass am Ende alle Themen der Karwoche darin aufgeleuchtet sind und schon das Österliche aufleuchtete. Durch das, was dabei an Botschaft für unser Leben herauskam, war für die meisten irgendwie schon fast Ostern. Gott überrascht uns in seinem Wort - und schenkt uns unerwartet Auferstehung.
Am Gründonnerstag hatte ich nachmittags ein Geistliches Begleitgespräch. Und auch darin hat Gott mir „Früchte der Auferstehung“ zugespielt. Dem Begleiteten ist in den vergangenen Wochen deutlich bewusst geworden, wie Gott ihn ganz konkret zu neuen Lebensmöglichkeiten geführt hat. Dass alte Ängste ihre Macht über ihn verloren haben. Dass das „Ja“, das Gott zu ihm immer schon gesprochen hat, ihn dazu befähigt, zu sich selbst „Ja“ zu sagen, ganz konkret: Er kann im Alltag besser zu sich stehen; er wächst an Selbstbewusstsein und innerer Sicherheit und Freiheit; er entdeckt dadurch neue Seiten an sich selbst und am Leben – und entfaltet viel besser das in sich, was Gott in ihm angelegt hat. Seine Freude am Leben ist enorm gestiegen. Auch das sind Ostererfahrungen.
Am Karfreitag habe ich mit einer Frau telefoniert, die ich schon seit ihrer Jugendzeit kenne; es ist etwas sehr Schönes, dass ich sie und ihre Familie auf ihrem Weg begleiten darf. Nun hat sie sich (wohl im Beruf) mit der britischen Mutation von Corona angesteckt – und dann sind nach und nach ihr Mann und alle drei Kinder daran erkrankt, mit heftigen Symptomen. Es war für mich erschütternd und bewegend, was sie mir von ihren vergangenen zehn Tagen erzählt hat. Wie sie selbst von den gravierenden körperlichen Auswirkungen der Corona-Erkrankung am Ende ihrer Kräfte war – und doch alles zuhause (alle fünf in Quarantäne, sie und ihr Mann darin nochmals isoliert von den Kindern!) gemanagt hat, ja – in meinen Augen – die Situation unwahrscheinlich gut bewältigt hat. Sie ist dabei, wie man so schön sagt, „über sich selbst hinausgewachsen“. Aber das ist ihr erst im Gespräch bewusst geworden. Gott hat die bisherigen Grenzen ihrer Kraft und ihrer Fähigkeiten enorm ausgeweitet, mitten in der Not und Bedrängnis – auch das ist eine österliche Erfahrung.
Eine solche Erfahrung verdichtet sich im Psalm 30 (und in manchen anderen Psalmen) – wenn Sie möchten, lesen Sie ihn einmal durch, beten Sie ihn, damit diese österliche Grundhaltung, die Melodie der Erlösung, die er widerspiegelt, auch Sie berührt und innerlich ergreift: „Da hast du mein Klagen in Tanzen verwandelt, hast mir das Trauergewand ausgezogen und mich mit Freude umgürtet.“
Ich wünsche Ihnen zu Ostern solche Erfahrungen von Auferstehung mitten im Leben – und die Hoffnung auf den Gott des Lebens und seine grenzenlosen Möglichkeiten, die er mit Ihnen und mit mir hat –
mit einem herzlichen Gruß
Ihr
Dr. Christoph Maria Kohl
Domdekan & Domkustos
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Die Corona-Lage dauert nicht nur weiter an, sondern verschärft sich noch. Statt einem kleinen Aufatmen mit Osterurlaub oder Besuchen gibt es weitere Beschränkungen unseres Lebens. Kein Wunder, dass sich da bei vielen vermehrt doch „Moll-Töne“ in die Lebensmelodie mischen. Und mitten in dieser beschwerlichen Situation feiern wir die Karwoche und Ostern, feiern wir die Vollendung des Lebens Jesu in seiner Lebenshingabe am Kreuz und in seiner Auferweckung. Und das kann uns gerade jetzt gut tun und neue Hoffnung und Kraft geben.
Der Palmsonntag ist gleichsam die Ouvertüre der Karwoche. In einer guten Ouvertüre als Opern- und Schauspielmusik klingen die wichtigsten Themen der folgenden Oper an. Die Ouvertüre eröffnet den Horizont des folgenden Stücks und spannt musikalisch-dramatisch den Bogen darüber. Man kann dann ahnen, was sich noch abspielen wird, was da auf einen zukommt, worauf das Ganze hinausläuft. In genau diesem Sinn ist der Palmsonntag die Ouvertüre für das dramatische Geschehen der letzten Tage Jesu. Am Palmsonntag klingt alles an, was dann noch kommt, und zwar in aller Unterschiedlichkeit.
Es beginnt mit dem Einzug Jesu in Jerusalem. Jesus kommt als Festpilger in die Königsstadt, einfach und demütig auf einem Esel. Die Menschen bereiten ihm einen triumphalen Empfang. Sie schmücken den Esel prächtig, sie breiten ihre Kleider auf dem Weg Jesu aus, sie jubeln ihm Palmzweige-schwingend zu: „Hosanna! Gesegnet sei er, der kommt im Namen des Herrn! Gesegnet sei das Reich unseres Vaters David! Hosanna in der Höhe!“ (Mt 11, 9-10). Sie erkennen, wer er ist, welche Bedeutung er für sie und ihr Leben hat: Er ist der königliche Gesandte Gottes, der Gottes Geist und das Reich Gottes in neuer Weise verkörpert und verwirklicht. Und er ist es, der die Menschen im Namen Gottes aus ihrer Lebensnot herausholt: „Hosanna“ bedeutet „Hilf doch!“ – es ist zugleich ein flehender Hilferuf und ein Jubelruf, mit dem der Retter begrüßt wird.
Und dann steht der Palmsonntagsgottesdienst im Zeichen der Passionserzählung (Mk 14,1 - 15,47) – die das Geschehen um Jesus mit ganz anderen Tönen fortsetzt. Das letzte Abendmahl: Jesus nimmt zeichenhaft vorweg, dass er sein Leben für die Seinen hingibt – und er gibt ihnen den Auftrag, diese seine Hingabe immer wieder neu zu feiern, sich dadurch hinein zu vertiefen, damit sie aus ihr neues Leben geschenkt bekommen. Dann sein inständiges Gebet im Ölgarten Getsemani, die Gefangennahme und seine Verurteilung; die Verleugnung durch Petrus, das Verhör durch Pilatus, die Verspottung und Geißelung, sein Kreuzweg und schließlich sein grausames Sterben am Kreuz und später sein Begräbnis. Beim Verhör schreit die Menge nicht „Hosanna!“, sondern „Kreuzige ihn!“; Petrus, einer seiner besten Freunde, sagt sich vor Angst los von ihm; am Kreuz hängend durchlebt Jesu eine Phase, in der er sich selbst von Gott verlassen fühlt.
Aber das ist nicht das Ende. Das Ende ist die Vollendung des Lebens Jesu durch Gott, der ihn aus dem Tod herausholt und damit zeigt, dass ER stärker ist als alles Beängstigende und Tödliche im Leben. Diese Auferstehungs-Perspektive deutet sich schon im Einzug in Jerusalem an. Vor allem aber kommt sie in der Zweiten Lesung zum Ausdruck, dem sogenannten Philipper-Hymnus (Phil 2, 6-11). Der besingt, dass Jesus sich dienend klein macht, erniedrigt, bis zur Hingabe seines Lebens am Kreuz – und dass der Vater im Himmel ihn deshalb „erhöht“, also die Lebens-Ausrichtung Jesu und ihn selbst bestätigt und ihn mit neuem, himmlischen Leben erfüllt – das uns allen zugutekommen soll.
All diese Haupt-Themen des Lebens Jesu klingen im Palmsonntagsgottesdienst an – einzeln „ausgespielt“ werden sie dann nach und nach bis zum Ostersonntag. Aber in der Ouvertüre kommen sie eben alle zusammen, und deshalb ist diese auch besonders dicht.
Und was hat der Palmsonntag, so gesehen, mit unserem Leben zu tun? Welchen Impuls kann er uns dafür geben? Da möchte ich ansetzen bei seiner Bedeutung als Ouvertüre. Und von daher kann sich eine Fragerichtung für uns ergeben:
Wenn ich für mein eigenes Leben eine Ouvertüre in Auftrag geben oder schreiben würde, welche Themen gäbe es dann in der „Oper“ oder dem „Drama“ meines Lebens? Welche Grund-Themen, welche Melodien, welche Klangcharaktere durchziehen mein Leben und prägen, ja bestimmen es? Verhaltene, klagende Moll-Töne – oder strahlende Dur-Klänge? Was ist derzeit die Grundstimmung in mir? Worauf läuft der Melodiebogen meines Lebens zu, soweit es absehbar ist? Was tue ich selbst dafür, dass er ein gutes Ende hat? Im Blick darauf: Welchen Lebens-Themen oder welchen Elementen meiner Lebensmelodie könnte ich noch mehr Beachtung schenken, damit sie die „Symphonie“ (= „Zusammenklang“) meines Lebens prägen und zur Vollendung führen?
Ein Schritt weiter: Gibt es dabei Parallelen zur Lebensmelodie, zu den Lebens-Themen Jesu? Wenn wir in der Palmsonntags-Ouvertüre die Themen heraushören, die das Leben Jesu bestimmt haben, und sie in uns aufnehmen, dann können sie auch uns, Sie und mich, ergreifen und prägen.
Und umgekehrt: Wenn Sie Ihre Lebensthemen und -melodien für sich herauskristallisieren und betrachten, dann können Sie darin Anklänge an die Lebensmelodie Jesu entdecken – und IHN und das Seine in Ihrem Leben wiederfinden. Auf jeden Fall gilt: Christ sein bedeutet, sich von der Lebensmelodie Jesu innerlich erfassen und verwandeln zu lassen – damit ER uns immer mehr dem „Leben in Fülle“ (Joh 10,10) entgegenführen kann.
Dass Sie dies gerade in der diesjährigen Heiligen Woche neu und vertieft erfahren, das wünsche ich Ihnen von Herzen!
Ihr
Dr. Christoph Maria Kohl
Domdekan & Domkustos
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Der jetzige fünfte Fastensonntag ist jedes Jahr der „Misereor“-Sonntag, der Tag, an dem die Situation der Schwestern und Brüder weltweit, vor allem in den ärmeren Ländern, in den Blick gerückt wird und um tatkräftige Solidarität für sie gebeten wird. Diesem Anliegen widmet sich das katholische Hilfswerk MISEREOR. Sein derzeitiger Leiter ist Pfarrer Pirmin Spiegel; er stammt aus unserem Bistum, und ich bin mit ihm befreundet. Da ich seine Kompetenz und sein authentisches Engagement sehr schätze, habe ich ihn gebeten, den Impuls zu diesem Sonntag aus dieser seiner Perspektive zu verfassen.
Herzlichen Gruß
Ihr
Dr. Christoph Maria Kohl
Domdekan & Domkustos
Griechische Pilgerinnen und Pilger, die zum jüdischen Osterfest nach Jerusalem gekommen waren, um Gott anzubeten, treffen einen sorgevollen Jesus an. Innerhalb weniger Tage wird er gekreuzigt werden. Als die Jünger deren Wunsch, Jesus zu sehen, an ihn herantragen, antwortet er mit verblüffenden Worten: „Die Stunde ist gekommen, dass der Menschensohn verherrlicht wird.“ Nach der Kreuzigung werden alle sehen können, worin seine wirkliche Größe bestanden hat. Hinter der Bitte steckt keine reine Neugierde. Wohl eher der tiefe Wunsch, das Geheimnis zu entdecken, das sich hinter diesem Gottesmann verbirgt.
Was verbirgt sich hinter dem Gekreuzigten, eine solche Macht der Anziehungskraft zu haben? „Ich werde alle zu mir ziehen, wenn ich über die Erde erhöht bin.“ Es gibt nur einen Grund: sein Liebesangebot an alle! In der Kreuzigung die endgültige Geste und Konsequenz eines Lebensprojektes zu sehen, das für eine menschlichere und andere Welt für alle lebte. Das bleibt herausfordernd und sinnstiftend.
Um die Kraft zu erklären, die sich hinter dem Kreuzestod verbirgt, erzählt Jesus ein Beispiel von einem uns bekannten Bild: „Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es reiche Frucht.“ Wenn das Korn seine vitale Kraft in sich einschließt und für sich behält, bleibt es steril. Diese Botschaft erinnert uns an eine Lebensweisheit. Sie ist keine Moral, kein auferlegtes Gesetz, sondern eine Dynamik, die die Erfahrung kennt, dass Leiden, motiviert durch Liebe und das Engagement für eine größere Gerechtigkeit, Lebensmöglichkeiten hervorbringt. Immer wieder wiederholte Jesus diese Erfahrung: wer sich egoistisch um sich selbst verschließt, wird kein Leben für andere generieren und den eigenen Lebensraum auf Kosten anderer erweitern. Mit meiner Lebenserfahrung stimmt dies überein.
Wer exklusiv sein Wohlbefinden ins Zentrum stellt, sein Geld, seine Sicherheit, seine Karriere, wird nur schwerlich Lebensqualität verbreiten, Freude ausstrahlen, Leiden anderer wahrnehmen und sehen, anderen Lebensmöglichkeiten öffnen. Vielleicht beginnen wir diese Lebenswahrheit zu entdecken, wenn wir den Sätzen vertrauen und uns annähern: „Wenn einer mir dienen will, folge er mir nach; und wo ich bin, dort wird auch mein Diener sein.“ Dort sein, wo Jesus war, sich beschäftigen mit dem Er sich beschäftigte, Prioritäten setzen, die Er setzte, Ziele im Blick haben, die Er im Blick hatte, Leidende wahrnehmen, wie Er sie wahrnahm. Wie sieht eine Kirche aus, angezogen von dieser Botschaft des Gekreuzigten, bewegt von der Option, Liebe und Gerechtigkeit zu bezeugen?
Ich verstehe den Text des Evangeliums als Einladung und als Zusage: wer Jesus nachfolgen will, wer seine Praxis, sein Handeln an und mit Menschen weiterführen will, wird dort sein, wo Er war und ist, wird in seiner Nähe sein.
In diesem Geist sehen wir das Leitwort der aktuellen Fastenaktion bei Misereor: „Es geht! Anders.“ Mir scheint, als wäre das ganze Leben und Handeln Jesu ein einziges „Es geht anders!“ Anders, weil Gott nahe und „ein Freund des Lebens“ ist. Er hat einen unwiderruflichen Bund mit uns und mit dieser Erde geschlossen. Es geht anders - die Menschenwürde achten, für die Schöpfung Sorge tragen. „Unrecht gefällt Gott nicht“ sagte Bischof Heiner Wilmer in der Eröffnung zur Fastenaktion in Hildesheim vor gut einem Monat. Jesus zeige, wie ernst Gott es meint: ER verbindet die Wunden und sie können verheilen. Auf Gewalt antwortet er nicht mit neuer Gewalt. Er bleibt in der Liebe. Lieber ist er ohnmächtig, als Gottes Menschenfreundlichkeit zu verraten. Er leidet mit. „Es geht. Anders!“
„Es geht! Anders.“ Inspiriert haben zu diesem Motto unsere Projektpartner im diesjährigen Beispielland Bolivien. Sie zeigen, dass und wie es anders geht: Die Sozialpastoral Caritas Reyes setzt gemeinsam mit beteiligten Familien durch Waldgärten andere, nachhaltige Formen der Landwirtschaft um und sichert so eine gesunde und vielfältige Ernährung im Einklang mit der Natur.
Unser Partner CEJIS unterstützt Indigene bei der Verteidigung und beim Schutz ihrer Territorien. Gemeinsam gehen sie andere Wege als die der Ausbeutung von Mensch, Natur und Ressourcen. Und auch an vielen anderen Orten in Lateinamerika, Afrika und Asien zeigen Menschen in unseren Partnerprojekten, dass es anders geht.
Für mich wird an diesen Orten Leben in der Nachfolge Jesu konkret gelebt und spürbar: Menschen setzen sich ein für das Leben; insbesondere für das Leben derjenigen, die am Rand stehen, die aus eigener Kraft nur schwer ihre Situation ändern können, weil ungleiche Strukturen, mangelnde Beteiligungsmöglichkeiten oder finanzielle Armut sie hindern. Die Projektpartner leben das, was wir die Option an der Seite der Armen und Anderen nennen und suchen gemeinsam mit Armgemachten nach neuen Wegen und nach anderen Wegen. Und zeigen so: Es geht! Anders.
Die Fastenaktion lädt zu einem Bewusstseinswandel ein. „Es geht“ und ist machbar, beizutragen zur Bewahrung der Schöpfung und zu dem Ziel, allen Menschen ein gutes und würdevolles Leben zu ermöglichen. Auf dem Weg zu diesem Ziel wirft die Corona-Pandemie viele Länder im globalen Süden zurück. Die Pandemie und ihre Folgen machen Entwicklungsziele zunichte und haben bereits bestehende Krisen verschärft: Krisen, die etwa aus ungerechten Handelsstrukturen, Ausbeutung der Lebensgrundlagen und einem nicht sorgetragenden Umgang mit der Natur resultieren. Krisen wie Hunger, mangelnde Gesundheitsversorgung, eingeschränkter Zugang zu Bildung und Geschlechterungerechtigkeit.
Dass wir angesichts dieser Krisen und der Corona-Pandemie ein Weitermachen, ein „Weiter so“, definitiv unterbrechen müssen, dass Änderungen nicht nur im Kleinen möglich sind, davon bin ich überzeugt. Diese Überzeugung kann zu einem Engagement führen, das menschliche Selbstverständlichkeiten unterbricht.
Der Aufruf zu einem Leben, das anders geht, der Aufruf zu Wandel fordert uns, und kann zuweilen überfordern – gerade in Situationen wie der Pandemie, die bereits seit über einem Jahr so viel Veränderung, Unplanbarkeit und Unsicherheit mit sich bringen.
Das aktuelle Hungertuch Misereors legt den Fokus auf die befreiende Kraft, die im Wandel und in der Veränderung liegt. Eine Kraft, die uns geschenkt ist, weil Gott uns Räume zur Entfaltung und zum Handeln eröffnet. Der biblische Text zum Hungertuch ist Psalm 31, in dem es heißt: „Du stellst meine Füße auf weiten Raum.“ – gebetet von einem Menschen, der gerade noch den Verfolgern entkommen ist, der Einsamkeit und Verzweiflung kennt. Dieser Vers befreit bereits in dem Augenblick aus der Enge der Angst, in dem man seine Worte in den Mund nimmt: fester Stand, weiter Raum. Der Psalm atmet den Duft der Freiheit und des Vertrauens, wenn Füße schwach, Wege uneben und Räume eng werden.
Psalm 31,2-9
2 HERR, bei dir habe ich mich geborgen.
Lass mich nicht zuschanden werden in Ewigkeit;
rette mich in deiner Gerechtigkeit!
3 Neige dein Ohr mir zu, erlöse mich eilends!
Sei mir ein schützender Fels,
ein festes Haus, mich zu retten!
4 Denn du bist mein Fels und meine Festung;
um deines Namens willen wirst du mich führen und leiten.
5 Du wirst mich befreien
aus dem Netz, das sie mir heimlich legten;
denn du bist meine Zuflucht.
6 In deine Hand lege ich voll Vertrauen meinen Geist;
du hast mich erlöst, HERR, du Gott der Treue.
7 Verhasst waren mir, die nichtige Götzen verehren,
ich setze auf den HERRN mein Vertrauen.
8 Ich will jubeln und deiner Huld mich freuen;
denn du hast mein Elend angesehn,
du kanntest die Ängste meiner Seele.
9 Du hast mich nicht preisgegeben der Hand meines Feindes,
du stelltest meine Füße in weiten Raum.
Immer wieder ließen und lassen sich Menschen weltweit auf ein anderes Leben, auf ein Leben in Nachfolge ein. Sie gehen hinein in die Ambivalenzen und Auseinandersetzungen der Welt; wenden sich den Menschen zu, die ausgegrenzt und abgehängt sind; stehen an ihrer Seite; nehmen Unrecht und Ungerechtigkeit wahr und halten sie mit aus; tragen Sorge für unser gemeinsames Haus. So bauen sie mit am Reich Gottes, stehen gemeinsam mit vielen anderen vor, mit und nach ihnen in der Nachfolge Jesu, vertrauen auf den weiten Raum, der ihnen geschenkt ist.
Pirmin Spiegel
März 2021
PS von Christoph Kohl:
In diesem Jahr, in dem über die Gottesdienst-Kollekten weniger Spenden-Einnahmen zu erwarten sind, ist MISEREOR besonders auf direkte Spenden angewiesen. Siehe dazu https://www.misereor.de/spenden
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„Endlich wieder shoppen“ - so lautet eine Zeitungsüberschrift vom Dienstag dieser Woche. Eine große Erleichterung ist spürbar darüber, dass die Geschäfte, wenn auch unter Auflagen, bei uns wieder geöffnet sind. Es ist gut, wenn Corona-Einschränkungen zurückgenommen werden können, wenn das Leben wieder „normaler“ wird. Doch sehnen sich viele danach, dass alles bald wieder so wird, wie es vor Corona war, zurück zur „alten Normalität“.
Dabei frage ich mich nicht nur, ob das überhaupt möglich ist, sondern vor allem: Wäre dann nicht eine wichtige Chance vertan, wenn wir nur zurück zum früher „normalen Leben“ wollten - und nicht aus dem lernen, was die Corona-Zeit uns in verschiedener Hinsicht lehrt?
Die Corona-Zeit ist eine Art „Fastenzeit der anderen Art“: Vieles Gewohnte geht nicht mehr oder ist eingeschränkt. Wir müssen auf manches Liebgewordene zwangsweise verzichten. Corona wirft uns aus gewohnten Bahnen. Aber diese Unterbrechung, dieses Innehalten kann ja auch eine Chance sein, zu überprüfen, ob die vorher übliche Lebensweise dem Einzelnen, der Gesellschaft, der Welt wirklich gut tut.
Die religiöse Fastenzeit ist eine solche Zeit der Überprüfung und der Umkehr. Dabei geht es nicht primär darum, überflüssige Pfunde abzuspecken oder eine ungute Verhaltensweise mal wegzulassen. Im Blick auf Ostern, das Fest des Lebens, geht es um das Fundament und die Ausrichtung meines Lebens: Bin ich auf einem Weg, der zu mehr innerer Freiheit und Lebendigkeit, zu tieferem Lebensglück und zu mehr „gutem Leben für alle“ führt? Worauf kommt es dabei an? Was in meinem faktischen Leben, in meinen Haltungen und meinem konkreten Verhalten ist dabei hinderlich? Wo stehe ich mir da selbst im Weg? Wo ist bei mir und in meinem Lebenskonzept eine Änderung oder Vertiefung nötig - damit ich in Richtung „Leben in Fülle“ (Joh 10, 10) weiterkomme?
Die Corona-Zeit kann eine Hilfe dazu sein, in diesen lebenswichtigen Fragen klarer zu sehen. Denn die Unterbrechung der gewohnten Lebensweise bringt auch etwas Positives mit sich. Die Corona-Zeit ist ein Erfahrungsraum, in dem wir Abstand zu manchem sonst Üblichen gewinnen (das nicht mehr geht oder anders ist) und in dem wir zugleich neue Erfahrungen in der andersartigen Situation machen. Wenn wir diese Erfahrungen reflektieren und fruchtbar machen, dann kann das unser Leben, auch den persönlichen Lebensentwurf, vertiefen. Das Fremdwort „Krise“ bedeutet von seinem griechischen Ursprung her mehr als nur „eine Zeit voller Probleme“, es bedeutet vor allem eine „Zeit der Entscheidung“, in der es um etwas Entscheidendes geht, in der sich etwas entscheidet; in der ich manches besser unterscheiden lernen kann und von daher Zukunftswichtiges klarer sehen und neu festlegen kann.
In diesem Sinn ist die Corona-Krise eine echte Chance. Eine Chance dazu, bewusster zu leben - und auch intensiver zu leben.
Dazu kann hilfreich sein, wenn Sie sich Zeit nehmen, über die letzten Wochen zurückzuschauen und in sich hinein zu spüren:
Wenn Sie diesen Fragen in sich Raum geben, dann kann das nur zum Segen für Sie sein - weil das mehrere positive Effekte hat:
Wenn Sie diesbezüglich für sich selbst unterscheiden und entscheiden, dann leben sie selbstbestimmter, mehr „das Ihre“ - und werden weniger von außen, von dem, „was man tut“ und von Werbung, gesteuert. Also werden Sie dadurch auch „mehr Sie selbst“, das Original, als das Gott Sie geschaffen hat und das er aus Ihnen machen möchte.
Und wer so bewusster lebt, der erlebt alles auch intensiver - weil er oder sie das im Blick hat, was wirklich lebenswichtig ist, und sich daran immer wieder neu freut - und so das Schöne im Leben tiefgründig genießen kann. Das baut auf - und das strahlt auch auf das Leben im Ganzen und auf andere aus.
Deshalb lade ich Sie ein, in der beschriebenen Weise sorgsam in sich hinein zu spüren und auf Ihre innere Stimme zu hören - denn auch durch sie möchte Gott Ihnen etwas sagen.
Und das, was Ihnen dadurch über sich und Ihr Leben deutlich wird oder gar neu aufscheint, das können Sie Gott hinhalten und übergeben, damit er es und Sie mit seiner Lebenskraft erfüllt und verwandelt. Wir gehen ja auf Ostern zu, das Fest der Auferstehung und Erlösung, und das ist auch ganz konkret gemeint …
Ich wünsche Ihnen, dass Sie so auf die Quelle des Lebens und auf seine Erfüllung weiter zugehen -
mit einem herzlichen Gruß
Ihr
Dr. Christoph Maria Kohl
Domdekan & Domkustos
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Eine aktuelle, sehenswerte ARD-Dokumentation zur Corona-Situation stellt die Frage, ob wir heute wieder lernen müssen zu gehorchen (zu sehen in der ARD-Mediathek: „Wer ist heute noch gehorsam?“, ca. 30 Minuten). Hintergrund dieser ungewöhnlichen Fragestellung: Wenn jeder nur auf seine Freiheit pocht und sich weigert, Vorschriften zu folgen, funktioniert die Gesellschaft nicht. Das wird in der Corona-Situation besonders deutlich.
Von daher aber die Frage nach „Gehorsam“ zu stellen, erscheint vielleicht kühn. Denn Gehorsam hat keinen guten Ruf. Viele denken dabei direkt an Unterordnung oder gar Unterdrückung, Unselbstständigkeit oder Unterwürfigkeit, ungute Machtausübung oder gar, dass einem Menschen das innere Rückgrat gebrochen wird. Und das vereinbart sich natürlich nicht mit einem freiheitlichen Menschenbild.
Auch nicht mit dem christlichen Menschenbild! Das christliche Verständnis von „Gehorsam“ meint etwas ganz Anderes als eine Art Kadavergehorsam (das ist laut Fremdwörter-Duden: „blinder, willenloser Gehorsam unter völliger Aufgabe der eigenen Persönlichkeit“) – und es ist für die Corona-Zeit und darüber hinaus hilfreich und lebens-dienlich, sich mit dieser Haltung einmal zu befassen.
„Gehorchen“ hängt mit „Hören“ zusammen. Es gibt verschiedene Stufen, Intensitätsgrade des Hörens:
• (zufällig) hören (im Sinne von „aufschnappen“, „mitbekommen“)
• hinhören, lauschen
• (gut) zuhören
• ein hörender Mensch sein (als Grund-Haltung eines Menschen)
• auf einen anderen Menschen hören; auch: auf Gott hören
• gehorchen / Gehorsam (als Haltung und Verhaltensweise gegenüber jemandem, der mir etwas zu sagen hat, gerade auch Gott gegenüber)
Wie Gehorsam in der Kirche im Sinne Jesu richtig verstanden und praktiziert werden kann, das habe ich bei einer Gelegenheit während meines Studiums konkret erlebt. Ordensleute versprechen bei der Ewigen Profess (= Feier des Versprechens, sich lebenslang an den Orden zu binden) dem Ordensoberen gegenüber Gehorsam. Genauso geloben Kandidaten für die Diakonen- und Priesterweihe dem Bischof „Ehrfurcht und Gehorsam“. Dabei legt der, der den Gehorsam verspricht, seine gefalteten Hände in die Hände des Oberen, der sie dann mit den seinen umschließt - eine ganz alte Geste. Das habe ich eindrücklich miterlebt, als ich bei der Ewigen Profess einer befreundeten Franziskanerin dabei war. Auch sie hat beim Gehorsamsversprechen ihre Hände in die Hände der Provinzoberin gelegt. Und obwohl ich weiter hinten in der Kirche war, habe ich gesehen, dass bei dieser Geste die Hände der Oberin (nicht die der Profess-Kandidatin!) ein wenig gezittert haben. Da ich den Orden kannte, war mir klar, warum: Die Oberin war sich in diesem Augenblick der Verantwortung bewusst, die sie beim Gehorsamsversprechen gegenüber der Schwester übernimmt, die sich dem Orden (und darin Gott) ganz anvertraut. Denn als Provinzoberin hat sie gegenüber der einzelnen Schwester zu verantworten und zu vertreten, was der Provinzrat nach dem Gespräch mit der Schwester für sie vorgesehen hat, in welche Schwesterngemeinschaft sie kommt und welche konkrete Aufgabe sie übernimmt. Gehorsam sein bedeutet dann: innerlich frei und verfügbar sein für das, was im Rahmen des Ordens und seinen Aufgaben notwendig ist. Dabei ist der Provinzleitung wichtig, dass sie die einzelnen Schwestern gut kennt und auch weiß, was ihre Stärken, ihre Fähigkeiten, ihre Bedürfnisse und ihre Grenzen sind, und dass sie das bei allen Überlegungen zur Versetzung und zum Einsatz der einzelnen Schwester berücksichtigt. So wird also deutlich: Gehorsam in der Kirche ist vom Ansatz her etwas Dialogisches, hat mit gegenseitigem Hören zu tun. Und es hat etwas mit Sich-Anvertrauen und Zu-Trauen zu tun. Wem in der Kirche Gehorsam versprochen wird, der übernimmt damit eine Verantwortung für den, der ihn zu leisten bereit ist. Und zu dem Dialogischen des Gehorsams gehört selbstverständlich auch, dass der, der ihn versprochen hat, vom Oberen vor Entscheidungen gehört wird und dabei seine Sicht ernst genommen wird (wer Gehorsam leistet, gibt damit seine Eigenverantwortung nicht ab!) - auch wenn am Ende nicht immer herauskommen kann, was der/die Einzelne sich gewünscht hätte. Dann kann christlich verstandener Gehorsam dazu führen, dass der Betroffene sich die Entscheidung in innerer Freiheit zu eigen macht und sich auf das vielleicht Unerwartete einlässt - als neues Abenteuer mit Gott, an dem man dann nur wachsen kann. Mein eigener beruflicher Weg ist dadurch gekennzeichnet, dass es jedes Mal bei einem Stellenwechsel anders kam als von mir geplant oder gewünscht - und dass ich im Rückblick sagen muss: Das war alles genau so richtig für mich, da ist von höherer Hand unsichtbar ein guter roter Faden durchgewebt worden. Richtig verstandener christlicher Gehorsam führt nicht zur Selbstentfremdung, sondern im Gegenteil zum Wachstum der Persönlichkeit und zu größerer innerer Freiheit.
Das gilt nicht nur für Priester und Ordensleute, sondern für alle Christenmenschen – insofern Glaube ganz grundsätzlich heißt: Gott gegenüber gehorsam sein - und zwar im tiefsten Sinn von „gehorsam sein“. „Der Glaube kommt vom Hören“ lautet der Titel eines theologischen Buches. „Hört, und ihr werdet leben!“ (Dtn 4,1) lässt Gott durch Mose seinem Volk sagen - weil er es auf Wege führen möchte, die zum Lebensglück und zur Erfüllung der Menschen führen. Dabei ist vorausgesetzt: Gott selbst ist einer, der auf sein Volk hört. Er sagt zu Mose: „Ich habe das Elend meines Volkes in Ägypten gesehen und ihre laute Klage über ihre Antreiber habe ich gehört. Ich kenne ihr Leid.“ (Ex 3,7). Unser Gott ist ein hörender Gott, der es unendlich gut mit uns meint. „Gottes Wille“ für uns und mich ist deshalb nicht etwas, vor dem wir Angst haben müssten – im Gegenteil: Wenn wir ihn zu ergründen suchen und seine Spur verfolgen, dann ist das für uns eine Spur zu mehr innerer Freiheit und Lebendigkeit.
Und deshalb kann es nur gut sein, wenn wir uns einüben, zu lauschen und zu hören auf das, was Gott mir persönlich und uns jeweils als Gemeinschaft sagen und zu verstehen geben möchte. Dabei ist Gott ganz erfinderisch und nutzt alle Möglichkeiten, die es dafür gibt – um uns seine Gegenwart und Nähe, Trost und Stärkung, Aufbauendes und Mahnung, kleine Anstöße und deutliche Umkehrimpulse in Richtung „Leben in Fülle“ (Joh 10,10) zu schenken. Sich selbst und das, was er mir für mein Leben mitgeben möchte, seine wegweisende Botschaft im Kleinen und im Großen spielt er mir z.B. zu
• in der Heiligen Schrift, der Bibel;
• in Gottesdienst, Gebet und Meditation;
• in meinem Inneren, über meine innere Stimme, auch das Gewissen;
• durch Mitmenschen (und das, was durch sie von Gott aufleuchtet und was mich durch sie von Gott her erreicht);
• durch Geschehnisse und Erfahrungen in meinem Leben - erst recht durch Einsichten, die mir geschenkt werden, wenn ich meine Erlebnisse entsprechend reflektiere.
Und dafür gilt eben: „Hört, und ihr werdet leben!“ (Dtn 4,1). Deshalb ist es eine grundlegend wichtige geistliche Übung, hinzuhören auf das und mich hineinzuhören in das, was Gott mir irgendwie zu verstehen geben will – der Gott, der jeden von uns mit seiner Bedürftigkeit kennt und dessen Sehnsucht es ist, dass wir uns an ihm festhalten (Dtn 30,20) und an ihn wenden, weil er ja umgekehrt auch hört, was wir ihm zu sagen haben. Und deshalb können wir uns ihm ja auch anvertrauen. So verstanden ist Gehorsam eine christliche Grundhaltung, die aus dem Vertrauen Gott gegenüber erwächst und die uns ihm und einem erfüllten Leben näher bringt.
All das schwingt auch mit, wenn wir im Vaterunser immer wieder beten „Dein Wille geschehe.“ Vielleicht beten Sie diese Bitte in der nächsten Zeit einmal bewusster als sonst.
Und ich wünsche Ihnen, dass Sie mitten im Alltag Orte und Zeiten finden, die ein guter Rahmen dafür sind, auf das zu lauschen und hinzuhören, was Gott Ihnen persönlich zu verstehen geben möchte. Je mehr Sie auch in dieser Hinsicht ein hörender Mensch werden, desto mehr sind Sie auf der Spur des Lebens.
Das wünsche ich Ihnen für die kommende Zeit auf Ostern hin, das Fest des Lebens, –
mit einem herzlichen Gruß
Ihr
Dr. Christoph Maria Kohl
Domdekan & Domkustos
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In der Zeitung stand vor Kurzem ein für mich neues Wort: „Übersterblichkeit“. Ein Wort der Statistiker, die damit meinen, dass in einem bestimmten Zeitraum viel mehr Menschen als im Durchschnitt gestorben sind. Das ist in den zurückliegenden Corona-Monaten deutlich der Fall. Bis jetzt sind in Deutschland über 60.000 Menschen an und mit dem tückischen Virus gestorben; in manchen Regionen gab es dadurch 15 bis 30 Prozent mehr Verstorbene als normalerweise.
Das neuartige Virus hat uns spüren lassen, wie gefährdet unsere Gesundheit und unser menschliches Leben sein können. Und es konfrontiert uns schonungslos mit Sterben und Tod - einem „Thema“, das sonst gerne beiseitegeschoben und verdrängt wird, das uns in dieser Situation nun fast unausweichlich bedrängt. Wie damit umgehen?
Ich möchte noch einmal auf den Aschermittwochs-Gottesdienst zurückkommen. Zur Auflegung des Aschenkreuzes wird ein Bibelvers gesprochen. Einer der beiden vorgesehenen ist: „Bedenke, Mensch, dass du Staub bist und wieder zum Staub wirst“ (vgl. Gen 3,19). Ganz bewusst wird uns zu Beginn der Fastenzeit auch unsere Endlichkeit vor Augen gestellt, die Tatsache, dass jeder Mensch einmal sterben wird, dass sein irdisches Leben einmal zu Ende sein wird. Damit soll nicht Angst gemacht werden, schon gar nicht Angst vor Gott. Damit wird der Wert des eigenen Lebens betont: Es ist auf Erden zeitlich begrenzt, alles darin ist einmalig und unumkehrbar, jeder Augenblick ist deshalb wertvoll. Wenn wir an die Endlichkeit unseres irdischen Daseins erinnert werden, dann ist das ein Appell dazu, unsere Lebenszeit bewusst zu leben und zu gestalten - zumal dieses Leben für die Ewigkeit gilt.
„Was soll einmal auf Ihrem Grabstein stehen?“ Mit dieser Frage hat ein Lebensberater Menschen konfrontiert, die zu ihm gekommen sind. Er wollte damit erreichen, dass die Menschen ihr Leben vom Ende her betrachten. Sein Gedanke: Es ist wichtig, dass jeder ein Ziel hat, etwas, was er am Lebensende erreicht haben möchte. Und es ist hilfreich, wenn er die noch vor ihm liegende Lebenszeit von diesem Ziel her anschaut.
Natürlich schreibt man das heute dann nicht auf den Grabstein. Aber die Idee kann hilfreich sein: Sozusagen virtuell meinen Grabstein gestalten, auf dem dann abzulesen ist, was mir für mein Leben wichtig war. Das kann durchaus dazu beitragen, dass ich mein Leben besser darauf ausrichte und so bewusster lebe. Einen ähnlichen Effekt hätte es, wenn ich einen Nachruf auf mich selbst schreiben würde – so, dass der widerspiegelt, was mein Leben und meine Persönlichkeit ausgemacht haben. Einen Nachruf, der so nach meinem Tod ehrlich vorgetragen werden könnte. Auch dabei kann ich meine Lebenswerte in den Blick nehmen und neu klären - und dementsprechend bewusster leben.
Bei Nachrufen, wie sie normalerweise zu hören sind, werden oft nur die Leistungen und Verdienste eines Menschen gerühmt. Da frage ich mich: Ist es das, was am Ende meines Lebens in den Blick kommen soll? Was ist mir für mein Leben wirklich wichtig? Was bleibt einmal davon? Der verstorbene evangelische Fernsehpfarrer Jörg Zink hat ein Buch geschrieben mit einem Titel, der diese Frage aufgreift: „Was bleibt, stiften die Liebenden.“ In den Worten der heiligen Therese von Lisieux, die unser verstorbener Weihbischof Ernst Gutting sehr verehrte: „Nur die Liebe zählt.“
Gleich, wie ich es konkret umsetze, es bringt etwas, wenn ich „mein Leben vom Ende her betrachte“. Zum einen gewinnen meine Stunden, Tage und Jahre an Bedeutung, wenn ich sie in dem Bewusstsein lebe, dass sie eine begrenzte, also auch einmalige Chance sind. Und zum anderen lebe ich bewusster und intensiver, wenn ich mir darüber klar bin, wozu mein Leben als Ganzes gut sein soll, worauf es mir im Leben ankommt, was mir wirklich Lebens-wichtig ist, was und wie ich gelebt haben möchte, wenn ich einmal sterbe.
In einem Gebet der Bibel ist diese Betrachtung des Lebens vom Ende her beschrieben:
Psalm 90: Der ewige Gott - der vergängliche Mensch
Herr, du warst unsere Zuflucht /
von Geschlecht zu Geschlecht.
2 Ehe die Berge geboren wurden, /
die Erde entstand und das Weltall, /
bist du, o Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit.
3 Du lässt die Menschen zurückkehren zum Staub /
und sprichst: «Kommt wieder, ihr Menschen!»
4 Denn tausend Jahre sind für dich /
wie der Tag, der gestern vergangen ist, /
wie eine Wache in der Nacht.
5 Von Jahr zu Jahr säst du die Menschen aus; /
sie gleichen dem sprossenden Gras.
6 Am Morgen grünt es und blüht, /
am Abend wird es geschnitten und welkt.
7 Denn wir vergehen durch deinen Zorn, /
werden vernichtet durch deinen Grimm.
8 Du hast unsre Sünden vor dich hingestellt, /
unsere geheime Schuld in das Licht deines Angesichts.
9 Denn all unsre Tage gehn hin unter deinem Zorn, /
wir beenden unsere Jahre wie einen Seufzer.
10 Unser Leben währt siebzig Jahre, /
und wenn es hoch kommt, sind es achtzig.
Das Beste daran ist nur Mühsal und Beschwer, /
rasch geht es vorbei, wir fliegen dahin.
11 Wer kennt die Gewalt deines Zornes /
und fürchtet sich vor deinem Grimm?
12 Unsre Tage zu zählen, lehre uns! /
Dann gewinnen wir ein weises Herz.
13 Herr, wende dich uns doch endlich zu! /
Hab Mitleid mit deinen Knechten!
14 Sättige uns am Morgen mit deiner Huld! /
Dann wollen wir jubeln und uns freuen all unsre Tage.
15 Erfreue uns so viele Tage, wie du uns gebeugt hast, /
so viele Jahre, wie wir Unglück erlitten.
16 Zeig deinen Knechten deine Taten /
und ihren Kindern deine erhabene Macht!
17 Es komme über uns die Güte des Herrn, unsres Gottes. /
Lass das Werk unsrer Hände gedeihen, /
ja, lass gedeihen das Werk unsrer Hände!
Diese Blickrichtung auf das Leben vom Tod her können wir als Christen ja noch etwas extrapolieren, etwas weiter ausspannen: Wir können unser Leben nicht nur von seinem (irdischen) Ende her betrachten, sondern von seiner Vollendung durch Gott her! Dann leuchtet der Wert unseres Leben erst recht auf: Jede und jeder von uns ist Gott so viel wert, ja unendlich viel wert, so dass er jede/n von uns mit seinem faktisch gelebten Leben bei sich vollenden möchte. Unser, Ihr und mein endliches Leben geht ein in die Unendlichkeit Gottes, in das Ewige Leben. Gottes Ziel für uns ist der Himmel, wo er alle Grenzen unseres irdischen Lebens und auch unsere persönlichen Grenzen aufhebt. Diese österliche Aussicht kann uns beflügeln, dass wir unser Leben nicht „Tod-ernst“, sondern „Auferstehungs-froh“ leben. Diese Perspektive kann es uns erleichtern, dass wir uns im Hier und Jetzt immer mehr einschwingen auf das, worauf es Gott für unser Leben ankommt, damit es gut wird, - dann gewinnt es eine nochmals größere Intensität und Tiefe.
Für diese Fastenzeit wünsche ich Ihnen, dass Sie Ihr eigenes Leben einmal von seiner Endlichkeit und von seiner Vollendung her in den Blick nehmen - und dass Sie es dann umso bewusster und intensiver erleben und gestalten.
Ihr
Dr. Christoph Maria Kohl
Domdekan & Domkustos
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In der Corona-Zeit ist Solidarität mit anderen notwendig, und zwar in verschiedener Weise: Solidarität mit den Angehörigen der Risikogruppen; Solidarität mit denen, die in irgendeiner Weise schwerer von der Pandemie betroffen oder deren Opfer sind; länder-übergreifende, ja weltweite Solidarität, was den Schutz vor Infektionen und die Verteilung des knappen und teuren Impfstoffs angeht usw.
Zu Beginn der Fastenzeit wird uns eine Art und Weise von Solidarität vor Augen gestellt und nahegelegt, die sonst weniger im Blick ist, die aber dennoch wichtig ist und sich sehr positiv auswirken kann.
Im Gottesdienst zu Aschermittwoch, mit dem die Fastenzeit als vorösterliche Bußzeit beginnt, wird das Aschenkreuz ausgeteilt. Das ist für mich jedes Jahr von neuem ein eindrückliches Erlebnis. Einer nach dem anderen tritt vor und bekommt mit Asche ein Kreuz auf die Stirn gezeichnet (oder, jetzt in der Corona-Zeit, auf den Kopf gestreut). Dazu wird gesagt: „Bekehrt euch und glaubt an das Evangelium!“ (Mk 1,15) oder: „Bedenke, Mensch, dass du Staub bist und wieder zum Staub zurückkehrst“ (vgl. Gen 3, 19). Durch diesen Ritus werde ich daran erinnert, dass mein Leben endlich ist. Dass es gilt, in der verrinnenden Zeit verantwortlich zu leben. Und vor allem werde ich daran erinnert, dass ich Grenzen und Schwächen habe, dass ich Fehler mache, dass zu mir auch das gehört, womit ich anderen und vielleicht auch mir selbst das Leben schwer mache. Dass mein Leben hie und da vielleicht nicht mehr stimmt, dass ich womöglich an mir und den anderen vorbeilebe. Mit anderen Worten: Ich werde damit konfrontiert, dass ich auch ein Sünder bin. Dass ich darauf angewiesen bin, dass die Mitmenschen und Gott zu mir barmherzig sind. Damit beginnt die Fastenzeit. Mit dem Anstoß, zu mir zu stehen und mich so vor Gott zu stellen, wie ich nun mal bin, - statt dass ich mir etwas über mich vormache.
Alle in der Kirche haben dann das Aschenkreuz auf der Stirn. Alle stehen vor Gott und voreinander mit diesem Zeichen auf dem Kopf. Es ist beeindruckend, das zu sehen: Vom Bischof bis zum Kind - jeder Einzelne steht dazu, dass er unvollkommen ist und auch auf irgendeine Weise Schuld auf sich geladen hat. Alle zusammen bekennen das durch das Aschenkreuz auf der Stirn. Alle stehen so füreinander ein, beten füreinander – für die unvollkommenen Menschen, die wir nun leider mal sind.
Und damit bekennt auch die Kirche, dass sie eine Kirche von unvollkommenen, sündigen Menschen ist. Auch für sie gilt wie für jeden Einzelnen: Wer zu sich selbst in seinen Schwächen und Fehlern steht, mit dem kann es aufwärts gehen. Das ist die Perspektive der Fastenzeit.
Was immer wieder zu Beginn jeder Messe durch das „Kyrie, eleison! - Herr, erbarme dich!“ zum Ausdruck kommt, wird durch den Ritus des Aschenkreuzes noch spürbarer: Wir stehen gemeinsam als Menschen mit Fehlern und Schwächen vor Gott; als Menschen, die sich auch falsch verhalten haben oder falsch leben; als Menschen, die auch von Sünde und Schuld gezeichnet sind. Wenn dann alle mit dem Aschenkreuz auf der Stirn in der Kirche stehen, dann ist das auch eine Form von Solidarität: Wir sind solidarisch miteinander als Menschen mit persönlichen Grenzen und Sünden. Wir offenbaren uns einander als solche Menschen, und wir stehen zueinander und stehen einander bei als Menschen, zu denen diese Seite ihrer Persönlichkeit und ihres Lebens auch dazu gehört.
Das kommt für mich in diesem Ritus und in der mit Aschenkreuzträgern gefüllten Kirche zum Ausdruck. Und ich hoffe, dass diese zeichenhafte Solidarität als Sünder aus dem Gottesdienst heraus auch tiefer in unsere Haltung und unseren Umgang den anderen gegenüber einwirkt. Was würde das bedeuten, wenn wir im Alltag im Herzen und tatkräftig Solidarität mit dem anderen als auch fehlerhaften Menschen leben?
• Ich gestehe dem anderen zu, ja „ich gönne ihm“, dass auch er (wie ich selbst!) nicht perfekt ist und Fehler hat und macht.
• Ich habe Verständnis dafür. Ich sage ja zu dem anderen, so wie er ist (so, wie ich es hoffentlich mir selbst gegenüber auch tue!), ich nehme ihn an mit seinen Unvollkommenheiten - wenn auch durchaus mit einem Seufzer…
• Ich stehe dem anderen in seinen Fehlern und Schwächen bei. Wenn es sich machen lässt, gebe ich ihn ein ehrliches Feedback, mache ihn auf das Eine oder Andere aufmerksam, mit dem ich mir bei ihm schwer tue oder was mir irgendwie zusetzt oder wo sich seine Schwächen und Fehler für andere und ihn selbst ungut auswirken.
• Wenn etwas Gravierendes zwischen mir und einem anderen steht, dann sage ich ihm das, wenn es möglich ist. Ich sammele keine schlechten Gefühle dem anderen gegenüber, die sich dann womöglich irgendwann einmal unkontrolliert entladen, die aber auf jeden Fall die Beziehung schleichend vergiften.
• Ich bete für den anderen, der mir oder anderen mit seinen Eigenheiten und Schwächen zusetzt. Ich kann Gott um seine Hilfe dafür bitten, dass der andere sich sehen lernt, wie er/sie ist und auf die Mitmenschen wirkt, und dass er/sie dann Wege der Umkehr gehen kann. Ich kann darum bitten, dass meine innere Haltung diesem anderen gegenüber nicht schleichend kippt, dass ich ihn nicht ablehne oder
• gar hasse, sondern dass ich ihm weiterhin fair und mit Wohlwollen begegne.
Eine gute Anregung dafür kann ein Gebet von Karl Rahner geben:
„Herr, da ist der andere,
mit dem ich mich nicht verstehe.
Er gehört dir,
du hast ihn geschaffen.
Du hast,
wenn nicht so gewollt,
ihn so gelassen,
wie er eben ist.
Wenn du ihn trägst,
mein Gott,
will ich ihn auch tragen
und ertragen,
wie du mich trägst
und erträgst.“
(in: Zu Gott Du sagen. Gebete.
Herausgegeben von: Stiftung der action 365, Frankfurt am Main;
Verlag der action 365, Frankfurt 2020, S. 163)
Wenn wir so miteinander als „Sünder“ solidarisch sind, dann hat das wohltuende Auswirkungen auf den Einzelnen und die Gemeinschaft im Ganzen.
Außerdem steht diese Art von Solidarität den Christen besonders gut. Denn einerseits ist sie Ausdruck unsres Glaubens an den barmherzigen und verzeihenden Gott. Und andererseits ist die Solidarität als „Sünder“ eine starke Seite der Liebe zueinander, die dann auch weiter ausstrahlt - und uns glaubwürdiger macht.
Dass Sie in der beginnenden Fastenzeit diese besondere Solidarität erleben
und auch selbst verwirklichen,
das wünsche ich Ihnen von Herzen.
Ihr
Dr. Christoph Maria Kohl
Domdekan & Domkustos
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An diesen närrischen Fastnachtstagen
pflegt man die Wahrheit in Reimen zu sagen.
D’rum mach’ ich’s jetzt auch so – warum denn nicht? –
der heutige Impuls ist ein Gedicht.
Man fragt sich kaum – wozu denn auch? –
was ist die Wurzel vom Fastnachtsbrauch?
Es zeigt sich erst ein tief’rer Sinn,
schaut man mal genauer hin.
Eine Hochburg der Narren ist Mainz am Rhein,
es lädt zu närrischem Treiben ein.
Doch vor 200 Jahren – von Franzosen besetzt,
da haben die Mainzer die Messer gewetzt.
Sie waren unterdrückt, die Freiheit beschränkt,
das hat die Mainzer sehr gekränkt.
Sie wollten sich nicht länger ducken,
begannen öffentlich zu mucken.
Und dabei war’n die Mainzer schlau,
sie nahmen einfach rot – weiß – blau
die Flagge der Franzosen – und gelb noch dazu,
die Fastnachtsfahne war fertig im Nu.
Damit wollten sie die Franzosen provozieren
und begannen auf den Straßen zu marschieren
in der Garde-Uniform der Fassenacht,
dem Gewand der Besatzer-Soldaten nachgemacht.
So haben sie die Unterdrücker nachgeäfft
und dann noch in Büttenreden angekläfft.
Sie haben sich gründlich Luft gemacht
und die Franzosen fast zur Weißglut gebracht.
Es ging hier nicht nur um „Spaß an der Freud“,
sondern gewehrt haben sich die kleine Leut’
gegen die Großen, die sie nicht recht achten,
sondern was sie wollten mit ihnen machten.
Die Wurzeln der Fastnacht lassen uns sehen:
Zivilcourage und Widerstand am Anfang stehen!
Die Fastnacht ist ein Ventil, um „denen da oben“ zu sagen,
worüber die Menschen haben wirklich zu klagen.
Doch auch das Jahr über täte es gut,
hätten die Bürger noch viel mehr Mut.
Mut, um den Mund weit aufzumachen,
wenn unsere Politiker machen dumme Sachen.
Mut, Ungerechtigkeit beim Namen zu nennen,
wenn Banken und Wirtschaft sich wieder verrennen.
Mut, auch mal auf die Straße zu geh’n
bevor dort wieder rechte Fahnen weh’n.
Mut, nicht einfach nur zuzuseh’n,
wenn Radikale ’nem Fremden an die Gurgel geh’n.
Mut zu Solidarität und tatkräftigem Tun,
wenn andere am Ende sind, können nichts mehr tun.
Den Christen steht das trefflich gut,
wenn sie sind wachsam auf der Hut
wenn sie mit scharfem Blick auch sehen,
wo Wege in die Irre gehen,
nicht „quer-denkend“ um sich selber kreisen,
sondern ganz achtsam darauf weisen,
was wichtig ist für aller Wohl,
damit das Leben wird nicht hohl.
Zivilcourage, Mut und ein wacher Geist
waren Wurzeln der Fastnacht – und das heißt,
dass Freude am Leben und Spaß an der Freud
passen gut zusammen mit Engagement für die Leut’.
Wenn Frohsinn und Humor uns weiter führen
und uns mutiges Eintreten für andere lehren,
dann bleiben wir dem Ursprung der Fastnacht treu
und Zivilcourage und Solidarität erblühen neu.
So: Bleiben Sie wach und voller Mut
und lassen sich’s gehen dabei auch gut!
Das wünscht Ihnen zu Ihrer und aller Wohl
Ihr Domdekan Christoph Maria Kohl.
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„Corona zieht mich herunter. Ich bin ganz niedergedrückt wegen all dem, was jetzt nicht möglich ist und was auf der Strecke bleibt.“ Das habe ich in letzter Zeit in verschiedenen Variationen öfter gehört. Ja, es ist gut nachvollziehbar, dass es so manchen so geht. Die Rahmenbedingungen für unser Leben sind derzeit belastend. Aber gerade deshalb ist eine Einstellung, eine Blickrichtung besonders wichtig, die wir interessanterweise auch von der Natur lernen können.
In meinem Arbeitszimmer habe ich lange einen kleinen Tisch stehen gehabt. Damit der etwas belebter ist, habe ich einen Blumenstock gekauft und darauf gestellt. Nach ein paar Tagen fiel mir auf: Die Pflanze hatte ihre Blätter dem Licht zugedreht und sich in ihrem oberen Teil deutlich zum Fenster hin geneigt. Nach zwei Wochen musste ich den Blumenstock umdrehen, sonst wäre er beim Weiterwachsen ganz schräg geworden. Klar, die Pflanzen brauchen Licht und sind so programmiert, dass sie sich dem Licht zuwenden. Aber bei diesem Blumenstock war es ganz extrem, wie sehr er sich dem Licht entgegenstreckte - er wollte wohl alles Licht in sich aufnehmen, das er irgendwie bekommen konnte. Er hatte offensichtlich eine unbändige Sehnsucht nach dem Licht. Das hat mir imponiert – und mich ins Nachdenken gebracht:
Uns Menschen kann es doch nur gut tun, wenn wir es dieser weisen Pflanze nachmachen, wenn wir uns auch „dem Licht“ entgegenstrecken und öffnen; dem, was uns aufbaut, was uns innerlich Nahrung gibt; dem, was unsere Seele aufhellt und unser Leben hell macht, was uns aufleben lässt. Wenn wir dafür empfänglich sind und es in uns „aufsaugen“ wie ein Schwamm, dann tut uns das genauso gut wie das Licht dem Blumenstock, der dadurch gut ins Wachsen und Blühen kam.
Leider geht es bei uns nicht so einfach wie bei den Blumen, dass wir uns ganz automatisch dem zuwenden, was uns aufleben lässt. Es gibt auch das Dunkle und Schwere, das in unsere Seele drängt. Aber ob das sich dort einnistet und uns beschwert, das liegt auch daran, was wir in den Blick nehmen und in uns aufnehmen, das Licht(volle) oder das Finstere, das, was unser Herz froh macht oder das, was es verfinstern kann. Das ist auch eine Frage meiner inneren Einstellung und Ausrichtung.
Wir können uns ganz bewusst für das entscheiden und das tun, was die Pflanzen als Programm haben: Unseren Blick schärfen für das Helle und Wohltuende - und es mit Freuden in uns aufnehmen und verkosten - damit es uns innerlich aufleben lässt und aufbaut.
Wir können dann noch einen Schritt weiter gehen: Wenn wir uns zudem insgesamt auf „das Licht der Welt“ (Joh 8,12) ausrichten, auf Jesus Christus, dann sind wir an der Quelle des Lichts und des Lebens (Kol 1, 16: „Alles ist durch ihn und auf ihn hin geschaffen.“). Und dann geht ER noch einen Schritt weiter mit uns: Er macht uns dann zum „Licht der Welt“ (Bergpredigt, Mt 5,14:„Ihr seid das Licht der Welt.“)! Dann erst recht wird das Leben hell und erfüllend - für uns und um uns herum.
Hilfreich dafür ist, wenn wir einen Scharf-Blick gewinnen für das, was uns das Herz aufgehen lässt, was uns gut tut, was uns froh macht und erfüllt. Wenn wir das in den Focus nehmen, immer wieder neu - und am besten gegen Ende jeden Tages.
Genau dazu dient das „Gebet der liebenden Aufmerksamkeit“ (das ich in Impuls 13 schon einmal erwähnt habe). Dafür empfiehlt sich der frühe Abend, wenn der Tag größtenteils schon vorbei ist, man aber noch nicht zu müde ist.
Zu Beginn können Sie Gott bitten, dass er Ihnen die Augen öffnet für seine Gegenwart und sein Wirken an diesem Tag - und für all das an Leben, das er Ihnen heute zugespielt hat.
Und dann schauen Sie auf den Tag zurück, indem sie ihn wie einen Film vor Ihrem inneren Auge vorbeiziehen lassen. Dabei können Erfahrungen, Szenen und „Farben“ wiederkommen, bei denen Ihnen das Herz aufgegangen ist, die Ihnen gutgetan haben, aber auch solche, die Ihnen irgendwie zugesetzt haben. Beides gehört zu diesem Tag, beides können Sie vor Gott ausbreiten und ihm hinhalten. Daraus kann dann ein ganz persönliches (Stoß-)Gebet entspringen, je nachdem, was Sie beschäftigt: Dank, Bitte, Klage, Fürbitte für andere, …
Konkret können das die folgenden Schritte sein:
1. Wahrnehmen, wie es mir jetzt gerade geht.
2. Mich innerlich auf Gott oder Jesus Christus hin ausrichten, so wie es jetzt möglich ist.
3. IHN bitten, dass er mir hilft, mich und meine Erfahrungen an diesem Tag mit offenen Augen und Ohren und wachem Herzen wahrnehmen zu können.
4. Auf den vergangenen Tag zurückschauen und mich erinnern, was ich erlebt habe; darauf achten, was davon mich jetzt noch innerlich berührt und bewegt. Gott schaut liebevoll auf mich und kann mir die Augen öffnen, wenn ich mit Liebe (ohne Wertung und Urteil) zurückblicke, wie ich mit anderen – mit Gott – mit mir selbst umgegangen bin.
5. Ich blicke hin, wo ich Ermutigung – Trost – Hoffnung gespürt habe.
6. Ich blicke auch dahin, wo ich Misstrauen – Angst – Entmutigungen gespürt habe.
7. Bitte – Dank – Klage – Lob ... vor Gott bringen, wie im Gespräch mit einem guten Freund, einer guten Freundin, eventuell beten für ein Anliegen, das sich gezeigt hat, oder für Menschen, die mir in den Sinn kamen.
8. Vorausschauen auf das, was vor mir liegt, um Kraft, Mut und Beistand bitten.
Dabei ist es aber besonders wichtig, dass Sie das, was Sie Schönes, Wohltuendes erlebt haben, bewusst in den Blick nehmen - und sich (nochmals) daran freuen, es innerlich verkosten, ja genießen - damit es dadurch noch tiefer in Ihr Herz einsinkt und es erfüllt. Wie bei meinem Blumenstock führt das dazu, dass Sie innerlich wachsen und gedeihen und aufblühen, dass eine tiefgründige innere Freude am Leben, an den Menschen, an Gott wächst und Sie erfüllt. Und außerdem führt diese geistliche Übung, wenn sie länger praktiziert wird, dazu, dass Sie einen schärferen Blick bekommen für das, was Ihr Leben hell macht. Und es wächst die Empfänglichkeit und Sensibilität dafür, so dass Sie das, was Ihnen tagsüber gut tut, nicht erst im Rückblick merken, sondern schon direkt dann ganz bewusst erleben und verkosten können, wenn es „passiert“, in dem Augenblick, in dem es Ihnen geschenkt wird. Dadurch wird Ihr Erleben intensiver - und Ihre Freude an dem, was Sie erleben, auch.
Das „Gebet der liebenden Aufmerksamkeit“ ist also eine gute Übung, das bewusst zu tun, was mein Blumenstock als Programm hat: sich dem Licht zuwenden, es in sich aufnehmen - um dadurch zu wachsen und aufzublühen.
Dass Sie dadurch gerade in dieser etwas schwierigen Zeit nicht nur ein paar „Lichtblicke“ bekommen, sondern vom „Licht der Welt“ erfüllt werden,
das wünsche ich Ihnen von Herzen!
Ihr
Dr. Christoph Maria Kohl
Domdekan & Domkustos
Für diejenigen, die mehr über das „Gebet der liebenden Aufmerksamkeit“ erfahren möchten, über seine Grundlagen und auch über verschiedene Variationen, in denen es vollzogen werden kann, eignet sich sehr gut:
Willi Lambert, Gebet der liebenden Aufmerksamkeit. Paulinus-Verlag Trier 2010 u.ö.,
ISBN 978-3-7902-2092-6; 67 Seiten, 5,00 €)
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Die immer längere Corona-Ausnahmesituation strapaziert nicht nur die Einzelnen, sondern ist auch eine Herausforderung für das menschliche Miteinander. Wenn die Menschen durch die Corona-Situation insgesamt innerlich angespannter sind, dann kann sich das auch auf den Umgang miteinander auswirken. Und da ist es hilfreich, wenn wir menschliche Grundhaltungen im Blick haben und fördern, die dem Miteinander gut tun.
Für ein gutes Zusammenleben ist eine Grundhaltung besonders wichtig: Dass ich den anderen achte und ihn würdevoll behandle.
Deshalb bin ich, ehrlich gesagt, froh, dass die Ära Trump nun vorbei ist. Vor allem deshalb, weil er so respektlos war - gegenüber anderen Menschen, gegenüber Institutionen, sogar gegenüber ganzen Staaten. Er hat andere runtergemacht und gehässig über sie geredet, hat Unwahrheiten über sie verbreitet - nur, um Punkte für sich zu machen. Das
hat sich verheerend ausgewirkt; er hinterlässt eine gespaltene Nation. Aber auch bei uns nimmt das respektlose Sprechen über andere zu - in der Politik und noch mehr in den sozialen Medien. Auch das bleibt nicht ohne Folgen.
Haben Sie schon erlebt, dass jemand Sie richtig runtergemacht hat, bloßgestellt, herabgewürdigt? Das ist, wie wenn jemand auf Ihnen herumtrampelt. Und umgekehrt: Wenn jemand sie respektvoll behandelt, das tut gut, das baut persönlich auf und stärkt die Beziehung zueinander. Zwischen Einzelnen und in der Gesellschaft.
Respekt ist eine Grundhaltung den anderen gegenüber, die für ein gutes Zusammenleben unbedingt notwendig ist. Respekt im ursprünglichen Wortsinn hat nichts zu tun mit Angst vor Autoritäten oder Machthabern, nichts damit, dass ich voller Angst vor dem Lehrer oder Chef stehe. Vom lateinischen Ursprungswort her steckt etwas ganz anderes drin: sich umsehen, umsichtig sein, den anderen anblicken, ihm Ansehen geben, den anderen achten und ihn würdevoll behandeln. Das ist mehr, als den anderen irgendwie zu tolerieren. Das bedeutet, dass ich dem anderen auf Augenhöhe begegne, mit Wertschätzung, ja so, dass er dabei seine eigene Würde spürt. Mir ist ein Wort des Völkerapostels Paulus in seinem Brief an die Gemeinde in Rom immer wichtiger geworden. Er schreibt dort: „Seid einander in brüderlicher Liebe zugetan, übertrefft euch in gegenseitiger Achtung!“ (Röm 12,10). Wenn das gelingt, dann wächst etwas zwischen den Menschen.
Umgekehrt: Wer mit anderen respektlos umgeht, der muss sich fragen lassen, ob er oder sie sich selbst annimmt und achtet. Das ist oft der Knackpunkt. Denn wer ein gesundes Selbstwertgefühl hat, für den ist es selbstverständlich, dass er mit anderen so umgeht, dass die dabei spüren: „Der andere würdigt mich.“ Und das tut gut – erst recht in der angespannten Corona-Situation.
Dass wir in dieser Grundhaltung wachsen, darum können wir auch Gott bitten, z.B. mit dem folgenden Gebet:
„Herr, hilf uns,
unsere Waffen abzulegen:
Die scharfen Worte,
die bösen Blicke,
die verletzende Sprache,
die giftigen Angriffe,
die lähmende Überheblichkeit,
das erdrückende Kraftprotzen,
die atemberaubenden Frechheiten,
den beißenden Spott
und all das, womit wir sonst
den täglichen Kleinkrieg führen.
Herr, gib deinen Frieden
in unsere Sprache,
in unsere Blicke,
in unsere Hände und Füße,
in unseren Intellekt,
in unsere Fantasie,
in unser Herz.“
(Ruth Rau; in: Zu Gott Du sagen. Gebete.
Herausgeber: Stiftung Haus der action 365;
Verlag der action 365, Frankfurt am Main 2020, Seite 105)
Ich wünsche Ihnen, dass Sie genau das im alltäglichen Umgang mit anderen erleben – und vor allem, dass es Ihnen gelingt, Ihren Mitmenschen in dieser Grundhaltung zu begegnen.
Ihr
Dr. Christoph Maria Kohl
Domdekan & Domkustos
(Die Grundlage für diesen „Impuls“ ist meine SWR-Rundfunk-Morgenansprache vom Freitag dieser Woche, 29.01.2021; siehe https://www.kirche-im-swr.de/?page=beitraege&sendung=4 oder im „Archiv“ unter https://www.kirche-im-swr.de/?page=beitraege&autor=10 , wo auch alle meine bisherigen Rundfunkansprachen im SWR zu lesen sind.)
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Geduld – einen langen Atem haben – langmütig sein
In der derzeitigen Corona-Situation brauchen wir noch länger Geduld: Der Lockdown geht weiter; es gibt wegen der neuen, hochansteckenden Mutationen sogar noch Verschärfungen; es wird noch einige Zeit dauern, bis durch eine fast flächendeckende Impfung manches wieder normaler werden kann. Viele Mitmenschen kommen damit innerlich nicht gut klar und sind zunehmend angespannt.
Aber mit der notwendigen Geduld ist das so eine Sache. Man kann sie nicht „machen“, auf Knopfdruck herbeizaubern. „Lieber Gott, schenke mir ein wenig Geduld, aber schnell!“ lautet ein scherzhaftes Stoßgebet, das das Dilemma deutlich macht. Sie kennen bestimmt Menschen, von denen Sie sagen können „Der ist ein ungeduldiger Mensch.“ oder „Sie ist ein geduldiger Mensch.“ Geduld oder Ungeduld kann einen Menschen (auch ganz unabhängig von der Corona-Situation) sehr prägen. Denn es geht hierbei um eine Grundhaltung, die einem selbst und den anderen das Leben ganz schön erschweren oder leichter machen kann.
Wer ungeduldig ist, der kann nicht in Ruhe auf jemanden oder etwas warten; bei dem muss alles schnell gehen und wenn nicht, kommt er in Unruhe; der ist enttäuscht, wenn etwas länger dauert (als er sich gedacht hat!); der hält die Spannung nicht aus, wenn etwas Erhofftes sich nicht so bald einstellt; dem geht dann schnell die Luft aus. Ungeduld ist auch eine Folge von festen eigenen Erwartungen, wie (schnell) etwas gehen muss und was meiner Meinung nach (bald) geschehen „muss“.
Umgekehrt bedeutet Geduld haben / geduldig sein: Es muss nicht so (schnell) gehen, wie ich es gerne hätte. Ich lasse mir, dem anderen und erhofften Entwicklungen Zeit. Ich dränge nicht. Ich mache mir und anderen keinen zeitlichen Druck. Ich kann auch manches Unliebsame und Anspannungen eine Zeitlang ertragen. Ich gebe nicht so schnell auf, sondern habe einen langen Atem und Durchhalte-Kraft. Und wenn es anders kommt als gedacht, kann ich mich darauf einstellen und es so annehmen, nicht nur ertragen.
Eine solche Grundhaltung hat Voraussetzungen, die ihr Wachstum möglich machen und fördern.
Dazu gehört die Erkenntnis: Ich bin darauf angewiesen, dass die Mitmenschen mit mir Geduld haben – wo ich für etwas länger brauche, wenn ich mich verspäte, wenn ich vielleicht insgesamt langsamer bin bei manchem, wenn sie sich mit einer Eigenheit von mir schwer tun, die sich einfach nicht ändern will … Wenn die anderen dabei Geduld haben mit mir, wenn sie sich verständnisvoll auf mich einstellen, dann geht es mir besser und ihnen mit mir. Zugespitzt ausgedrückt: Ich lebe auch von der Geduld der anderen mit mir. Wenn mir das bewusst ist, kann es mir leichter fallen, gleichsam als Antwort darauf auch selbst mehr Geduld zu entwickeln. Die mir geschenkte Geduld kann mich geduldiger machen.
Ein Zweites: Geduld als Grundhaltung lebt sich leichter, wenn sie eingebettet ist in den größeren Horizont von Zuversicht und Hoffnung. Gelassene Menschen können eher etwas „sein lassen“ und „kommen lassen“, ohne es beschleunigen zu müssen oder in Anspannung zu geraten. Und wer sein Leben im „Horizont der Ewigkeit“ lebt und gestaltet; wer sich dessen bewusst ist, worauf es im Leben wirklich ankommt; wer die Endlichkeit des irdischen Lebens annimmt, auf das Leben nach dem Tod hofft und für sich deshalb so manches relativiert (weil die Zeit als solche relativ wird!); wer aus diesem Grund nicht alles, was möglich ist, aus dem Leben hier und heute rausholen oder in es reinpacken muss; wer keine Angst hat, zu kurz zu kommen oder etwas zu verpassen – der kann gut und gerne ein Mensch werden, der von wohltuender Geduld geprägt ist.
Eine dritte Wachstumsvoraussetzung für Geduld ist die Erfahrung, dass Gott mit uns, mit mir selbst unendlich große Geduld hat, und dass das mein und unser Glück ist! Schon im Alten Testament kommt immer wieder heraus, dass Gott Geduld mit seinem oft störrischen Volk hat, erst recht dann, wenn es andere Wege geht als die, die Gott ihm zu seinem Glück gebahnt hat, wenn es sich von Gott als der Quelle seines Lebens entfernt. Dann verliert Gott nicht die Geduld mit ihm, sondern bleibt ihm treu, „rennt ihm nach“, um es wieder auf die Spuren des Lebens zu führen, immer wieder. Diese Erfahrungen bringt u.a. der Psalm 86 ins Wort: „Du aber, Herr, bist ein barmherziger und gnädiger Gott, du bist langmütig, reich an Huld und Treue“ (Ps 86,15). „Langmut“ ist eine Wesenseigenschaft Gottes; es ist noch mehr als Geduld – der Mut, etwas in Ruhe zu erwarten und dabei aber „dran zu bleiben“. So wartet Gott darauf, dass sein Volk und auch jede/r von uns sich immer wieder besinnt und in Richtung „Quelle des Lebens“ umkehrt, und hilft uns dabei. Auf gleicher Linie liegt, dass Jesus mit seinen zwölft Aposteln, die so langsam kapieren und immer wieder danebentappen, auch eine unglaubliche Geduld hat und an ihnen festhält und sie fördert - wodurch sie dann tatsächlich die Säulen der Kirche werden.
Wenn Gott so ist, wenn wir auf den langmütigen Gott vertrauen, dann kann er uns eine gewisse Sorglosigkeit schenken. In der Bergpredigt ermutigt Jesus: „Macht euch also keine Sorgen und fragt nicht: Was sollen wir essen? Was sollen wir trinken? Was sollen wir anziehen? Denn nach alldem streben die Heiden. Euer himmlischer Vater weiß, dass ihr das alles braucht. Sucht aber zuerst sein Reich und seine Gerechtigkeit; dann wird euch alles andere dazugegeben“ (Mt 6, 31-33). Wenn das so ist, wenn Gott so ist, dann kann das eine große Gelassenheit mit sich bringen.
Und so können sich unsere Sorgen und unsere Ungeduld „relativieren“ (darin steckt das lateinische Wort „relatio“ = Beziehung; „relativieren“ heißt wörtlich genommen „mit etwas anderem in eine Beziehung bringen und dadurch in seiner Gültigkeit einschränken“): Wenn wir sie in unsere Beziehung zu Gott einbringen, hineinstellen, dann kann er uns Anteil geben an seiner göttlichen Geduld – bis dahin, dass dann jemand über einen sagen kann: „Der hat ja eine himmlische Geduld mit …“.
Dass Sie in der Corona-Zeit und darüber hinaus immer mehr von dieser „himmlischen Geduld“ erfüllt werden,
das wünsche ich Ihnen von Herzen.
Ihr
Dr. Christoph Maria Kohl
Domdekan & Domkustos
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Die Sache mit den „guten Vorsätzen“ zum neuen Jahr …
Vom neuen Jahr liegt schon mehr als ein halber Monat hinter uns. Haben Sie auch gute Vorsätze für das neue Jahr gefasst, wie viele das tun? Das heißt dann: Sie überlegen sich, was Sie in ihrem Leben und an sich selbst stört und was Sie deshalb ändern möchten. Wunderbar, wenn jemand bewusst lebt und in den Blick nimmt, was nicht stimmig ist. Nur hat die Sache mit den „guten Vorsätzen“ einen Haken: Sie funktionieren meistens nicht. Nicht umsonst sagt der Volksmund: „Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert.“ Die Erfahrung zeigt, dass gute Vorsätze selten der Weg sind, der zu einer wirksamen Verhaltensänderung führt.
Das wundert mich nicht. „Einen guten Vorsatz fassen“ bedeutet ja: Ich sehe eine ungute Verhaltensweise, eine Schwäche, eine Unart von mir und fasse den Entschluss, dass ich es in Zukunft nicht mehr so oder anders mache. Ich gehe „dagegen“ an - mit der Gefahr, dass ich mich dann auf diese Schwachstelle fixiere und dadurch nicht von ihr loskomme. Und wenn ich mir „dagegen“ eine andere, positive Verhaltensweise vornehme, geht das im Regelfall nicht so einfach. Gute Vorsätze führen selten zum erwünschten Ziel. Wie anders kann es klappen, dass sich etwas ändert, wo ich es wirklich für not-wendig erachte?
Der Jesuit Willi Lambert, der in seinen Schriften und Vorträgen die Spiritualität des hl. Ignatius von Loyola sehr gut für das alltägliche Leben erschließt, hat ein hilfreiches Schema entwickelt. Er unterscheidet drei Ebenen: Die oberste Ebene ist das „Verhalten“, darunter liegt die Ebene der „Haltung“ und nochmals darunter die Ebene des „Halts“ − und alle drei hängen miteinander zusammen: Wenn ich möchte, dass sich auf Ebene des Verhaltens bei mir etwas ändert, dann muss ich nach dessen Ursache schauen, auf den Wurzelgrund, aus dem dieses Verhaltens herauswächst. Das ist die Ebene darunter, die Ebene der „Haltung“: innere Haltungen, Grundhaltungen, Einstellungen und Prägungen. Dort muss ich ansetzen, wenn ich möchte, dass sich auf der Ebene meines Verhaltens wirklich etwas ändern soll. Das, was Lambert mit „Haltung“ beschreibt, hat seinerseits wiederum einen Wurzelgrund, aus dem es herauswächst, das, was die „Haltung“ nährt und stützt (oder nicht). Das ist die darunterliegende Ebene „Halt“.
Damit ist das gemeint, was mir in meinem Leben Halt gibt, das innere Fundament, der Glaube und das Gottvertrauen. Wenn mir aufgeht, dass sich auf der Ebene der „Haltung“ etwas Ungutes eingeschlichen hat; wenn ich möchte, dass sich eine Grund-Einstellung ändert, dann muss ich auch hier eine Ebene tiefer ansetzen, nämlich auf der Ebene des „Halts“; dann wäre dran, etwas für einen stärkeren, tieferen „Halt“ zu tun − und das hat dann förderliche Konsequenzen für alles, was „Haltung“ meint − und wenn die „Haltung“ dadurch gestärkt und vertieft wird, dann wirkt sich das unweigerlich auf das „Verhalten“ aus − weil das Verhalten Frucht der „Haltung“ ist.
Die „guten Vorsätze“ beziehen sich normalerweise auf eine konkrete Verhaltensweise - und scheitern oft, weil sie sich eben nur auf diese obere Ebene als solche beziehen und dort steckenbleiben. Wenn ich auf dieser Ebene etwas entdecke, was ich gerne ändern würde, dann muss ich dazu auf der Ebene darunter ansetzen, der der „Haltung“, weil dort eben der Wurzelgrund für das Verhalten liegt. Anders gesagt: In jedem „Verhalten“ offenbart sich die zugrundliegende „Haltung“, und es hilft dann weiter, wenn ich in mir „nachschaue“, nachspüre, was bei mir auf dieser Ebene der Einstellungen und Prägungen los ist. Von daher kann sich für das Verhalten manches er-klären. Mehr noch: Es kann sich herausstellen, dass auf der Ebene der „Haltung“ ein gewisser Renovierungsbedarf besteht - wie bei einem Haus, bei dem das Erdgeschoß stabil dastehen muss, wenn das darüber liegende Stockwerk nicht gefährdet sein soll, nicht auf wackligen Füssen stehen soll. Auf jeden Fall ist es hilfreich, wenn ich mich vergewissere, wie es in mir auf der Ebene „Haltung“ aussieht. Wenn sich dabei herausstellt, dass in mir auch Haltungen und Grund-Einstellungen am Wirken sind, die mir und anderen nicht gut tun, dann braucht mich das nicht umzuwerfen oder mir Angst zu machen; ich bin dem nicht ohnmächtig ausgeliefert. Dann geht es aber auch auf dieser Ebene nicht darum, „gegen“ dieses „Ungute“ anzugehen. Dann wäre dran, dass ich im „Haus meiner Persönlichkeit“ in den Keller steige, den tatsächlichen Zustand meines Fundaments anschaue, auf dem mein Lebenshaus steht, und den inneren Grund, auf dem ich, mein Leben und mein Lebenskonzept aufruhen. Und spätestens dann und dort kommt Gott ins Spiel − der DER Halt, DAS Fundament seiner ganzen Schöpfung und jedes Einzelnen ist − und sich danach sehnt, dass jede und jeder das für sich nachvollzieht und so einen sicheren, tragfähigen Halt für sein eigenes Leben bekommt und den spürt − und daraus leben kann. Je stärker und tiefer jede/r Einzelne in Gott verwurzelt ist, desto mehr wirkt sich das automatisch auf die Ebene der „Haltung“ und von dort auf das „Verhalten“ aus.
Auf diese tiefgründigere Art und Weise kann eine konkrete Verhaltensänderung geschehen. Und wir können auf Gottes Beistand vertrauen. Er weiß ja, dass wir Fehler und Schwächen haben, dass wir Sünder sind, d.h. dass es in uns manches gibt, was den Lebensstrom, mit dem und in dem er uns beleben möchte, hemmt und aufhält. Deshalb hat er uns ja erlöst und lädt jeden ein, sich in eine tiefere Gottesverwurzelung und in eine größere innere Freiheit führen zu lassen. Das geschieht auch dadurch, dass er oder sie den skizzierten Weg der Umkehr und des inneren Wachstums mitgeht. Gott möchte uns darauf führen. Der Weg vom „Verhalten“ zur „Haltung“ und weiter zum „Halt“ ist nicht etwas, was ich „machen“, leisten „muss“.
Diesen Weg kann ich im Gebet, als Gebet gehen − indem ich Gott darum bitte, dass er mir die Augen öffnet für alles, was er mir auf diesem Weg zeigen möchte, und dass er mich dabei gleichsam „an der Hand nimmt“ und tiefer führt. Allein schon, wenn ich diesen inneren Weg auf diese Weise gehe, kann Gott mehr zum wirklichen Grund meines Lebens werden − was sich dann wiederum „nach oben“ positiv auswirkt …
Dass Sie auf diese Weise der Quelle des Lebens näherkommen, dass sich als Frucht einer lebensförderlichen „Haltung“ und eines stärkeren „Halts“ auch die Verhaltensänderungen ergeben, die Sie für sich erhoffen,
das wünsche ich Ihnen von Herzen.
Ihr
Dr. Christoph Maria Kohl
Domdekan & Domkustos
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Die Corona-Ausnahmesituation hält uns im Griff und wird noch länger weitergehen. Es ist nicht nur eine Geduldsprobe, es ist eine wirkliche Krisenzeit, die ja noch dazu langfristige Folgen haben wird.
In allen solchen Krisen hat es derjenige leichter, der ein gesundes Selbstbewusstsein und eine tiefgründige, gefestigte Identität hat und sich seiner Würde bewusst ist. Denn das trägt wesentlich dazu bei, dass jemand besser dasteht und gut mit den Herausforderungen umgehen kann.
Am Fest der Taufe Jesu, in das der Weihnachtsfestkreis einmündet, leuchtet auf, was der Kern der Identität Jesu ist. Bei seiner Taufe spricht ihm sein göttlicher Vater zu: „Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen gefunden“ (Mk 1,11).
Die Taufe Jesu kann uns an unsere eigene Taufe erinnern. Auch dabei ist jeder und jedem von uns von Gott eine Identität zugesagt, ja geschenkt worden, im Taufgottesdienst leuchtet die Würde auf, die von Gott her jeder und jedem gegeben wird.
Am Anfang des Taufgottesdienstes werden die Eltern nach dem Namen des Täuflings gefragt. Der Name bezeichnet diese einmalige Person. „Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du gehörst mir.“ (Jes 43,1) - das spricht Gott jedem Einzelnen zu. Bei Gott „hat jeder einen guten Namen“. Er möchte mit seiner bedingungslosen Liebe in jeder und jedem das fördern und entfalten, was er in ihr und ihm angelegt hat.
Dann wird dem Täufling ein Kreuz auf die Stirn bezeichnet. Bevor jemand von Leid und schweren Lebenserfahrungen „gezeichnet“ werden kann, ist er ganz grundlegend gezeichnet mit dem Zeichen Jesu, dem Zeichen der Liebe, die stärker ist als alles, was einem im Leben zusetzen kann. Das Kreuzzeichen auf der Stirn verbindet jeden mit dieser Quelle der Liebe; es ist ein Ehrenzeichen und ein Lebenszeichen – und eine Kraftquelle.
Wenn dann die Heiligen als Fürsprecher angerufen werden, wird darin über unsere Identität deutlich: Wir sind eingebettet in die „Kirche des Himmels“. Wir können auf den Beistand der Heiligen und auch unserer Verstorbenen bauen. Keiner von uns muss sein Leben allein, aus eigener Kraft stemmen. Und das Ziel des Lebens wird in den Blick gerückt: Durch den Glauben und die Taufe sind wir selbst „Geheiligte“ (so redet Paulus in seinen Briefen die Christen an). Gott möchte jeden als diese einmalige Person mit ihrem eigenen Leben vollenden; jede und jeder ist ihm als sie/er selbst unendlich wertvoll.
Das kommt auch zum Ausdruck in der Salbung mit dem Chrisam, dem geweihten Öl. Gesalbt wurden früher Könige und Kaiser. Bei Gott aber ist jeder eine „VIP“, jeder „sitzt bei ihm in der ersten Reihe“ und bekommt von ihm eine unverlierbare Würde und Ehre. Denn die Kraft Jesu und sein Geist werden in ihn hineingelegt, damit sie uns „auszeichnen“ und zu unserem Wesen dazugehören – dann haben wir eine tiefgründigere Identität, und dann lebt es sich anders.
Auch das weiße Taufkleid, das dem Täufling aufgelegt oder angezogen wird, ist „ein Zeichen für diese Würde“ (wie es im Taufritus heißt). Es steht für das Festtagskleid, mit dem Gott die Seinen zum „himmlischen Hochzeitsmahl“ und vorher schon zur Festgemeinschaft mit Jesus und zum „Leben in Fülle“ (Joh 10,10) ruft. Damit jeder dabei „mitkommt“, wird er jetzt symbolisch wie mit einer zweiten Haut, einer zweiten Natur mit dem Geist Jesu umkleidet, ja mehr noch: „In der Taufe hast du Christus angezogen“ (Taufritus) – damit ER deine eigentliche Schönheit immer mehr aufleuchten lässt und dich innerlich immer mehr prägt.
Schließlich wird die Taufkerze für das Kind an der Osterkerze entzündet. Auch dadurch werden noch weitere Aspekte der gottgeschenkten Identität eingespielt. Die Osterkerze steht für Jesus Christus, der das „Licht der Welt“ ist (Joh 8,12) und als solches stärker ist als alles, was unser Leben verdunkeln kann. Dieses Licht, ER selbst, leuchtet über meinem Leben und in meinem Herzen – ich kann alle meine Wege in diesem Licht gehen. Und dieses Licht, ER selbst, kann uns „anstecken“ – dann „passiert“, was Jesus in der Bergpredigt zusagt: „Ihr seid das Licht der Welt“ (Mt 5,14), jeder Einzelne auf seine Weise und in seinem Maß. Die neue, tiefere Identität, die Gott uns in der Taufe schenkt, kann jede und jeden so prägen und stärken, dass sie/er „einfach so“ den Mitmenschen das Leben heller macht – eine wunderbare Berufung und „Mission“!
Diese Beispiele aus dem Taufgottesdienst verdeutlichen, dass wir Christen eine tiefgründige Identität haben, die Gott uns schenkt. Wir müssen sie uns nicht erwerben oder erarbeiten, und sie ist unverlierbar. Sie ist ein kostbares Gut für das ganze Leben. Und sie kann Halt geben und uns von innen heraus im Kern prägen. Je mehr sich jede und jeder Einzelne dieser von Gott verliehenen Identität bewusst ist und aus ihr lebt, desto mehr hat sie und er vom Leben und desto gefestigter steht sie und er auch in Krisen da und kann besser mit ihnen umgehen – auch jetzt mit der Corona-Krise.
Dass Sie vom Geist Gottes in dieser Weise gestärkt werden,
das wünsche ich Ihnen zum Fest der Taufe des Herrn
von Herzen
Ihr
Dr. Christoph Maria Kohl
Domdekan & Domkustos
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Das Jahr 2020 geht zu Ende - als ein Jahr, das stark gezeichnet ist vom CoVid-19-Virus und seinen Auswirkungen in unserem Alltag und weltweit. Für manche war es das außergewöhnlichste und anstrengendste in ihrer Lebensgeschichte. „Abgesagt“ ist das meistbenutze Wort in meinem (elektronischen) Terminkalender, das vor vielen, vielen geplanten dienstlichen und privaten Terminen steht. Unser Alltag, unsere Lebensgewohnheiten haben sich sehr verändert. Viele leiden darunter. Und es ist ungewiss, wann und inwieweit wir wieder zur früher selbstverständlichen „Normalität“ zurückehren können. Auch das Jahr 2021 wird in verschiedener Hinsicht eine große Herausforderung werden und noch viel innere Kraft kosten.
Deshalb ist zu diesem Jahreswechsel eines besonders wichtig: Dass es gelingt, das alte Jahr gut abzuschließen, seinen Frieden mit ihm zu schließen, damit wir nicht mit „Altlasten“ in das neue Jahr gehen, die unser Herz beschweren, die uns lähmen und blockieren können, die zumindest aber unnötig Kräfte binden, die wir gut für unsere Lebensaktivitäten im neuen Jahr brauchen können.
Mein Vorschlag: Nehmen Sie sich in diesen Tagen rund um den Jahreswechsel Zeit, um auf das zu Ende gehende Jahr zurückzuschauen - und vor allem, um dabei in sich hinein zu spüren, was davon in Ihnen steckt und Ihrem Empfinden, Ihrem Inneren einen Stempel aufgedrückt hat.
Das wird dann zu einer fruchtbaren „geistlichen Übung“, wenn Sie dieses Zurück- und In-sich-Schauen mit der Bitte beginnen, dass Gott dabei Ihnen die Augen öffnet für das, worauf es bei diesem Rückblick ankommt - vor allem dafür, wo er Ihnen mit seiner Nähe, seiner Führung und seinem Wirken beigestanden hat. Das kann so weit gehen, dass Sie dabei besser „lernen“, Ihr Leben und die Welt mit den Augen Gottes, mit dem Blick des Herzens Jesu zu sehen - erst recht dann erscheint alles in einem anderen, hellen Licht. Der Durchblick auf Gott und sein Wirken hin eröffnet uns die tiefsten Lebensperspektiven und die eigentliche Lebensqualität.
Wenn Sie sich einen solchen Jahresrückblick gönnen, können die folgenden Leitfragen hilfreich sein:
Wenn ich meinen Kalender durchgehe:
• Was konkret war für mich anders als geplant?
• Was an Wichtigem fiel aus?
• Was musste ich anders regeln?
• Wie hat das für mich das Jahr geprägt?
• Wie hat das auf mich innerlich gewirkt?
Wie konnte ich äußerlich und innerlich mit dem umgehen, was so anders kam als geplant oder erhofft?
• Lässt mich das enttäuscht - mit einem Seufzer - ratlos - niedergeschlagen - wie gelähmt - deprimiert - verzweifelt - … zurück?
• Hat mich die unliebsame äußere Situation innerlich im Griff?
• Oder habe ich genügend inneren Abstand zu ihr, so dass ich frei(er) mit ihr umgehen kann?
• Konnte ich mich auf die neuen, ungewollten Umstände innerlich gut einstellen, so dass ich das Beste aus und in der Situation machen konnte? Wenn nicht: Warum nicht?
Was ist meine Grundstimmung zum Jahreswechsel?
• Welche „inneren Regungen“ (ein Ausdruck von Ignatius von Loyola; er meint damit das, was tiefer geht als Gefühle, also innere Grundbewegungen, die uns und unser Empfinden, Denken und Handeln von unserer inneren Mitte her faktisch prägen und bestimmen) spüre ich in mir?
Das, was sich dabei alles zeigt, kann jede und jeder dann Gott übergeben, entweder „wie fröhlich singende Vögel zum Himmel steigen lassen“ oder IHM „wie schwer lastende Steine an den Fuß des Kreuzes hinknallen“ - Stoßgebete, die für alles Raum haben und IHM alles hinhalten, was in unserem Herzen drin ist. Auch das kann sehr ent-lastend und befreiend wirken.
Um nicht mit unnötigen Altlasten in das neue Jahr zu gehen, kann eventuell sinnvoll sein, ganz bewusst durch Trauer und Versöhnung hindurch seinen Frieden zu schließen mit dem, wie das Jahr war - und mit mir, wie es mir damit ging; wo ich nicht lebensförderlich mit dem Gegebenen umgehen konnte; mit dem, was mir in dieser Ausnahmesituation nicht gut gelungen ist - und mit mir selbst, der ich durch dieses Jahr vielleicht auch anders geworden bin, als ich wollte. Wenn dabei eigenes Ungenügen, Schwäche und Versagen mit im Spiel war und ist, dann ist das keine Tragik - sondern kann für uns im Gegenteil ein guter Anlass dafür sein, dass wir vor Gott zu dem stehen, wie wir nun mal sind, und dass wir uns genau dort, wo wir seine Hilfe und heilende Kraft am nötigsten haben, von ihm anrühren und innerlich verwandeln lassen. Der bedingungslos liebende und verzeihende Gott ist uns gegenüber immer gnädiger und wohlwollender, als wir selbst es zu uns sind …
Wer vor dem gütigen und heilsamen Blick Gottes das zu Ende gehende Jahr und sich selbst so annehmen kann, wie es nun mal war und wie er/sie nun mal jetzt dasteht, der wird innerlich frei für alle Lebenschancen, die das neue Jahr uns bietet, egal wie die äußeren Umstände sind: Gott spielt uns 365 Tage lang sein Leben zu, damit wir auf unseren Alltagswegen dem „Leben in Fülle“ (Joh 10, 10) weiter entgegengehen, ja in es hineingehen.
Das Sie und Ihre Lieben das so erleben können,
das wünsche ich Ihnen von Herzen!
Ihr
Dr. Christoph Maria Kohl
Domdekan & Domkustos
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Die Weihnachtstage werden dieses Jahr ganz anders als sonst, ganz anders, als wir es uns wünschen. Das Corona-Virus verhagelt uns vieles, was zu den guten Gewohnheiten an den Festtagen dazu gehört, was sie schön macht, und es verhagelt deshalb vielen auch die weihnachtliche Stimmung. Das Fest des Friedens, der Familie und der Gemeinschaft unter Corona-Bedingungen so zu feiern, dass es uns gut tut, das ist eine Herausforderung. Aber warum sollte es nicht möglich sein? Die Umstände sind, wie sie sind. Die Frage ist, wie es uns gelingt, uns innerlich und äußerlich auf sie einzustellen - und das Bestmögliche daraus zu machen.
Das haben wir auch mit der Weihnachtskrippe im Dom versucht. Es war klar: Wegen der sonst langen Schlangen und dem dichten Gedränge vor der großen Krippenlandschaft können wir sie dieses Jahr im Dom nicht aufbauen - das wäre wegen der Infektionsgefahr einfach zu gefährlich. Und dann kam die Idee: Vielleicht gelingt es, dass wir sie, in einzelne Figuren-Gruppen aufgeteilt, in Schaufenstern von Speyerer Geschäften präsentieren können. Dann können die Menschen sie im Vorbeigehen betrachten. Acht Geschäfte haben sich dafür gemeldet, und inzwischen stehen die Figuren der Krippe alle in den Schaufenstern - bis auf die heilige Familie, die natürlich erst am Heiligabend in den Stall kommt.
Diese Aktion ist aus der Not geboren, weil wir die Krippe im Dom eben nicht aufstellen können. Aber sie ist viel mehr als eine Notlösung. Sie dient nicht nur dazu, dass die Menschen die Krippe doch noch irgendwie anschauen können. Sie hat darüber hinaus, wie mir immer mehr aufging, einen tieferen, positiven Sinn. Was steckt da drin, was kommt darin zum Ausdruck?
Erstmalig steht die Krippe nicht im Dom, nicht dort, „wo sie hingehört“, wo man sie erwartet und sucht. Die ganze Krippe musste „auf Herbergssuche gehen“, weil im Dom diesmal „kein Platz für sie war“ - wie für Jesus damals in Betlehem (Lk 2, 7). Das Ergebnis: Die Krippe ist aus der Kirche hin zu den Menschen gewandert, auf die Hauptstraße, in die Geschäfte, in die Alltagswelt. Das Jesuskind, der menschgewordene Gott, findet seinen Platz mitten in der Welt, dort, wo sich das Leben der Menschen abspielt. Mehr noch: Indem die Krippe, Jesus, Gottes Sohn, in die Geschäfte kommt, ist er bei Menschen, die als von der Corona-Krise direkt Betroffene zum Teil um ihre berufliche und wirtschaftliche Existenz bangen müssen, die nicht wissen, wie es für sie, ihre Familie und ihre Angestellten weitergehen soll.
Genau darin kommt sehr gut zum Ausdruck, was für die Botschaft von Weihnachten zentral ist, was die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus für uns und unser Leben bedeutet.
Gott, der die Welt erschaffen hat, erhält und vollendet, wird Mensch, ein kleines Kind, das genauso hilflos und auf andere angewiesen ist wie alle Neugeborenen - das ist unglaublich! Der große Gott macht sich ganz klein, um einer von uns zu sein, um unser Leben zu teilen mit allem, was dazu gehört (bis zum furchtbaren Tod am Kreuz), um uns dadurch nahe zu sein auf allen unseren Wegen, erst recht in Not und tiefem Leid - und um durch Jesus dem Bösen und aller Not und dem Tod die Macht über uns zu nehmen, um uns zum „Leben in Fülle“ (Joh 10,10) zu befreien. Das spiegelt der Name „Jesus“ wider, denn das heißt „Gott rettet“. Und dieser Jesus hat, bevor er anfing, von Gottes neuer Welt zu verkünden und Menschen zu heilen, 30 Jahre lang in Nazaret gelebt, in der Familie, in der Stadt, hat als Handwerker gearbeitet, hat dort einfach das Leben der Menschen geteilt als Mensch unter den Menschen - und dabei alles mitbekommen, was das Leben ausmacht und was die Menschen bewegt. Allein schon das hat seinen Mitmenschen gut getan - und diese seine Erfahrungen haben das geprägt, was er später öffentlich verkündigt hat. Er war und ist der „Immanuel“, der „Gott-mit-uns“, der nicht nur im Tempel, in der Kirche „wohnt“, sondern mitten unter uns, in unseren konkreten Lebenswelten und in unseren Herzen - und uns gerade dann besonders nahe sein möchte, wenn Sorgen, Not und Angst unser Leben und unser Herz zu verfinstern drohen.
Diesen zentralen Aspekt von Weihnachten spiegelt für mich die „Dom-Krippe in den Schaufenstern“ wider. Wenn er unser Inneres prägt, erscheint auch dieses Weihnachtsfest in einem hellen Licht - und unser ganzes Leben, gleich wie die Umstände sind.
Dazu kommt noch ein Zweites: Wenn der menschgewordene Gott uns gerade in Not und Angst besonders nahe sein will und wenn diese spürbare Nähe uns innerlich ausfüllt, prägt und verwandelt, dann können wir als Christen heute unseren Mitmenschen das schenken, was Jesus damals den Leuten geschenkt hat - und wozu er uns in seiner Nachfolge befähigt und beruft. „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi. Und es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen seinen Widerhall fände“, so formuliert es das Zweite Vatikanische Konzil zu Beginn seines wegweisenden Dokuments „Die Kirche in der Welt von heute“.
Von daher war für mich bewegend, wie einige der Geschäftsleute, bei denen ich wegen der Krippe war, mir ihre großen Sorgen und Nöte, in die sie jetzt wegen des erneuten Lockdowns kommen, erzählt haben. Beim Zuhören sind sie mir ans Herz gewachsen, und ich bete jetzt intensiv auch für sie.
Die Krippe in den Geschäften, der menschgewordene Gott mitten in der Welt, in unsrem Alltagsleben: Wenn wir SEINE Nähe spüren, dann kann uns das verwandeln – und wir können dann auch dazu beitragen, dass unsere Mitmenschen durch uns SEINE Nähe spüren, mitten in dem, was ihnen das Leben schön und beschwerlich macht.
Wenn diese zentralen Botschaften von Weihnachten das Fest auch unter Corona-Bedingungen prägen, dann kann es richtig schön werden.
Das wünsche ich Ihnen und Ihren Lieben von ganzem Herzen!
Ihr
Dr. Christoph Maria Kohl
Domdekan & Domkustos
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Die Corona-Lage spitzt sich derzeit zu. Die Zahl der täglich Neuinfizierten und der an bzw. mit Covid-19 Gestorbenen erreicht Höchststände. Und das, obwohl ein Teil-Lockdown mit nächtlicher Ausgangssperre an immer mehr Orten verfügt worden ist. Viele Menschen, Restaurants, Geschäfte und die ganze Kulturszene bangen um ihre Zukunft. Die Aussichten auf halbwegs normale Weihnachtstage schwinden. Die innere Anspannung bei den Menschen und in der Gesellschaft steigt. Eine bedrückende Situation.
Und mitten da hinein ruft der Dritte Adventssonntag:
„Freut euch im Herrn zu jeder Zeit! Noch einmal sage ich: Freut euch! Denn er Herr ist nahe.“ (Phil 4, 4-5)
Diese Bibelsätze werden im gregorianischen Eröffnungsgesang („Introitus“) dieses Adventssonntags in Latein gesungen - und daher hat dieser Sonntag seinen Namen: „Gaudete - Freuet euch!“ Natürlich ist diese Bibelstelle als Leitgedanke für den Dritten Advent ausgesucht, weil Weihnachten, das Fest der Menschwerdung Gottes, nahe ist. Aber in dem, was uns an diesem Sonntag zugesungen wird, geht es um mehr, um etwas für unseren Glauben Zentrales. Mit diesen Worten spricht der Apostel Paulus in seinem Brief den Christen in Philippi Mut und Zuversicht zu: ‚Ihr habt allen Grund, euch zu freuen, denn Jesus Christus, Gott ist euch nahe!‘ Das ist der tiefste, unerschütterliche Grund der Freude - unserer Freude am Leben, an den Menschen, an uns selbst. Diese Freude ist also nicht davon abhängig, wie es den Philippern oder uns heute geht, sondern ergibt sich daraus, dass Gott uns erst recht in seinem menschgewordenen Sohn Jesus Christus nahe ist - und das kann uns keine noch so beschwerliche Situation nehmen; von dieser Freude habe Menschen sogar im KZ leben können, ja sie hat ihnen gerade dort Kraft zum Überleben gegeben.
„Die Freude steckt nicht in den Dingen, sondern im Innersten unserer Seele“, formuliert die heilige Therese von Lisieux. Und diese Freude besteht darin, dass wir dort die Nähe und Gegenwart Gottes spüren.
Christ sein bedeutet, in der Gegenwart Gottes zu leben - die er uns schenkt. Dass er selbst Mensch geworden ist, dass Gott in Jesus Christus alles, was zum menschlichen Leben dazugehört, selbst mitgemacht, ja „am eigenen Leib erlebt“ hat, das zeigt unüberbietbar, wie sehr Gott daran liegt, dass er bei uns ist, unsere Wege mitgeht, uns spürbar nahe ist.
Die Frage ist dann nur, ob wir diese seine Nähe und Gegenwart spüren, ob wir dafür sensibel und empfänglich sind. Der menschgewordene Gott ist uns auf vielerlei Weise nahe:
• im Wort der Heilige Schrift;
• in Gebet und Meditation und in der Stille;
• in Gottesdienst und Gesang;
• in der Eucharistie, der Heiligen Kommunion;
• in den Sakramenten als starken Zeichen der Nähe Gottes;
• im Segen, den wir empfangen - und selbst weiterschenken, ja sein können;
• in den Menschen, die uns ihre Liebe schenken, die es gut mit uns meinen - die dadurch Werkzeuge der Liebe Gottes sind und sie widerspiegeln;
• in den Menschen, die in Not und Armut sind - weil Jesus Christus selbst uns in ihnen begegnet (s. Mt 25, 31-46);
• in unseren Alltags-Erlebnissen, vor allem in tieferen Erfahrungen, die für uns prägend oder wegweisend sind;
• wenn wir Hilfe und Rettung aus einer Notlage, aus äußerer oder innerer Bedrängnis geschenkt bekommen haben;
• in der Schöpfung, die Gott als „gut“ erschaffen hat und die seine Güte offenbart.
Wir können „Gott in allen Dingen suchen und finden“ - das ist der Leitgedanke von Ignatius von Loyola. Der Dritte Adventssonntag „Gaudete - Freuet euch! Denn der Herr ist nahe.“ lädt uns ein, dafür die Augen offen zu halten, dafür wache Menschen zu sein - gerade mitten in allem, was uns bedrängt.
Unser Bischof Karl-Heinz Wiesemann hat in seiner Ansprache in der Adventsandacht „Halte.Punkt.Advent“ am 5.12. formuliert: „Gott thront nicht fernab dieser Welt. Er sieht nicht distanziert und gefühlskalt auf uns herab. Er hat sich uns so sehr zu Herzen genommen, dass er unser Mensch-Sein angenommen hat, um alles mit uns zu teilen: alle Hoffnungen und Freuden, aber auch alle Sorgen und Ängste. Wenn das kein Grund zur Freude ist?!“
Ihr
Christoph Maria Kohl
Domdekan & Domkustos
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Der Advent ist eine Zeit des Wartens. Die Kinder „warten aufs Christkind“ und auf das, was es ihnen mitbringt. Die Familien sind - in normalen Zeiten ohne das Virus - in froher Erwartung der Festtage, an denen sie sich treffen und frohe Gemeinschaft erleben können. Alle sehnen sich nach einer Zeit, in der man zur Ruhe kommen kann, einer Zeit des äußeren und inneren Friedens. Die Christen warten auf Jesus Christus, dessen Geburt wir an Weihnachten feiern und der als „Gott (, der) rettet“ (so die Bedeutung von „Jesus“ im Hebräischen) uns und unser Leben verwandeln will in sein „Leben in Fülle“ (Joh 10,10) und der deshalb immer wieder neu auf uns zukommt.
Dieses Jahr warten wir auch ganz konkret auf einen Impfstoff gegen die Corona-Virus-Infektion, der für die ganze Welt entscheidend wichtig ist.
Es gibt ganz verschiedene Arten des Wartens:
• das widerwillige, leere Warten auf den verspäteten Zug;
• das bange Warten auf ein ganz wichtiges Untersuchungsergebnis beim Arzt;
• das ängstliche Bibbern vor einer Prüfung;
• wenn Eltern „in freudiger Erwartung“ sind, weil sie ein Kind bekommen;
• das sehnsüchtige Warten auf einen geliebten Menschen (wunderbar beschrieben in der Bibel im Hohelied der Liebe!);
• das Herbeisehnen der Rettung aus einer Notlage.
Ein Unterschied dabei ist besonders wichtig: Es gibt ein passives Warten, das mir quasi verordnet ist und mich zum Ab-warten zwingt, obwohl ich es gar nicht will. Das kann Kraft kosten oder gar lähmen. Und es gibt ein aktives Warten, bei dem ich von mir aus etwas oder jemanden er-warte, etwas herbeiwünsche. In dieser frohen Erwartung richte ich mich auf etwas Schönes oder jemand für mich Wichtigen aus und ich werde dafür offen und empfangsbereit. Ich spüre meine Sehnsucht, und meine Vorfreude steigt. Das kann Lebensmut und neue Kräfte wecken.
Im Advent geht es um dieses aktive Warten. Das spiegeln viele Adventslieder (im Gesangbuch „Gotteslob“ Nr. 218 - 234 und 763-766) wider. Ihre Bilder stellen uns vor Augen, was wir von Gott her zu erwarten haben, was er uns schenken möchte, was er aus jeder und jedem von uns machen möchte. Und die Adventslieder laden uns ein, ihn innerlich aktiv zu erwarten, uns auf den Rettergott hin auszustrecken: „O Gott mit uns, wir harren dein; komm, tritt in unsre Mitte ein.“ (Gotteslob 763 „O komm, o komm, Emmanuel“, 3. Strophe). Diese Grundhaltung öffnet uns für die Quelle des Lebens - und für die konkreten Lebenschancen und Lebensmöglichkeiten, die Gott uns jeden Tag neu zuspielt und in denen er auf uns zukommt. Wer dafür offen und empfänglich ist, der kann in seinem Leben Erfüllung finden.
Von daher kann es nur gut sein, bei sich selbst nachzuspüren,
• wo welche Art von „Warten“ in meinem Leben eine Rolle spielt,
• wo passives und aktives Warten in meinem Alltag vorkommen,
• ob ich meine Sehnsucht spüre, die mich auf Lebenswichtiges ausrichtet,
• ob ich ein Mensch bin, der „in froher Erwartung“ lebt und sich in dieser Grundhaltung auf das ausstreckt, was seinem Leben Erfüllung geben kann.
Und ganz entscheidend ist dabei, ob ich in diesem meinem Warten auch Erwartungen an Gott habe oder nicht. Anthony de Mello, indischer Jesuit und spiritueller Lehrer, hat das treffend in Worte gefasst (in: Anthony de Mello, Von Gott berührt. Die Kraft des Gebetes. Herder - Freiburg, Basel, Wien 1992, S. 14-15). Was er Menschen, die Exerzitien machen, als Grundhaltung empfiehlt, gilt grundsätzlich für alle, die aus dem Vertrauen auf Gott leben möchten:
„Worauf es konkret ankommt: Eine Haltung.
Für ihr Gebet morgen und in den nächsten Tagen möchte ich Ihnen eine Haltung und eine Übung empfehlen. Die Haltung ist die einer hochgespannten Erwartung. Der heilige Johannes vom Kreuz sagt, jemand erhalte so viel von Gott, wie er von ihm erwarte. Wenn Sie nur wenig erwarten, werde Sie gewöhnlich auch nur wenig erhalten. Wenn Sie viel erwarten, werden Sie viel erhalten. Brauchen Sie in Ihrem Leben ein Wunder der Gnade? Dann müssen Sie fest damit rechnen, dass ein Wunder geschieht. Wie viele Wunder haben sie schon ganz persönlich erlebt? Keine? Das liegt nur daran, dass Sie keine erwartet haben. Gott lässt Sie nie im Stich, wenn Sie große Hoffnungen auf ihn setzen; vielleicht lässt er Sie warten, vielleicht kommt er aber auch sofort; oder er kommt plötzlich und unverhofft wie – um mit Jesus zu sprechen – „ein Dieb in der Nacht“. Aber kommen wird er sicher, wenn Sie damit rechnen, dass er kommt.“
Für die weitere Adventszeit wünsche ich Ihnen,
dass Sie in diese Grundhaltung immer tiefer hineinwachsen
und dass Sie so bestens dafür bereit sind,
dass Gott immer neu zu Ihnen kommen und Sie beschenken und erfüllen kann.
Ihr
Christoph Maria Kohl
Domdekan & Domkustos
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Der Advent, Weihnachten und Silvester werden dieses Jahr ganz anders sein als sonst - weil wegen Covid-19 vieles nicht möglich ist, was sonst selbstverständlich zu unseren Gewohnheiten und „Riten“ in dieser Zeit dazugehört: kein Bummel über den Weihnachtsmarkt; keine gemütliche, gemeinsame Runde durch die Geschäfte für die Weihnachtseinkäufe; keine Advents- oder Weihnachtsfeier in der Firma; kein Weihnachts- oder Skiurlaub; keine unbeschwerte Treffen in der Runde der Freunde und mit der ganzen Familie; keine Adventsmusik-Konzerte, kein „Weihnachtsoratorium“; kein Chorgesang in der Kirche, auch an Weihnachten nicht; keine ausgelassene Silvester-Feier in großer Runde.
All das geht dieses Jahr nicht, all das fehlt uns gerade im Advent. Und dazu kommt eben noch, dass das tückische Virus wie ein Geier über unseren Städten und Büros und Häusern kreist und uns immer heimlich bedroht. Beides zusammen drückt erst recht auf das Gemüt. Es kann traurig machen, es kann uns innerlich lähmen, ja sogar depressiv machen.
Wie können wir so damit umgehen, dass wir nicht auf die Spur des Jammerns und des Niedergedrückt-Seins kommen? Was kann helfen, dass wir besser mit der durchaus belastenden Situation umgehen können? Ich möchte einen Gedanken unseres Dompfarrers Matthias Bender aufgreifen, den er im Newsletter der Pfarrei Pax Christi Speyer vom 6. November 2020 ausgeführt hat.
In der Bibel, gerade in den Psalmen des Alten Testaments, drücken die Menschen ihre Stimmungen und Gefühle Gott gegenüber unverblümt und ohne Selbstzensur aus. Es gehört zu ihrem Beten selbstverständlich dazu, dass sie ihre Sorgen und ihre Not „Gott vor die Füße werfen“, dass sie klagen, ja sogar Gott anklagen und mit ihm hadern - all das hat seinen Platz im Gebet, einfach deshalb, weil es den Betroffenen genau so geht.
Eine Form davon ist das „Ach-Gebet“: ein Stoßgebet, in dem die Menschen „ihr Weh und Ach“ (wie man so treffend sagt!) vor Gott bringen: „Ach, Herr, …“. So z.B. in Psalm 118: „Ach, Herr, bring doch Hilfe! Ach, Herr, gib doch Gelingen!“
Oder in Psalm 116: „Ach, Herr, rette mein Leben!“ An manchen Stellen seufzt sogar Gott selbst ein lautes „Ach, …“, wenn er sieht, dass sein geliebtes Volk sich selbst um sein Glück bringt, das er ihm schenken möchte (z.B. Ps 81,14; Jer 4,22).
Es ist wohltuend und kann befreiend wirken, wenn ein solches „Ach-Gebet“ auch zu unserem „Gebets-Repertoire“ dazu gehört, wenn auch Sie und ich unser Weh-und-Ach genau so vor Gott bringen, wie wir es empfinden.
Dompfarrer Matthias Bender schreibt dazu: „Eine Freundin hat mich vor Jahren auf dieses Gebet hingewiesen. Auf mich wirkt es befreiend, wenn ich meine Achs und Wehwehchen vor Gott bringen kann. Manchmal tut es gut, vor Gott zu jammern. Er hört still zu und öffnet einen Raum, in dem ich aus tiefer Brust klagen kann. ‚Ach‘ bedeutet seufzen und tief durchatmen. Die schlechte Luft, die uns die Nerven raubt und uns innerlich starrmacht, kann entweichen. Manchmal weiß ich gar nicht, warum ich so mutlos bin, weil alles sich wie ein Berg auftürmt. So bringe ich mein Brummen vor Gott. Und Folgendes geschieht bisweilen: Ich muss über mich selbst schmunzeln, weil ich Leichtes allzu schwer genommen habe, und gleichzeitig gewinne ich einen recht klaren Blick auf die echte Not, meine eigene wie die der ganzen Welt. Nur fühlt sich dieser neugewonnene Blick anders an, ich fühle mich nicht mehr allein. Mein Seufzen hat das tiefe Seufzen des Heiligen Geistes berührt. Und Gottes Geist tröstet, baut auf und schafft Neues. In einem Psalm sagt der Beter: „Mit meinem Gott überspringe ich Mauern“ (Ps 18,30). Die vier harten Monate, die uns die Kanzlerin vorausgesagt hat, können wir vielleicht mutig und entschlossen angehen. Wir können Licht für andere werden, wenn unsere Herzen im Frieden sind. Das Ach-Gebet ist kein Selbstläufer und wirkt nicht einfach so gesprochen. Es braucht Ehrlichkeit und ein aufrichtiges Zulassen unserer Unzulänglichkeit und Armseligkeit. Ich kenne wenige Menschen, denen dies leicht fällt. Mir auch nicht! Ich komme meist erst auf dieses Gebet zurück, wenn ich mit meinem Latein am Ende bin. Vorher starte ich oft andere Möglichkeiten. Der heilige Thomas von Aquin zum Beispiel rät bei Schwermut zu einem Vollbad. Das fand ich bei einem so gelehrten Mann eigentlich lustig, und mir hat es auch schon geholfen.“
Ich möchte Sie dazu ermuntern, dass Sie gerade zu Beginn dieser so ganz anderen Adventszeit sich das, was Sie verstört und niederdrückt, Ihr eigenes Weh-und-Ach, vergegenwärtigen und es als Ihr persönliches „Ach-Gebet“ Gott hinhalten und übergeben. Das ist ein wichtiger erster Schritt dazu, dass Sie innerlich freier werden können und dass es Ihnen inmitten von unliebsamen Zeitumständen gut gehen kann. Der Weg dazu führt mitten durch Seufzen, Ach und Klage hindurch - und nicht an ihnen vorbei. Deshalb: Gönnen Sie sich ihr persönliches Weh-und-Ach, und bringen Sie es ins Gebet.
Damit wünsche ich Ihnen ein gutes Hineinkommen in den Advent – Gottes Geist, der mit der ganzen Schöpfung mitseufzt (Röm 8,18-30), führe und ermutige Sie dabei!
Mit einem herzlichen Gruß
Ihr
Dr. Christoph Maria Kohl
Domdekan & Domkustos
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Mit dem Christkönigssonntag geht das Kirchenjahr zu Ende. Gerade in Corona-Zeiten kann die Glaubensperspektive, die er eröffnet, besonders hilfreich sein. Der Christkönigs-Sonntag lenkt den Blick darauf, dass Jesus Christus am Ende der Zeiten wiederkommen wird, um als „Herr der Welt“ die Welt im Ganzen und jeden einzelnen Menschen in sich einzubergen und zu vollenden - wie es im Christkönigslied (Gotteslob 375, Strophen 1 und 3) schön zum Ausdruck kommt:
„Gelobt seist du, Herr Jesus Christ, ein König aller Ehren;
dein Reich ohn‘ alle Grenzen ist, ohn‘ Ende wird es währen.
Christkönig, Halleluja, Halleluja!
Auch jeder Menschenseele Los fällt Herr, von deinen Händen,
und was da birgt der Zeiten Schoß, du lenkst es aller Enden.
Christkönig, Halleluja, Halleluja!“
Diesen Aspekt unseres Glaubens stellt uns das Christkönigsfest vor Augen. Er kann uns Hoffnung und Zuversicht schenken: Die Welt und unser Leben sind nicht dem Chaos oder dem Bösen ausgeliefert, sondern ganz in der Hand des „Pantokrator / Allherrschers“, der Anfang und Ende der Schöpfung und jeden Menschenlebens ist und uns in seiner Hand geborgen hält, gleich, was uns zustößt.
Gerade in Zeiten der Bedrängnis ist es besonders wichtig und hilfreich, dass wir uns von dieser Glaubenswahrheit tragen lassen können.
So, wie auch die Christen im 5. Jahrhundert, einer Zeit, in der die Menschen durch die Völkerwanderung, durch Unfriede und Krieg besonders bedroht waren. Damals ist vermutlich in Rom ein Gebet entstanden, das dann als „Embolismus (Einschub)“ ins Vaterunser-Gebet in der Messe eingefügt worden ist. Darin wenden sich die Menschen in ihrer Not voll Vertrauen an Gott - und haben dabei ihre Not und zugleich den Retter Jesus Christus im Blick:
„Erlöse uns, Herr, allmächtiger Vater, von allem Bösen,
und gib Frieden in unseren Tagen.
Komm uns zu Hilfe mit deinem Erbarmen
und bewahre uns vor Verwirrung und Sünde,
damit wir voll Zuversicht das Kommen unseres Erlösers Jesus Christus erwarten.“
Jedes Mal, wenn diese Bitten beim Vaterunser in der Messe gebetet werden, können wir uns mit dem, was uns bedrängt und uns das Leben schwer macht, mit hinein geben - „unseren Erlöser Jesus Christus“ im Blick, der seine Hand über uns hält und uns in seiner Hand geborgen hält - der für uns alles Böse und Lebenswidrige und den Tod überwunden hat und uns zum „Leben in Fülle“ (Joh 10,10) führt.
Deshalb endet das Vaterunser dann auch mit einem Lobpreis Gottes, der „Doxologie“:
„Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.“
Auch das ist ein uraltes Gebet; es stammt aus dem zweiten Jahrhundert. Wenn hier vom „Reich“ Gottes die Rede ist, dann haben die Beter die ausstehende Vollendung im Blick, die Jesus Christus heraufführen wird. Diese Hoffnungsperspektive möchte uns jede Messfeier neu und tiefer eröffnen. Davon ist auch der Embolismus geprägt. Denn nach der Bitte um Erlösung von allem Bösen und um Frieden kommt die Erwartung auf das „Kommen unseres Erlösers Jesus Christus“ zum Ausdruck. Das ist der tiefste Grund, warum die Gläubigen auf die Überwindung des Bösen und dessen, was unser Leben bedroht, hoffen dürfen: Jesus Christus wird vollenden, wo wir an unsere Grenzen stoßen. Das ist das Schöne an diesem Gebet: Es stellt der Erfahrung des Bösen und aller Bedrängnis die Zuversicht entgegen, dass Jesus Christus sich am Ende der Zeiten und auch jetzt schon als Retter und Vollender erweist. Darin stimmen die Gläubigen dann im abschließenden Lobpreis ein:
„Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.“
Angesichts unserer Bedrängnis durch die Corona-Pandemie, angesichts der Not unserer Zeit, der heutigen Krisenherde, kriegerischen Auseinandersetzungen und der großen Flüchtlingsbewegungen könnten die Bitten des Embolismus-Gebets aus den Zeiten der Völkerwanderung kaum aktueller und drängender sein. Deshalb empfehle ich Ihnen gerade in diesen Zeiten, sich die Bitten und die Hoffnungsperspektive des Embolismus und der abschließenden Doxologie zu eigen zu machen - als Ihr Gebet, das sie tragen und Ihnen Zuversicht und Gelassenheit schenken kann.
Das wünsche ich Ihnen zum Christkönigsfest!
Ihr
Christoph Maria Kohl
Zum Embolismus siehe auch: https://www.katholisch.de/artikel/18875-deshalb-wird-das-vaterunser-in-der-messe-unterbrochen
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Die Corona-Pandemie hat unsere Gesellschaft, unseren Alltag wieder im Griff. Der neuerliche Teil-Lockdown setzt vielen gefühlsmäßig zu, manchen noch mehr als der erste im Frühjahr. Nicht nur, weil jetzt November ist, die dunkle Jahreszeit. Auch, weil langsam dämmert, dass das Corona-Virus und seine Auswirkungen wohl noch länger eine unliebsame Begleiterscheinung und Einschränkung unseres gewohnten Lebens sein werden. Für manche sind sie eine wirtschaftliche oder existentielle Bedrohung.
„Das muss einen doch runterziehen“ hat mir jemand gesagt. Das ist verständlich. Aber es ist schade, wenn die Situation jemanden so niederdrückt. Sie kann auch ein Impuls zum Wachsen und Reifen sein - gerade auch, was die innere Freiheit und den inneren Halt des einzelnen Menschen angeht. Je größer die innere Freiheit ist, desto weniger Macht haben äußere Dinge, Situationen und andere Menschen über das Innere und das Herz eines Menschen.
Und die innere Freiheit eines Menschen hängt mit seinem inneren Halt zusammen, den er für sein Leben hat. Ein Lebens-Haus, das auf einem tragfähigen und sicheren Fundament steht, übersteht ein Unwetter besser. Einem Baum, der starke und tiefe Wurzeln hat, kann so mancher Sturm nichts anhaben.
Der Prophet Jeremia verkündet im Auftrag Gottes seinem Volk:
„So spricht der HERR:
Verflucht der Mensch, der auf Menschen vertraut, auf schwaches Fleisch sich stützt
und dessen Herz sich abwendet vom HERRN.
Er ist wie ein Strauch in der Steppe, der nie Regen kommen sieht;
er wohnt auf heißem Wüstenboden, im Salzland, das unbewohnbar ist.
Gesegnet der Mensch, der auf den HERRN vertraut
und dessen Hoffnung der HERR ist.
Er ist wie ein Baum, der am Wasser gepflanzt ist
und zum Bach seine Wurzeln ausstreckt:
Er hat nichts zu fürchten, wenn Hitze kommt;
seine Blätter bleiben grün;
auch in einem trockenen Jahr ist er ohne Sorge,
er hört nicht auf, Frucht zu tragen.“ (Jer 17, 5-8)
Diese Bilder der Bibel sind eine Verheißung - und sie sind eine Aufforderung. Sie regen dazu an, bei sich selbst nachzuspüren, ob ich „an Wassern gepflanzt“ bin und von der Quelle des Lebens genährt werde - und wie oberflächlich oder tief meine Wurzeln sind. Je tiefer meine „Gottesverwurzelung“ reicht, desto besseren inneren Halt habe ich, der gerade in Krisenzeiten hilfreich ist.
Das, was Gott seinem Volk durch Jeremia sagt, hat der Psalmist in Gebetsform gefasst - damit beginnt das „Buch der Psalmen“. Der Psalm 1 empfiehlt sich auch uns als ein Gebet, das zum inneren Wachstum helfen kann:
„Selig der Mann, der nicht nach dem Rat der Frevler geht,
nicht auf dem Weg der Sünder steht, *
nicht im Kreis der Spötter sitzt,
sondern sein Gefallen hat an der Weisung des HERRN, *
bei Tag und bei Nacht über seine Weisung nachsinnt.
Er ist wie ein Baum, *
gepflanzt an Bächen voll Wasser,
der zur rechten Zeit seine Frucht bringt *
und dessen Blätter nicht welken.
Alles, was er tut, *
es wird ihm gelingen.
Nicht so die Frevler: *
Sie sind wie Spreu, die der Wind verweht.
Darum werden die Frevler im Gericht nicht bestehen *
noch die Sünder in der Gemeinde der Gerechten.
Denn der HERR kennt den Weg der Gerechten, *
der Weg der Frevler aber verliert sich."
Ich wünsche Ihnen, dass Sie durch eine immer tiefere Gottesverwurzelung an innerem Halt, Stärke und innerer Freiheit wachsen und dadurch die Herausforderungen der Krisenzeit gut bewältigen können.
Ihr
Christoph Maria Kohl
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1.
„Super-kranke Realität“. So steht es an der Fußgängerbrücke, die vom Domgarten zum Rheinufer führt, mit dicken Buchstaben draufgesprüht. Da hat einer öffentlich ausgedrückt, wie es ihm derzeit mit der Wirklichkeit geht, vielleicht angesichts der Corona-Pandemie: „super-kranke Realität“.
Wörtlich genommen heißt das: Die Wirklichkeit ist krank, sie ist nicht normal; es stimmt etwas nicht mit dem, so wie es ist. Aber kann das überhaupt sein, dass die Wirklichkeit krank ist? Ein Mensch, ein Tier, ein Lebewesen kann krank sein. Die Realität kann ungewohnt sein, sperrig, schwer auszuhalten - aber nicht krank.
Also ist das Graffiti, richtig verstanden, ein Aufschrei, ein Hilferuf: „Hilfe, ich komme mit der Wirklichkeit nicht mehr klar. Sie ist so furchtbar, sie ist anstrengend für mich. Kann mir jemand sagen, wie ich besser mit der Realität auskommen kann, wie sie ist?“
Eine meiner meistgebrauchten Redewendungen lautet: „Es ist, wie es ist.“ Das sage ich dann, wenn ich mich über etwas wundere, was eigentlich nicht so sein sollte. Aber „es ist, wie es ist.“ Das sage ich dann mit einem gewissen inneren Seufzen - denn ich hätte auch manches gerne anders - in der Welt, in der Gesellschaft, auch in der Kirche und bei mir selbst. Aber gerade deshalb ist es wichtig, dass ich zunächst sehen und annehmen kann, dass es so ist, wie es nun mal ist. Wenn ich die Realität nicht als solche anerkenne, dann hat sie mich erst recht im Griff. Erst, wenn ich mich mit der Realität versöhne, ja anfreunde, dann kann ich gut mit ihr umgehen, ohne unnötigen Kräfteverschleiß und ohne Blockaden. Und dann kann ich sie auch verändern, soweit es möglich ist.
Und das beginnt damit, dass ich mich selbst, meine eigene Wirklichkeit, so sehen kann, wie sie ist. Je mehr ich mich mit meinen unliebsamen Seiten annehmen kann; je tiefer ich wirklich „Ja!“ sagen kann zu mir selbst, desto besser kann ich auch zu anderen und zur Wirklichkeit im Ganzen „Ja!“ sagen - und so mit ihr umgehen, dass es dabei mir und allen anderen gut gehen kann.
Als Christen können wir im Glauben gewiss sein, dass Gott ein ewig-gültiges „Ja!“ zu jedem Menschen gesprochen hat, und wir vertrauen darauf, dass Gott jede/n bedingungslos liebt und so annimmt, wie er/sie nun mal ist. Wenn wir davon überzeugt sind und das so auch erfahren, dann ist ein grundsätzliches „Ja!“ zu sich selbst und von daher zur Wirklichkeit insgesamt leichter.
Das ist der notwendige erste Schritt und die beste Voraussetzung dafür, dass jemand für einen hilfreichen Umgang mit der Realität die Grundhaltungen entwickelt, die das Gebet von Reinhold Niebuhr erbittet:
„Gott,
gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann,
den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann,
und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“
Ich wünsche Ihnen für die kommenden Wochen,
dass Sie in diesen Grundhaltungen wachsen
und so einen guten Realitäts-Sinn entwickeln
und erlöst mit der Wirklichkeit umgehen können –
mit einem herzlichen Gruß
Ihr
Christoph Maria Kohl
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1.
Im Rückblick auf die (bisherige) Corona-Zeit: Wie hat sich mir darin Gott gezeigt?
Wenn jemand zu einem geistlichen Begleitgespräch kommt (alle 4-6 Wochen), dann ist es öfter so, dass der/die Begleitete erzählt, was er/sie in den Wochen seit dem letzten Gespräch erlebt hat, was besonders schön oder schwierig war, was diese Zeit geprägt hat u.ä.. Dann frage ich ab und zu:
So zu fragen, das eigene Leben und Erleben einmal durch diese Brille anzuschauen ist für viele zunächst ungewöhnlich. Aber meist ist es sehr fruchtbar, da einem durch diese Perspektive manches neu bewusst wird - und zwar zu einer ganz zentralen Frage.
Deshalb möchte ich Ihnen nun, vor den Sommerferien und der Urlaubszeit, wo nun zugleich eine erste Phase der Corona-Zeit zu Ende geht, diese Frage(n) mit auf den Weg geben.
Nehmen Sie sich einmal Zeit dafür und gehen den o.g. Fragen nach. Am besten als eine Art Gebetszeit, in der Sie sich am Anfang vergewissern, dass Gott bei Ihnen ist und dass Sie in seiner Gegenwart sind, und in der Sie ihn bitten, dass er Ihnen die Sinne dafür öffnet, wo und wie er in den letzten Wochen bei Ihnen war und für Sie da war. Das kann dann eine spannende innere Entdeckungsreise werden!
Der große Theologe und Jesuit Karl Rahner hat gesagt: „Gott ist das bleibende Geheimnis.“ Ja, wir können Gott nicht „erklären“, mit bestimmten Worten klar definieren. Gott ist immer größer als das, was wir in Worten über ihn ausdrücken können. Aber immer schon haben die Menschen ihre Erfahrungen mit Gott (so gut, wie es geht) in Worte gefasst - im Bewusstsein, dass damit nur „ein Teil“ von Gott erfasst ist, aber eben auch in dem Bewusstsein, dass Gott selbst sich uns offenbart, damit wir in und aus der Verbindung mit ihm leben können.
Und jeder hat - bewusst oder unbewusst - ein bestimmtes Gottes-Bild, sein persönliches Gottes-Bild. Das wandelt sich und reift hoffentlich im Laufe des Lebens - mit den Lebens-Erfahrungen und darin Gottes-Erfahrungen, die jemand macht. Auch von daher ist es sehr hilfreich, diese eigenen Gottes-Erfahrungen einmal herauszukristallisieren, zu reflektieren und „auszuwerten“. Dadurch gewinnt nicht zuletzt das Leben an Tiefe.
Denn Gott ist das Geheimnis des Lebens. Und er ist Quelle und Ziel und Vollendung des Lebens. Deshalb ist der Leitsatz des heiligen Ignatius von Loyola: „Gott in allem suchen und finden“.
Wenn es darum geht, wo und wie wir etwas von Gott erfahren können, denken viele an Gebet, Meditation, Gottesdienst, Sakramente; daran, dass Gott uns in der Heiligen Schrift begegnet (in den dort niedergeschriebenen Erfahrungen, die die Menschen über Jahrhunderte mit IHM gemacht haben). Aber Gott begegnet Ihnen auch in Ihrer eigenen Mitte, in Ihnen selbst; im Nächsten, in den Notleidenden und Armen (s. Mt 25, 31-46) und in eigenem Leid; in der liebenden Begegnung - dort, wo seine Liebe fließen kann; in Augenblicken der Erfüllung, in denen Sie ganz bei sich und bei den anderen sind; in dem, was Sie konkret Tag für Tag erlebe, … Deshalb: „Gott in allem suchen und finden“.
Je mehr jemand Gott sucht und ihm irgendwie auf der Spur ist, desto mehr ist er dem Leben auf der Spur, desto mehr ist er auf der Spur des Lebens, auf dem Weg zu größerer innerer Freiheit und persönlicher Lebendigkeit.
Der Jesuitenpater Alfred Delp, ein Märtyrer der NS-Zeit, hat das so erlebt. Er hat in einem Brief geschrieben:
„Das eine ist mir so klar und spürbar wie selten: Die Welt ist Gottes so voll. Aus allen Poren der Dinge quillt er gleichsam uns entgegen.
Wir aber sind oft blind. Wir bleiben in den schönen und bösen Stunden hängen und erleben sie nicht durch bis an den Brunnenpunkt, an dem sie aus Gott herausströmen.
Das gilt für alles Schöne und auch für das Elend. In allem will Gott Begegnung feiern und fragt und will die anbetende, hingebende Antwort.
Die Kunst und der Auftrag ist nur dieser, aus diesen Einsichten und Gnaden dauerndes Bewusstsein und dauernde Haltung zu machen bzw. werden zu lassen. Dann wird das Leben frei in der Freiheit, die wir oft gesucht haben.“
2.
„Die Kunst und der Auftrag ist nur dieser, aus diesen Einsichten und Gnaden dauerndes Bewusstsein und dauernde Haltung zu machen bzw. werden zu lassen.“ Diese Einsicht von Alfred Delp bedeutet: Wer nach Gott und seinen persönlichen Gottes-Erfahrungen sucht, der kann dadurch in eine Tiefe des eigenen Erlebens geführt werden, zu der gehört, dass er/sie in der spürbaren ständigen Gewissheit lebt, dass er in der Gegenwart Gottes lebt, ja „in IHM lebt“ und von IHM als Quelle des Lebens genährt und geführt wird. Genau das ist damit gemeint, wenn Paulus den Christen in Thessaloniki schreibt: „Betet ohne Unterlass!“ (1 Thess 5, 17). Das immerwährende Gebet besteht nicht darin, dass ich rund um die Uhr „zu Gott spreche“, sondern in der tiefinneren Gewissheit und Erfahrung, dass ich grundsätzlich und immer mit Gott verbunden bin (und zwar von Gott her, weil ER uns als Gott nahe sein und für uns da sein möchte!) und dass ich aus dieser Beziehung je neu Leben geschenkt bekomme.
Wenn Sie sich – wie oben angeregt – auf die Suche nach Gott in Ihnen und Ihrem persönlichen Leben machen, wenn Sie sich Ihre Gottes-Erfahrungen vergegenwärtigen, dann bewegen Sie sich dadurch in Richtung des „Betens ohne Unterlass“, insofern dadurch das Leben in der Gegenwart Gottes als „dauerndes Bewusstsein und dauernde Haltung“ (Alfred Delp) gefördert wird. Und dadurch vertiefen Sie zugleich Ihre Gottesbeziehung (gleich, wie die auch konkret sein mag) - und er kann Sie noch mehr mit dem beschenken, was er Ihnen von seinem Leben Tag für Tag neu zukommen lassen möchte - damit Ihr Leben und Ihr konkretes Erleben immer mehr „Leben in Fülle“ (Joh 10, 10) ist.
Dass Sie sich von Gott auf diesem Weg weiter führen lassen,
das wünsche ich Ihnen von Herzen!
Ihr
Christoph Maria Kohl
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1.
In 14 Tagen beginnen die Sommerferien – es gibt Ferien, aber mit eingeschränkten Urlaubsmöglichkeiten, nach einem Schuljahr, das alles andere als normal war. Corona lässt grüßen. Aber viele Mitmenschen tun schon so, als ob die Corona-Gefährdung vorbei wäre, oder sehnen sich danach, dass bald alles wieder so ist wie vorher. Und zugleich höre ich im Radio: „Auch wenn viele sich das wünschen: Es kann und wird nicht wieder so werden wie vor der Pandemie.“ Diese Sicht teile ich voll und ganz. Es wäre gut, sich darauf einzustellen, dass nicht wieder alles so sein und gehen wird wie vorher, und auf zwar auf allen Ebenen des Lebens.
Und dafür wäre es weise, sich mit den Fragen und Fraglichkeiten, die durch die Pandemie hochgespült worden sind, auseinanderzusetzen. Es wäre gut, auf die Corona-Ausnahmezeit zurückzuschauen. Diese Zeit kann eine lehrreiche Zeit werden, wenn wir unsere andersartigen Erfahrungen darin reflektieren und auswerten. Dazu möchte ich Sie einladen und ein paar Anregungen geben.
Was durch die Corona-Zeit deutlich wurde:
Wir, die Menschen, stehen nicht über der Natur, sondern sind voll und ganz Teil der Schöpfung und in sie hineinverwoben. Darüber ändern auch alle errungenen technischen Möglichkeiten nichts. Von daher wäre es gut, das so zu sehen und mit der Schöpfung als ganzer wertschätzend umzugehen (s. Papst Franziskus, Laudato si).
Durch Corona kamen wir, kam die ganze Welt mit einem Mal an ihre Grenzen, an die Grenzen des Machbaren. Unsere Grenzen, die Verwundbarkeit und die Ohnmacht gehören unausweichlich zum Leben dazu.
Genauso Sterben und Tod, die durch Corona plötzlich ganz nahe kamen, als Bedrohung und als unausweichliches Faktum. Diejenigen waren und sind da besser dran, die sich (schon) mit der Endlichkeit des eigenen Lebens auseinandergesetzt und angefreundet haben.
Corona hat offenbar gemacht, wie stark wir weltweit vernetzt sind – und zwar auf allen möglichen Ebenen – und wie sehr wir weltweit aufeinander angewiesen sind. Viele lebenswichtige Fragen können wir nur in großer Solidarität lösen, im Kleinen und im Großen. Solidarität ist mehr als je notwendig, angefangen vom Tragen des Mund-Nasen-Schutzes bis zum Miteinander-teilen in unserer Gesellschaft (auch angesichts der neuen immensen Schuldenlast!) und weltweit. Wenn wir nicht stärker vernetzt und solidarisch denken und handeln, werden wir alle in verschiedener Weise darunter leiden.
Corona hat unsere Wirtschaft fast zum Stillstand gebracht. Dieser wiederum hat deutlich gemacht, wie sehr unser Wirtschaftssystem insofern fraglich oder krank ist, als es auf Auslastung und Wachstum angewiesen ist. Zudem sind und werden immer mehr Lebensbereiche ökonomisiert, also dem Diktat des Geldes und des Geldmachens unterworfen (z.B. auch mit der Folge von im Krisenfall zu wenig geeigneten Krankenhausbetten). Der Mensch und das Menschliche leiden darunter, ja bleiben auf der Strecke.
Viele Eltern hat die Corona-Zeit durch gleichzeitiges Homeoffice und Betreuung der Kinder und Homeschooling bei Wegfall der Unterstützung durch die Großeltern an die Grenzen ihrer Belastbarkeit gebracht. Sie haben sehr wenig Zeit für sich gehabt und eine große Fremdbestimmung und Erschöpfung erlebt. Es ist deutlich geworden, was Eltern alles zu leisten haben, worauf sie angewiesen sind, damit sie Familie und Beruf gut „unter einen Hut bringen“ können und wie wichtig dabei z.B. die Großeltern sind – und wie verletzlich auch dieses Gefüge ist.
Andererseits fällt in der Corona-Lockdown-Zeit bis heute alles Mögliche an Terminen und Veranstaltungen aus oder ist reduziert. Ein anderer Umgang mit der Zeit war möglich. Viele haben es als sehr angenehm erlebt, dass das Leben weniger voll und hektisch war. Dass manches langsamer gehen konnte und mehr Freiraum da war. Könnte es sein, dass viele sich „im normalen Leben“ zu viel zumuten, dass mancher Alltag zu „schnell-lebig“ ist und deshalb manches nur an der Oberfläche bleibt? Welches Lebenstempo wäre gut und wie voll darf der Kalender sein, damit meine Seele mitkommt und etwas davon hat?
Vor allem die Wochen, in denen fast alle Geschäfte geschlossen waren, das öffentliche Leben so gut wie ganz ruhte, man möglichst zuhause bleiben sollte, in der das Leben auf ein Minimum und den kleinsten Kreis reduziert war, war eine Zeit, in der wir mehr als sonst auf uns selbst zurückgeworfen waren – eine Zeit intensiverer Selbsterfahrung. Wer sein Erleben in dieser Zeit bewusst wahrgenommen und reflektiert (hat), dem kann einiges über sich selbst und sein Lebenskonzept aufgehen:
Wer die Corona-Zeit und seine Erfahrungen darin reflektiert und auswertet, der kann sie für sich und sein Leben fruchtbar machen. Deshalb kann ich Ihnen nur empfehlen, sich in den nächsten beiden Wochen dafür einmal gut Zeit zu nehmen – die ist sicherlich gut investiert!
Der heilige Ignatius von Loyola, einer der größten spirituellen Lehrmeister, hat gesagt:
„Nicht das Vielwissen (oder Viel-Erleben) sättigt und befriedigt die Seele,
sondern das Verkosten der Dinge von innen her.“2.
Für einen solchen persönlichen Rückblick kann ich Ihnen nur noch einmal empfehlen, ihn in der Weise des „Gebets der liebenden Aufmerksamkeit“ zu tun, einer Gebetsweise, die auf Ignatius von Loyola zurückgeht. Dabei kann es nur gut sein, wenn Sie sich für diese Vergegenwärtigung und Auswertung Ihrer Corona-Erfahrungen eine längere, geschützte Zeit gönnen.
So wünsche ich Ihnen, dass aus dem, was Sie erlebt haben, tiefere Erfahrungen werden, und dass Gottes Geist Ihnen den Weg zu „Aufatmen“ und Lebensfreude zeigt und eröffnet.
Mit einem herzlichen Gruß
Ihr
Christoph Maria Kohl
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1.
In der Gegenwart Jesu Christi und unter seinem Segen leben – damit wir selbst ein Segen sein können
ZuFronleichnamgehört normalerweise die Sakraments-Prozession:Wir tragen Jesus Christusim eucharistischen Brot durch unsere Straßen.Das hat etwas von „Demonstration“ (Das lateinische Wort „demonstrare“ bedeutet: auf etwas hinweisen, vor-zeigen): Wir „halten Jesus Christus hoch“, wir zeigen ihn. Das bedeutet, wir machen öffentlich deutlich, wie wichtig ER uns ist; wir bekennen uns zu Jesus Christus; wir bezeugen Jesus Christus als Brot der Welt.
In der Prozession mit dem eucharistischen Herrn durch unsere Städte und Dörfer kommt Verschiedenes zu Ausdruck:
1. Jesus Christus ist unter uns da, wir leben in SEINER Gegenwart.
2. ER geht mit uns durch unsere Alltags-Welt.
3. ER segnet unsere Stadt und die ganze Schöpfung. ER ist unser Segen - damit wir ein Segen für die Mitmenschen werden.
Das eucharistische Brot ist Zeichen für die Gegenwart des Herrn unter uns. Christ sein bedeutet, dass wir in der Gegenwart Jesu Christi leben. „In IHM leben wir, bewegen wir uns und sind wir“, sagt Paulus (Apg 17, 28).
In einem eucharistischen Hochgebet heißt es: „Ja, du bist heilig, großer Gott. Du liebst die Menschen und bist ihnen nahe. Gepriesen sei dein Sohn, der immer mit uns auf dem Weg ist und uns um sich versammelt zum Mahl der Liebe.“
Wenn wir glauben und spüren, dass Jesus Christus, dass Gott uns nahe ist, dass wir in seiner Gegenwart leben - wie der Fisch im Wasser -, dann lebt es sich anders. Dann können wir uns tief geborgen und getragen fühlen und uns in IHN fallen lassen. Wenn ich die Gegenwart Jesu Christi spüre, kann das eine gewisse Leichtigkeit geben für unsere Schritte und Wege durchs Leben.
Für diese Gegenwart Jesu Christi; dafür, dass wir in seiner Gegenwart leben, ist das eucharistische Brot ein spürbares Zeichen. Brot ist ein Nahrungsmittel, Lebens-Mittel, das wir in uns aufnehmen, damit es uns Kraft gibt. So will Jesus Christus als „Brot … für das Leben der Welt“ (Joh 6, 51) in uns eingehen, damit sein Geist uns erfüllt und wir aus seiner Kraft leben können.
Das Brot der Eucharistie ist DAS Zeichen der Liebe Gottes, die bis zum Äußersten geht: Jesus Christus - Gott, der Mensch geworden ist - Gott, der bis zur Hingabe am Kreuz ganz für uns da ist - Gott, der unter uns als Lebensquelle gegenwärtig ist.
Das oben zitierte Hochgebet führt dann einen Schritt weiter. Es heißt darin: „Du liebst die Menschen und bist ihnen nahe. Gepriesen sei dein Sohn, der immer mit uns auf dem Weg ist.“ Bei der Fronleichnamsprozession erleben wir symbolisch: Jesus Christus geht mit uns durch unsere Welt. Er geht mit uns in unsere Alltagswelt hinein.
Jesus Christus war voll und ganz Mensch, von der Geburt an bis zum Tod am Kreuz. Er kennt alles Menschliche, alles, was das Leben ausmacht – nicht nur „aus eigener Anschauung“, sondern vom eigenen Erleben her: Er hat alles Menschliche am eigenen Leib mitgemacht, bis zum elenden Tode am Kreuz.
Dieser Jesus, dessen Leben und dessen Botschaft Gott in der Auferstehung bestätigt und erhöht hat; dieser Jesus, die leibhaftige Gegenwart und Liebe Gottes unter uns, geht mit uns. Er ist dabei, wenn wir in unserer Alltagswelt unterwegs sind - auch das symbolisiert die Fronleichnamsprozession durch unsere Straßen.
Und ein Drittes führt uns Fronleichnam, die Prozession, vor Augen: Jesus Christus segnet unsere Stadt und unsere Welt. ER ist unser Segen.
Segen bedeutet: Wir leben in der Gegenwart Jesu Christi, seine Liebe leuchtet über uns und umgibt uns. Gott hält seine schützende Hand über uns und leitet uns auf unseren Wegen, er möchte uns zum „Leben in Fülle“ (Joh 10, 10) führen.
Im Segen identifiziert sich Gott mit uns: Er sagt JA zu uns, zu jeder und jedem von uns. Er sagt JA zu uns gemeinsam als seinem Volk, als seiner Schöpfung. Er spricht uns seine bedingungslose Liebe zu - und Jesus Christus verkörpert diese unendliche Liebe des Vaters. ER, Jesus Christus, ist unser Segen.
So leben wir mit dem Segen Gottes - wir leben als Gesegnete. Und das nicht einfach dazu, dass wir es uns damit für uns gut gehen lassen, sondern, damit wir selbst ein Segen sein können, damit durch uns der Segen Gottes, sein JA und seine Liebe, in unserer Alltagswelt spürbar werden. Genau das ist unsere Sendung als Christen.
So, wie es Pfarrer Lothar Zenetti in einem Gebet ausgedrückt hat:
„Herr, segne uns, lass uns dir dankbar sein,
lass uns dich loben, solange wir leben,
und mit den Gaben, die du uns gegeben,
wollen wir tätig sein.
Herr, geh‘ mit uns und lass uns nicht allein,
lass uns dein Wort und dein Beispiel bewahren,
in der Gemeinde deine Kraft erfahren,
lass uns wie Schwestern und Brüder sein.
Herr, sende uns, lass uns dein Segen sein,
lass uns versuchen, zu helfen, zu heilen
und unser Leben wie das Brot zu teilen;
lass uns ein Segen sein.“
(Lothar Zenetti, Texte der Zuversicht, München 1972 u. ö., S. 293)
2.
Wie können wir das fördern, dass der Segen Gottes und Jesu Christi, den gerade auch das eucharistische Brot symbolisiert, uns mehr erfüllt und uns so zum Segen für die anderen machen kann?
Dazu hilft u.a. auch das Beten in der Weise der eucharistischen Anbetung. In „Reinkultur“ bedeutet das, einfach vor dem Herrn im eucharistischen Brot da zu sein. „ER schaut mich an, und ich schaue IHN an.“ - so soll einmal jemand gesagt haben auf die Frage, warum er immer wieder still vor dem Tabernakel oder der Hostie in der Monstranz dasitzt oder dakniet. Wenn das nicht möglich ist, kann man sich auch einfach innerlich Jesus im eucharistischen Brot vorstellen und anbetend bei IHM sein. Ein moderner Kanon lautet: „Im Anschauen DEINES Bildes, da werden wir verwandelt in DEIN Bild.“ Wenn wir uns betend in Jesus Christus hineinvertiefen, wie ER uns im eucharistischen Brot begegnet, dann werden wir IHM „anverwandelt“, dann prägt ER uns immer mehr mit dem, was das eucharistische Brot symbolisiert, was darin über IHN spürbar wird. Und so kann er jede und jeden von uns immer mehr mit seinem Geist und seinem Segen erfüllen - und wenn uns das geschenkt wird, werden wir fast automatisch unsererseits zum Segen für unsere Mitmenschen und unsere Welt…
Dass Ihnen das von Jesus Christus geschenkt wird, immer mehr,
gerade jetzt in den Herausforderungen der Corona-Zeit,
das wünsche ich Ihnen von Herzen!
Ihr
Christoph Maria Kohl
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1.
Was der Dreifaltigkeitssonntag mit den Auswirkungen der Corona-Pandemie zu tun hat
In welcher Grundstimmung gehen Sie derzeit durchs Leben? In dieser Zeit, wo Covid19 unser Leben noch prägt!? Zuversichtlich? Hoffnungsvoll? Kraftvoll? Oder verunsichert? Verzagt? Ängstlich? Wollen Sie vielleicht gar nicht alles wissen, was derzeit in der Luft liegt - und wie es weiter geht?
Das Corona-Virus ist nach wie vor eine ernsthafte Bedrohung, und es kann für die Zukunft durchaus beängstigende Szenarien mit sich bringen: Alle noch notwendigen Einschränkungen des täglichen Lebens; die Auswirkungen des Lockdown der letzten beiden Monate; die absehbaren mittel- und langfristigen Folgen der Pandemie - für Deutschland, für Europa, für die globalisierte Welt. Unsere Welt im Kleinen und Großen wird lange oder auf Dauer sehr anders sein - damit müssen wir rechnen, darauf müssen wir uns einstellen.
Manches ist in der letzten Zeit schon spürbar: Kurzarbeit, Arbeitslosigkeit, Insolvenzen, Mietzahlungs-Schwierigkeiten, Kredite können nicht mehr bedient werden, Menschen kommen an ihre Grenzen.
Womit wir in Zukunft rechnen müssen: Die wirtschaftliche Erholung wird lange dauern; es wird nicht wieder einfach so werden wie vorher. Die schwindelerregenden Schuldenberge, die von den Kommunen bis auf Europa-Ebene angehäuft werden, werden zu dauerhaften Einschränkungen der möglichen Leistungen der öffentlichen Hand führen. Es kann sein, dass eine ganze Epoche des selbstverständlichen Wohlstandes zu Ende geht. Zudem steht Europa auf dem Prüfstand: Ohne Solidarität kann es zerbrechen. Und die ungleiche Verteilung der Lebenschancen auf dem Globus nimmt noch weiter zu - was zu starken Wanderungsbewegungen führen kann.
Das bedeutet auch: Das bisherige, gewohnte, selbstverständliche Lebenskonzept vieler Menschen geht in Zukunft so nicht mehr.
Die meisten hoffen, dass es wieder so wird wie vorher; viele können und wollen nicht wahrhaben, was anders sein wird - weil sie das zu sehr verunsichern würde.
Wie reagieren wir als Christen / als Glaubende?
Am Dreifaltigkeitssonntag feiern wir, dass Gott dreieinig ist. Das bedeutet, dass Gott DIE LIEBE ist, dass er nicht nur uns seine Liebe schenkt, sondern dass er in sich Liebe und Beziehung ist - als Vater, Sohn und Heiliger Geist. Er zieht uns in seine Liebe hinein - das ist der Weg zu unserem Lebensglück und unserer Vollendung.
Dass Gott DIE LIEBE ist, das heißt ganz grundlegend: Er nimmt jede und jeden bedingungslos so an, wie sie/er ist - mit allen Schwächen, Grenzen, Fehlern und Sünden, als unvollendetes Bruchstück. Glauben heißt: Ich lebe in der Gewissheit, dass ich von Gott bedingungslos geliebt und angenommen bin - so, wie ich bin. Das schenkt nicht nur Geborgenheit und Halt. Das ermöglicht, dass ich mich selbst so annehmen kann, wie ich bin - auch wenn ich alles andere als vollkommen bin. Wer sich selbst immer mehr annehmen kann, wie er ist, der kann die anderen immer mehr so lassen und annehmen, wie sie sind UND der kann die Wirklichkeit immer besser so sehen und nehmen, wie sie ist - ohne sie zu beschönigen, ohne sich etwas vormachen zu müssen, ohne wegzusehen.
Und das ist die Voraussetzung dafür, dass wir als Christen gut mit der Wirklichkeit umgehen und unsere Welt mitgestalten können - das ist ja unsere Aufgabe, unsere Sendung als Christen und als Kirche. Ich bin überzeugt: Wir haben den Menschen - der Gesellschaft - der Welt etwas zu geben, etwas Entscheidendes für das persönliche und gesellschaftliche Leben, für die globale Gesellschaft, gerade jetzt und in der nächsten Zeit. Wir als Glaubende sind höchst „systemrelevant“! Aber diese Relevanz müssen wir auch faktisch erweisen. Gemäß z.B. dem Leitspruch der Caritas: „Not sehen und handeln“. Oder im Sinn der Bistums-Aktion „Gutes Leben für alle“ (www.bistum-speyer.de/bistum-speyer/weltkirche/gutes-leben-fuer-alle/).
Die Grundlage, die Voraussetzung dafür ist, dass wir die Wirklichkeit so sehen können, wie sie ist; dass wir uns nichts vormachen; dass jede/r sich selbst so sehen und annehmen kann, wie sie oder er ist - weil Gott uns schon längst angenommen hat und jeden Tag bedingungslos liebt, weil Gott für uns und in sich DIE BEDINGUNGSLOSE LIEBE ist.
Dieses Glaubensgeheimnis, dieses Gottesbild leuchtet heute am Dreifaltigkeitsfest auf und möchte uns aufrichten und stärken - damit wir in und von der Liebe Gottes leben können und damit wir unsere Sendung als Christen und als Kirche gut verwirklichen können.
2.
Es gibt ein kurzes, dichtes Gebet zum dreifaltigen Gott, mit dem man eine bestimmte Weise zu beten gut einüben und leicht praktizieren kann.
„Liebe
die in sich ruht
Liebe
die sich verströmt
Liebe
die sich empfängt
Liebe
nur Liebe
bist du
Dreifaltiger Gott“
(aus: Anton Rotzetter, Gott, der mich atmen lässt.
Gebete. Herder-Verlag Freiburg, 1985 u.ö., S. 253)
Ich vertiefe mich gerne meditativ betend in Gott hinein, indem ich „auf den Atem bete“. Indem ich im Rhythmus des Atems, mit dem Einatmen und Ausatmen, ein paar wenige Worte innerlich sage und mich in deren Geist hinein vertiefe. Wenn ich das eine Zeitlang mit den gleichen wenigen Worten tue, dann kann es sein, dass ich „tiefer als der Kopf“, als die Ebene der Gedanken, komme; dass die Worte mit der Zeit wegfallen und dass ich dann einfach im Geist und in der Kraft dessen, was diese Worte bewirken, dasitze. Dann wird das im Gebet anfänglich Gesagte zur inneren Haltung und stärkt ganzheitlich.
Für diese Gebetsweise eignen sich viele kurze Bibelworte. Mit dem Gebet von Anton Rotzetter zum dreifaltigen Gott geht es besonders gut: Auf das Einatmen „Liebe“ bzw. dann „bist du“, auf das Ausatmen die eingerückte folgende Zeile innerlich sprechen - und sich dadurch ganzheitlich-meditativ in diese Liebe bzw. den Gott der Liebe hineinführen lassen.
Ich wünschen Ihnen zum Dreifaltigkeitssonntag, dass Sie beim Beten und im Alltag diesen Gott der Liebe spüren - und dadurch auch immer mehr selbst Werkzeug seiner Liebe werden!
Ihr
Christoph Maria Kohl
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1.
In der anstrengenden Corona-Zeit kräfteschonend und in Leichtigkeit leben:
„Sich dem Wehen des Heiligen Geistes gut anschmiegen“
„Ich wünsche Dir, dass Du Dich dem Wehen des Heiligen Geistes gut anschmiegen kannst.“ Das klingt ungewohnt. Aber mir ist immer mehr aufgegangen, wie sehr das das Leben schön macht. Und deshalb habe ich es in jüngster Zeit öfter am Ende eines Briefs oder einer Mail dem Empfänger als Wunsch mitgegeben:
„Ich wünsche Dir, dass Du Dich dem Wehen des Heiligen Geistes gut anschmiegen kannst.“
Wie bin ich darauf gekommen? Durch ein Erlebnis im Sommer 1987, als ich in einem Alpental in der Nähe von Innsbruck Exerzitien gemacht habe. Da waren Greifvögel in der Luft, ein Adler, Bussarde. Große, majestätische Vögel, und sie fliegen genauso majestätisch.
Sie ziehen in aller Ruhe ihre Runden. Sie schrauben sich langsam hoch, wie auch die Segelflugzeuge. Sie gleiten einfach so dahin, wie schwerelos, ganz ohne Anstrengung. Ihr Geheimnis: Sie „legen sich in den Wind“, sie lassen sich tragen. Ein paar kleine Flügelbewegungen zur Richtungskorrektur, das reicht - kein kräfteraubendes Flügelflattern. Auf diese Weise können sie ganz ohne Anstrengung lange in der Luft sein. So gewinnen sie Höhe und Weite, und sie können ihren Flug richtig genießen.
Wenn sie „gegen den Wind“ anfliegen würden: Das wäre kräfteraubend, sie wären bald erschöpft, der Flug wäre schnell vorbei - und würde keinen Spaß machen. Das wäre der „Machen-Modus“: „Ich muss es machen. Es hängt von meiner Anstrengung ab; es kommt auf meine Leistung an“.
Die Greifvögel fliegen im Lassen-Modus: Sie lassen sich tragen und vorwärts treiben. Dadurch spiegeln sie „die Leichtigkeit des Seins“ wider. Es geht alles leicht, es fließt wie von selbst.
So habe ich die Greifvögel fliegen sehen - und ich habe dabei in mir die Sehnsucht gespürt: Genau so leben - das wäre es! Oder zumindest etwas mehr davon - das würde mir gut tun.
Und dann habe ich im Laufe der Jahre erfahren: Das geht! Das geht, wenn wir uns dem Wehen des Heiligen Geistes anschmiegen.
Das Pfingstereignis in Jerusalem (Apg 2, 1-13) war etwas ganz Außergewöhnliches: Brausen wie ein Sturm, Zungen wie von Feuer, alle Leute, gleich welcher Nation und Sprache, verstehen die Apostel. Das war die Initialzündung, die der Heilige Geist vorgenommen hat. Er hat durch dieses Event deutlich zu verstehen gegeben: „Ihr dürft mit mir rechnen!“
Aber der Heilige Geist wirkt nicht nur im Großen - im Außergewöhnlichen, in besonderen Augenblicken. Der Heilige Geist wirkt und weht immer - in dem vielen Kleinen, das unser Leben ausmacht. So haben es die ersten Christen in ihren Gemeinden erfahren, so können wir es heute erfahren.
Der Heilige Geist öffnet uns für Jesus Christus und für seine Frohe Botschaft. Er spricht zu uns durch die Heilige Schrift. Er lässt uns beim Beten seine Nähe spüren. Er zieht uns in die Liebe Gottes hinein und gießt sie über uns aus. Er fördert die Gemeinschaft mit Gott und untereinander, auch im Gottesdienst.
Er stiftet Gemeinschaft und verbindet Menschen. Er schenkt Worte, die heilen und versöhnen. Er öffnet unsere Sinne für die Schönheit der Schöpfung. Er erfüllt uns immer wieder neu mit der Freude am Leben. Er schenkt uns Zeiten des Aufatmens - und Begegnungen, bei denen uns das Herz aufgeht.
Und er schenkt uns seine Gaben - Fähigkeiten, mit denen wir die Menschen und das Leben fördern können.
Deshalb können wir ihn besonders gut spüren in Menschen, die ihre Geistes-Gaben und ihre Zeit für andere und für Gott einsetzen. Durch Menschen, die für etwas „Feuer und Flamme“ sind, in denen eine Leidenschaft steckt, die für etwas brennen und dadurch andere anstecken. Das Wirken des Geistes Gottes ist erfahrbar durch Menschen, die etwas ausstrahlen. Menschen, die begeistert sind - und andere begeistern. Menschen, die mich durch ihr Engagement mitreißen. In ihnen kommt das Wehen und Wirken des Heiligen Geistes besonders gut heraus.
Mit der Musik ist es ähnlich wie mit dem Heiligen Geist. Sie geht uns zu Herzen. Sie spricht unser Inneres an. Sie spielt uns das zu, was uns bewegt und beschwingt. Die Musik verbindet uns mit den Quellen des Lebens - und sie verbindet uns miteinander.
Wir können uns gemeinsam auf die Musik einschwingen, können uns von ihr tragen und beleben lassen. So spiegelt die Musik das Wehen des Heiligen Geistes wider. Wer sich auf die Musik einlässt, der kann sich dann auch leichter auf den Heiligen Geist einlassen.
Darin besteht die Kunst des Christseins: Sich dem Wehen des Heiligen Geistes anzuschmiegen - mich vom Heiligen Geist tragen und bewegen lassen, wie sich die Greifvögel dem Wehen des Windes anschmiegen.
Dafür ist nur notwendig, dass ich dem Heiligen Geist vertraue; dass ich den Mut habe, mich „in den Wind zu legen“, d.h. mich von ihm tragen und führen zu lassen. Dass ich ihm die Führung überlasse, mich auch von ihm überraschen lasse - also lebe im „Lassen-Modus“.
Je mehr Sie ein Gespür für das Wehen des Heiligen Geistes entwickeln, desto mehr wird das Leben eine wunderbare Entdeckungsreise. Das eigene Erleben wird immer intensiver. Sie bekommen eine Ahnung vom „Leben in Fülle“ (Joh 10, 10), das Gott uns schenken möchte; von dem, was Sie innerlich wirklich erfüllt.
Und das geschieht sozusagen „powered by God“, es fließt aus Gottes Kraft - es kommt dabei nicht auf eigene Anstrengung und Leistung an, weil der Heilige Geist uns beflügelt.
Und damit Sie das selbst erleben können, hätte ich einen Vorschlag:
Spüren Sie in der nächsten Zeit einmal nach:
In alldem trägt und beflügelt Sie der Heilige Geist!
Wenn Sie das bewusst wahrnehmen und verkosten, wenn Sie sich so „ gut in den Wind hineinlegen“ wie die Greifvögel, dann kann das Leben etwas von der Leichtigkeit gewinnen, die sie uns vor Augen führen.
Und deshalb möchte ich auch Ihnen zu Pfingsten diesen Wunsch zurufen:
„Ich wünsche Ihnen, dass Sie sich dem Wehen des Heiligen Geistes gut anschmiegen können.“
2.
Wenn Sie mitten im Alltag etwas von dem erleben, was ich angedeutet habe, dann kann ein „Stoßgebet“ gut tun. Ein Stoßgebet ist ein Gebet, das aus dem Augenblick und aus dem Herzen, aus dem spontanen Erleben heraus entspringt (im Laufe der Zeit wie von selbst!). Wenn ich z.B. etwas Schönes und Wohltuendes erlebe, dann kann das ein Gefühl oder auch einen Gedanken in mir auslösen - Freude, Dankbarkeit, einen inneren Jauchzer, ein „Wow!!!“, einen Moment von Frieden und Erfülltsein. Wenn ich das, was da spontan in meinem Inneren aufsteigt, zu Gott aufsteigen lasse, „zum Himmel werfe“, dann ist das ein Stoßgebet. Es verbindet mein Er-Leben mit Gott als der Quelle allen Lebens - und ER kann es vertiefen und mich weiter erfüllen.
Dass Gott Sie und Ihr Leben so durch seinen Heiligen Geist trägt, beflügelt und erfüllt, das wünsche ich Ihnen zu Pfingsten von Herzen!
Ihr
Christoph Maria Kohl
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1.
Verstärkt durch die Corona-Bedrohung: „Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen“ (Gotteslob-Lied Nr. 503) - aber auch vom Gott des Lebens gehalten
„70-Jähriger Speyerer erliegt in Krankenhaus Covid-19“ - so springt mir eine Titelzeile aus der Zeitung vom Samstag, 21. Mai 2020, entgegen. In derselben Ausgabe: „Super-Zyklon ‚Amphan‘ zerstört Lebensgrundlage von Millionen“. Tote gab es diesmal nicht so viele; aber „1991 wurden in Bangladesch fast 140.000 Menschen durch von einem Zyklon ausgelöste Tornados und Überschwemmungen getötet.“ Bisher sind wir von solchen todbringenden Katastrophen verschont geblieben. Aber mit dem Corona-Virus hat sich plötzlich eine unheimliche Gefahr für Leib und Leben in unsere Gesellschaft eingeschlichen. Mir sind die gruseligen Bilder der aufgereihten, in Kühllastern gestapelten und auf Militärlastern abtransportierten Särge v.a. in Bergamo und New York noch gut vor Augen. Durch die tückische Krankheit sind wir mehr mit Tod und Sterben konfrontiert als sonst im Alltag.
Damit das keine Ängste auslöst, die lähmen und blockieren, ist es hilfreich, sich mit diesem Thema existentiell auseinanderzusetzen - und zwar in einer österlichen Perspektive. Auch alle Christen, alle Glaubenden müssen sterben. Aber im Licht von Erlösung und Auferstehung erscheint der Tod nicht einfach nur als brutales Ende des Lebens. Bei zwei Menschen, die ich auf der letzten Wegstrecke ihres Lebens begleiten durfte, habe ich besonders intensiv erlebt, dass sie als österliche Menschen dem Tod entgegengegangen sind - eine Erfahrung, die sich tief in mich eingeprägt hat.
Auch wenn der Tod das Ende unseres irdischen Daseins bedeutet, freue ich mich auch auf die große Begegnung mit Gott am Ende des Lebens.
Ich glaube, dass ich im Augenblick meines Todes vor Gott erscheinen werde. Er erwartet und empfängt mich. Ich stehe vor ihm, und er schaut mich an. Er schaut mich so an, wie es der Segen Aarons erfleht: „Der Herr lasse sein Angesicht über dich leuchten und sei dir gnädig. Der Herr wende sein Angesicht dir zu und schenke dir Frieden“ (Num 6, 25-26). Und unter diesem unendlich liebevollen und gütigen Blick geht mir vollends auf, wie gut es Gott schon immer mit mir gemeint hat. Und wie ein Film im Zeitraffer-Tempo läuft mein Leben vor meinem inneren Auge ab. Ich sehe das, was Gott in mir angelegt hat, damit es sich entfalten kann; ich sehe, was ich daraus gemacht habe - und wo ich nur ein Schatten meiner selbst geblieben bin. Ich sehe alle Momente des Glücks und alle Zeiten der Erfüllung - und auch, wo ich mich selbst um das Leben gebracht habe, das Gott mir schenken wollte. Dankbarkeit und Freude durchströmen mich, aber auch Enttäuschung und Schmerz über all das, wo ich Bruchstück geblieben bin. Mir kommen Tränen der Trauer und Wehmut über das nicht gelebte Leben, das um mich herum und in mir da war, das ich aber nicht für mich fruchtbar machen konnte. Ich bin erfüllt von Scham und Reue angesichts der Liebe, die ich nicht in mich aufnehmen, erwidern oder weiterschenken konnte. Doch dabei spüre ich, dass Gott mich schon längst in seinen Armen hält und liebevoll an seine Brust drückt, und dass von seinem barmherzigen Blick und von seinem Herzen eine Wärme ausgeht, die alle inneren Wunden heilt und allen Schmerz verwandelt. „Der Herr lasse sein Angesicht über dich leuchten und sei dir gnädig. Der Herr wende sein Angesicht dir zu und schenke dir Frieden.“ Das erlebe ich jetzt: „Fegefeuer“ als die Wärme der Liebe Gottes, die alles Unheile in mir „ausbrennt“, verwandelt; Gericht als tiefen Schmerz und Reue über die verpassten Lebenschancen, die Gott mir schenken wollte, und Gericht, insofern Gott mich auf-richtet und her-richtet für sein großes Fest, in das alles Leben einmündet.
So ähnlich stelle ich mir die Begegnung mit Gott im Tod vor.
Und für meine Lebenszeit freue ich mich, dass ich auch jetzt schon unter diesem gütigen Blick Gottes leben darf, den ich dann einmal ganz verkosten darf: „Der Herr lasse sein Angesicht über dich leuchten und sei dir gnädig. Der Herr wende sein Angesicht dir zu und schenke dir Frieden.“
Wer Tod und Sterben in dieser Glaubens-Perspektive sehen kann, der kann dann auch besser, nämlich mit der Hoffnung eines Erlösten, damit umgehen, dass wir derzeit mehr mit dem Sterbenmüssen konfrontiert und bedroht sind als sonst. „Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen“ (Gotteslob Nr. 503) - ja, aber genau darin begegnet und hält uns der Gott des Lebens.
2.
Der Franziskanerpater Anton Rotzetter hat ein empfehlenswertes Buch mit Gebeten zu Themen des Lebens und Glaubens geschrieben (Anton Rotzetter, Gott, der mich atmen lässt. Gebete. Herder-Verlag Freiburg 1985 u.ö.). Dort steht auf S. 161 dieses Gebet, das das Alter im Blick hat, aber auch grundsätzlicher gilt:
„Mitten im Leben
der unausweichliche Tod
Mitten in der Kraft
das sichere Ende
Mitten in der Freude
die unerbittliche Grenze
Mitten in der Arbeit
die drängende Zeit.
Gott
lass mich der Wahrheit meines Lebens begegnen.“
Wer dieses Gebet für sich selbst spricht, der kann erleben, dass sich dadurch innerlich manches lösen kann.
Und wenn Ihnen der Mut dazu geschenkt wird, empfehle ich Ihnen, einmal so zu beten: Lassen Sie in einer ruhigen Stunde in Ihnen aufsteigen, wie es Ihnen bei der oben geschilderten letzten großen Begegnung mit Gott gehen würde, wenn Sie sie jetzt erleben würden; was Ihnen dann über Ihr Leben kommen würde und was Sie dann Gott sagen und von ihm erhoffen würden.
Wer sich in die Begegnung mit Gott im Tod hineinversetzt, wird dadurch auch empfänglicher für das gottgeschenkte Leben im Hier und Heute. Vom Ende, von der Vollendung her betrachtet, wird das Leben insgesamt intensiver und erfüllter!
So wünsche ich Ihnen, dass Gott Ihnen immer mehr diese österliche Lebensperspektive eröffnet!
Ihr
Christoph Maria Kohl
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1.
Worauf es entscheidend ankommt, dass es uns in der Corona-Zeit und danach gut geht: Spürbare SOLIDARITÄT
Wenn man krank ist und Schmerzen hat, wenn man Sorgen hat oder in einer persönlichen Krise ist, dann erfordert das Aufmerksamkeit, dann ist man mehr als sonst mit sich selbst beschäftigt – und die Gefahr wächst, dass der Blick für die anderen eingeschränkt ist, bis dahin, dass man um sich selbst kreist. Das gilt nicht nur für Einzelne, sondern auch für Gruppierungen und für die Gesellschaft als ganze, wenn sie in einer Krisenzeit sind.
Die Corona-Pandemie bringt diese Gefahr auch mit sich. Sie erfordert unsere Aufmerksamkeit und dass wir uns gut darauf einstellen. Je mehr jemand aber Sorgen hat um seine Gesundheit, um die finanzielle Zukunft der Familie, um seinen Arbeitsplatz, wegen der eingeschränkten Lebensmöglichkeiten usw., je mehr Ungewissheit, Verunsicherung und Angst um sich greifen, desto größer ist die Gefahr, dass das im Blick ist – und vieles und viele andere aus dem Blick geraten. Eine solche oft unmerkliche Horizont-Verengung hat aber ungute Folgen für alle.
Denn darunter leidet genau die Grundhaltung, ohne die wir die Krise und die Zeit danach nicht bestehen können: die Solidarität. Dieses Fremdwort wird meist mit „Zusammengehörigkeitsgefühl, Gemeinsinn“ übersetzt. Als Grundpfeiler der katholischen Soziallehre meint es aber mehr. Zu Solidarität als Grundhaltung gehört:
In der jetzigen Pandemie-Zeit und in der Phase danach mit all den Herausforderungen, die sie mit sich bringen wird, ist SOLIDARIATÄT mehr gefragt denn je. Ja, ohne spürbare, wirksame Solidarität, vom privaten Lebenskreis bis weltweit, wäre unser Leben dauerhaft sehr beeinträchtigt.
Umgekehrt birgt die Corona-Krise in sich die Chance, dass aufleuchtet, wie sehr wir aufeinander angewiesen sind, wie wichtig Solidarität ist.
Schon das Abstand-halten und das Tragen einer Mund-Nase-Maske sind Ausdruck von Solidarität - mit denen, die vom Virus stärker bedroht sind. Einkaufen für Ältere und neu aufgelebte Nachbarschaftshilfe sind Zeichen von Zusammengehörigkeitsgefühl – und verstärken es!
Bei den Super-Reichen in unserer Gesellschaft ist ihre Solidarität mit den Mitbürgern und Betrieben, die es arg gebeutelt hat, jetzt besonders gefragt.
Und ohne eine weltweit bessere Verteilung der Lebenschancen leiden Millionen von Menschen – und gefährden wir selbst unseren eigenen Wohlstand.
Pfarrer Pirmin Spiegel, der Hauptgeschäftsführer von MISEREOR, der aus unserer Diözese stammt und mit dem ich befreundet bin, hat mir geschrieben:
„Zeiten wie diese sind Knotenpunkte der Entwicklung. Jede Krise birgt Chancen oder eben Gegenteiliges in sich. Risikoexperten sagen, dass sich Dynamiken wechselseitig verstärken und großen Schaden anrichten können.
Was es zu verhindern gilt: Wir mögen uns das gar nicht vorstellen, welche humanitären Katastrophen Corona in afrikanischen und anderen armen Ländern anrichten könnte, deren Gesundheitssystem schwach sind, in denen viele Menschen in Slums auf engstem Raum zusammenleben und in denen es keine sozialen Absicherungsmechanismen gibt. Oder denken wir an Flüchtlingslager, z.B. in Idlib. Da ist fast alles prekär, und es mangelt an Hygiene, sauberem Wasser, Desinfektionsmittel, Schutzkleidung, Sicherheit, Unterkünften... Krankenhäuser sind zerbombt. Wir wissen, dass ökonomische und soziale Zusammenbrüche und Gewalt dazu führen, dass ganze Staaten scheitern. Humanitäre Desaster werden dann zu Fragen der internationalen Sicherheit.“
Wenn, verstärkt durch die Corona-Auswirkungen, in den armen Ländern ganze Volkswirtschaften in die Knie gehen und die Menschen nicht mehr wissen, wie es weitergehen soll, dann kann es zu bisher nie dagewesenen Wanderungsbewegungen kommen. Wer kann es einer Mutter in der Sahel-Zone verdenken, wenn sie sich Richtung Europa aufmacht, weil sie nicht möchte, dass ihre Kinder elend verhungern!
Durch die Corona-Auswirkungen jetzt und in Zukunft wird wie durch ein Brennglas verstärkt deutlich: Es kommt entscheidend auf unsere Solidarität im Kleinen und im Großen an, wenn wir auch in Zukunft alle miteinander ein Leben in Frieden und Wohlstand führen wollen.
2.
Beten beim Zeitungslesen
Auf den Zeitungsseiten kommt mir jeden Morgen vieles von dem vor Augen, was in unserer Welt gerade los ist. Die aktuellen politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen, die internationale Lage, die Krisenherde der Welt; Unglücke, Katastrophen, Verbrechen. Und das, was sich in unserer Stadt und Region alles abspielt. Dabei kommen immer auch persönliche Schicksale in den Blick, Menschen, die es im Leben nicht leicht haben.
Das alles serviert mir die Zeitung bereits zum Frühstück. Dann ist die Frage, mit welchem Blick, mit welcher Einstellung ich all das lese. Was es in mir auslöst. Ich kann es sensationslüstern konsumieren. Ich kann es teilnahmslos zur Kenntnis nehmen. Ich kann aber auch innerlich Anteil nehmen an dem, was passiert ist, was Menschen widerfahren ist.
Wenn das Zeitunglesen mit einem Mitgefühl mit den betroffenen Menschen geschieht, dann ist der Weg zu einem Gebet nicht mehr weit. Dann steigt ab und zu fast von selbst ein innerer Seufzer zum Himmel – über das, was geschehen ist. Dann kommt aus dem Herzen das eine oder andere Stoßgebet, eine spontane Bitte für die Menschen, die in der Zeitung erwähnt sind. Dann ergeben sich beim Lesen fast automatisch Fürbitten für unsere Welt und für die Menschen, Bitten um den Beistand Gottes dort, wo Not herrscht.
So animiert mich die Zeitung jeden Tag dazu, bestimmte Menschen Gott besonders ans Herz zu legen. Und das Gebet für sie verbindet mich dann auch innerlich mit ihnen und mit Gott. Beim Zeitunglesen beten – diese Chance möchte ich mir nicht entgehen lassen.
Probieren Sie es mal aus!
Mit einem herzlichen Gruß
Ihr
Christoph Maria Kohl
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1.
Zurück zur früheren „Normalität“ – oder Chance für ein bewussteres Leben?
Am Freitag, 8.5.2020, steht auf der Wirtschaftsseite der „Rheinpfalz“: „Viele Verbraucher wollen ihr Verhalten aufgrund der Corona-Krise ändern. Sie wollen auch nach Abflauen der Pandemie weniger reisen, seltener ins Kino oder in Konzerte gehen und sie wollen einen Bogen um öffentliche Verkehrsmittel machen. Das geht aus einer am Donnerstag veröffentlichten repräsentativen Umfrage des Marktforschungsunternehmens McKinsey hervor. … Rund 30 Prozent kündigten an, künftig weniger Geld für Luxusprodukte oder überflüssige Einkäufe ausgeben zu wollen. …“
Das bedeutet offensichtlich, dass manche Gewohnheiten von vor der Corona-Krisenzeit jetzt überdacht und neu bewertet werden – mit konkreten Folgen für das Alltagsverhalten. Ist das nicht eine Chance dieser unseligen Pandemie? Die Chance, einmal innezuhalten, manches zu überdenken, bewusster zu leben, ja noch mehr MEIN Leben zu führen statt mit dem mitzuschwimmen, wie „man“ in unserer Gesellschaft so lebt?
Vieles an Lebensgewohnheiten, die so selbstverständlich zum Leben dazugehört haben, dass einem das gar nicht mehr bewusst war, sind in den letzten Wochen weggebrochen, unmöglich geworden. Dadurch ist ein äußerer und innerer Leerraum entstanden – der aber auch ein Freiraum ist. Einerseits vermissen wir vieles schmerzlich. Andererseits entsteht auch eine hilfreiche Distanz zu manchem, die es erlaubt, es mal in den Blick zu nehmen und neu Stellung dazu zu nehmen.
Interessant bei der zitierten Umfrage ist ja z.B., dass viele jetzt erkennen, dass Sie in der Vergangenheit bei „überflüssigen Einkäufen … Luxusprodukte“ erworben haben – und in Zukunft darauf verzichten wollen (und können!).
So gesehen liegen in der Corona-Ausnahmesituation Fragen in der Luft, die sich sonst vielleicht nicht so deutlich oder bedrängend stellen. Und es kann nur gut sein, sich diesen Fragen zu stellen und sich persönlich (oder als Familie) damit auseinanderzusetzen:
• Was hat mir in den vergangenen Wochen gefehlt? Was habe ich (in den verschiedenen Dimensionen des Lebens) schmerzlich vermisst?
• Was ist mir für mein Leben unverzichtbar wichtig?
• Was brauche ich, damit es mir gut geht?
• Wovon erhoffe ich mir konkret, dass es mich glücklich macht?
• Woran hängt mein Herz?
• Worauf kann ich ohne Verlust für mein Lebensglück verzichten?
• Gibt es Überflüssiges, „Luxus“, ja Ballast (an Materiellem und Lebensgewohnheiten), das ich vermeintlich brauche, damit es mir gut geht?
• Was ist das Wesentliche in meinen Leben und für mein Leben?
• Worauf möchte ich verzichten, was möchte ich anders machen, damit mein Leben bewusster, intensiver, sinnvoller, erfüllender wird?
• Gönne ich mir „meinen Lebensstil“? Was zeichnet ihn – und von daher mich! – aus?
• Worauf soll es mir / uns in meinen Leben wirklich ankommen? Von welchen Zielen und Werten soll mein Leben faktisch geprägt sein?
• Was möchte ich konkret ändern?
Wer sich diese Fragen stellt – und wer sich diesen Fragen stellt (denn sie können „ans Eingemachte gehen“) –, der kann für sein Leben und für seine Persönlichkeit nur gewinnen.
Zumal er dann einer Gefahr entgeht, die ganz generell, unabhängig von der Corona-Ausnahmesituation, lauert: Viele Menschen merken nicht, dass sie selbst ihr Lebensglück an diverse Bedingungen knüpfen; dass sie ihr Wohlergehen von allem Möglichen abhängig machen. Unbewusst funktioniert das dann nach dem Schema: „Genauso muss es in meinem Leben sein, damit ich glücklich sein kann.“ „Wenn ich nicht dies oder jenes bin oder hinbekomme, dann kann ich mit mir nicht zufrieden sein.“ „Wenn ich das eine oder andere nicht habe, kann es mir nicht gut gehen.“ Wieso eigentlich nicht? Weil ich das so festgelegt habe! Weil ich selbst mein Lebensglück davon abhängig gemacht habe!
Es gibt aber keine objektive Gesetzmäßigkeit oder Vorgabe, was nötig ist, damit ich richtig glücklich und zufrieden sein kann. Eine blinde Frau in meinem Freundeskreis hat mir gesagt, dass sie rundherum glücklich ist – und das kann ich ihr auch abnehmen. 100% lebensfroh, obwohl jemand stark gehandicapt ist – das geht also. Schade, wenn jemand sein Lebensglück unnötigerweise von allem Möglichen abhängig macht – und es damit vermindert oder verpasst. „Die Freude steckt nicht in den Dingen, sondern im Innersten unserer Seele“ sagt Therese von Lisieux, einer meiner Lieblingsheiligen.
Deshalb ist es gut, wenn ich dahinterkomme, welche heimlichen Bedingungen für mein Wohlergehen sich bei mir eingeschlichen haben. Und es ist förderlich für mein Lebensglück, wenn ich bewusst entscheide, was mir für mein Leben wichtig ist.
2.
Das „Seelennebelgebet“
Wenn die frisch gepflügten Felder im Frühjahr oder Herbst im Licht der Morgensonne daliegen, dann sieht man gelegentlich aus diesen Feldern Nebelschwaden aufsteigen, die von Sonnenstrahlen durchflutet sind. Danach hat P. Willi Lambert SJ, Lehrmeister der ignatianischen Spiritualität, eine Gebetsform benannt: Das „Seelennebelgebet“ (in: Willi Lambert, Gebet der liebenden Aufmerksamkeit, Paulinus-Verlag Trier, 2010 u.ö., S. 44-45).
Am besten legt man sich dazu ausgestreckt auf den Boden, auf eine Liege oder auf das Bett – ausgestreckt wie ein kleines Stück Land. Und dann pflügt man mit einer Frage oder einem Wunsch sein Inneres auf und lässt die Nebel, Gefühlsnebel und Wunschnebel und Gedankennebel, die da kommen, einfach emporsteigen. Sie können dann ähnlich wie die Nebel über den Feldern „nach oben wegdampfen“.
Man kann sich so auch den o.g. Fragen öffnen und dazu das kommen lassen, was kommt. Alles aufsteigen und zur Ruhe kommen lassen in Gott, von dem der Beter des Psalms 139 singt und schreibt:
„Herr, du hast mich erforscht und du kennst mich.
Ob ich sitze oder stehe, du weißt von mir.
Von fern erkennst du meine Gedanken.
Ob ich gehe oder ruhe, es ist dir bekannt.
Du bist vertraut mit all meinen Wegen.“ (Ps 139, 1-3)
Dass Sie so sich selbst und Gott näher kommen,
das wünsche ich Ihnen von Herzen!
Ihr
Christoph Maria Kohl
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1.
Wie mit Spannungen umgehen
Entspannung steht hoch im Kurs. Kein Wunder. Bei vielen wird das Leben immer stressiger. Die momentane Situation tut das ihre dazu. Da ist es gut, dass es ganz unterschiedliche Methoden zur Entspannung gibt.
Dabei helfen soll auch spezielle Musik zum Runterkommen. Die funktioniert bei mir aber nicht – ich komme dadurch nicht wirklich zur Ruhe. Das wundert mich nicht. Manche Entspannungs-Musik ist ganz getragen, sie plätschert ohne jegliche Dynamik vor sich hin. Sie vermeidet die Spannungsbögen, die sonst zur Musik gehören. Es gibt kein Auf und Ab von Bewegung und Lautstärke, das die Musik ausmacht. Genau dadurch aber verfehlen die Wohlfühl-CDs ihr Ziel. Wirksame Entspannung tut nicht so, als ob es keine Spannungen gäbe. Sie greift sie auf, sie führt durch die Spannungen hindurch, damit sich genau dadurch innerlich etwas lösen kann. Das scheint eine Gesetzmäßigkeit zu sein, auch über die Musik hinaus.
Zur Lebenskunst gehört offensichtlich, dass jemand gut mit Spannungen umgehen kann. Innere und äußere Spannungen gehören zum Leben dazu. Leben heißt doch, ausgespannt sein zwischen Himmel und Erde, zwischen mir und den anderen; ausgespannt sein zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Seitdem ich die Spannungen, die ich um mich erlebe und in mir spüre, bewusst annehme, seitdem ich zu ihnen „Ja“ sage, seitdem tue ich mir damit leichter. Und ich merke: Spannungen unter den Tisch kehren hilft nicht. Wenn ich mich ihnen stelle, dann kann ich mich in den Spannungsfeldern des Lebens gut bewegen und sie besser gestalten.
Dann kann ich auch ihre positive Seite sehen: Beim Strom fließt nichts ohne Spannung. Auch im Leben bewirkt die richtige Spannung Gutes: Sie hält einen Menschen aufrecht, sie bringt etwas in Bewegung, sie setzt Energie frei.
Es ist hilfreich, wenn ich die Spannungen in meinem Leben und in mir selbst auch positiv sehen kann. Dann kann ich besser mit ihnen umgehen – und dann kann ich mich auch wirksamer entspannen. Und so bin ich wieder bereit für das spannungsvoll Neue, das auf mich zukommt.
2.
In meiner Gebetsecke in meiner Wohnung liegt u.a. ein Gebet, das ich besonders dann bete, wenn die eine oder andere Spannung mich doch zu sehr bedrängt:
Gott zwischen uns
Es sei die Kraft Gottes
zwischen uns und aller Schwäche,
das Licht Gottes
zwischen uns und aller Finsternis,
das Leben Gottes
zwischen uns und allem Tod,
die Liebe Gottes
zwischen uns und allem Seufzen,
die Ruhe Gottes
zwischen uns und allem Wahnsinn.
Gottes Gegenwart ist bei uns
heute und immer.
(Gebet der Ökumenischen Gemeinschaft der Iona Community; in: Das Göttliche. Frauen suchen und finden. Gedanken und Kunst von Frauen aller Welt; hg. von Missio Aachen,
www.missio-shop.de; abgedruckt in missio-Magazin 4/2019, S. 27)
Dass Sie gerade in der momentan herausfordernden Zeit die Gegenwart Gottes spüren,
das wünsche ich Ihnen von Herzen!
Ihr
Christoph Maria Kohl
1.
Wegen der hohen Ansteckungsgefahr durch das heimtückische Virus sind die Kontakt- und Begegnungsmöglichkeiten im öffentlichen Raum, im Beruf und im Privaten nach wie vor eingeschränkt – und vieles davon wird noch länger weitergehen und uns belasten.
Wir sollen möglichst zuhause bleiben (v.a. die Angehörigen der Risikogruppen), möglichst keine Besuche empfangen oder machen. Familienfeste u.ä. fallen fast ganz aus. Es ist nicht möglich, dass wir uns im Gasthaus oder Restaurant und auf schönen Plätzen treffen – auch nicht zu Chorproben.
Und wenn man sich sieht: Keine herzliche Begrüßung mit Handschlag, Umarmung oder Kuss. Wir müssen sicherheitshalber auf Abstand voneinander bleiben. Ja, man muss auf der Straße oder in Geschäften um alle anderen „einen Bogen machen“ – um mindestens 1,5 m Abstand zu wahren.
Wegen der Ansteckungsgefahr ist das alles bitter notwendig. Aber es ist ein unnatürliches, fast absurdes Verhalten, das wir da an den Tag legen müssen. Weil das Miteinander in einem Maß beschnitten ist, dass etwas Lebenswichtiges zu kurz kommt. Der Mensch ist grundlegend auf Gemeinschaft angelegt. Und es gehört dazu, dass wir die menschliche Nähe zu anderen mit Gesten, durch spürbare körperliche Zuwendung, ausdrücken. Das tut gut – und das geht jetzt zum großen Teil nicht.
Das ist nicht nur ungewohnt, sondern das schmerzt – weil derzeit eben eine Ur-Sehnsucht des Menschen nicht so gestillt werden kann, wie es aus gutem Grund einfach zum Menschsein und zum Alltagsleben dazu gehört.
Aber die Tatsache, dass wir das schmerzlich vermissen, hat auch eine positive Auswirkung: Die Bedeutung, der Wert dessen, was wir konkret vermissen, leuchtet auf. Es wird spürbar,
wie wichtig das Miteinander, ein Treffen, ein tieferer Austausch, das Zusammensein mit Freund/inn/en, eine gemütliche Runde von Gleichgesinnten, … - überhaupt: wie wichtig Begegnung und Gemeinschaft, die Dimension der Mitmenschlichkeit, für unser Leben sind.
Und ich erlebe, dass das auch konkrete, positive Auswirkungen im Alltag hat: Derzeit sind die Menschen insgesamt offener füreinander, nehmen einander bewusster wahr und sind kommunikativer als vor der Corona-Zeit.
Das habe ich auf verschiedene Weise erfahren:
Beim Joggen am Rheinufer (abends, wenn wenig Leute dort unterwegs sind) laufe ich an zwei Jugendliche im besten Pubertäts-Alter vorbei, die mich 64jährigen sonst keines Blickes gewürdigt hätten – jetzt rufen sie mir ein freudiges „Hallo!“ zu – auch, als das zweite Mal an ihnen vorbei gejoggt bin!
Beim spätabendlicher Spaziergang durch die Altstadt grüße ich einen Mann, der mir entgegenkommt – der einzige Mensch, der mir auf der Runde begegnet ist – und er grüßt zurück, bleibt stehen – wir reden eine Viertelstunde miteinander – und er gibt mir einen Gruß an unseren Weihbischof mit, der mit ihm in der Schule war. „Zufall“: Am nächsten Abend treffen ich ihn wieder – und wir führen das Gespräch weiter.
Von einer Optikerin habe ich erfahren, dass die Leute im Laden jetzt aufmerksamer für sie und die anderen sind und dass sie ihr im Unterschied zu vorher in die Augen schauen statt irgendwohin.
Wenn ich Bekannte in der Stadt oder am Rhein treffe, bleiben wir alle stehen und halten – in der notwendigen äußeren Distanz – ein Schwätzchen. Früher, vor Corona, hätten wir uns vermutlich nur kurz gegrüßt, und dann wäre jeder gleich wieder seiner Wege gezogen.
Und insgesamt erwidern die Leute viel mehr als vor der Corona-Zeit meinen Gruß oder ein freundliches Kopfnicken, das ich ihnen im Vorbeigehen zuschicke. Ich bin auf dem Dorf aufgewachsen, wo es selbstverständlich war, dass man einander im Vorbeigehen grüßt.
Weil viele Möglichkeiten der Mitmenschlichkeit und der Gemeinschaft, ihres Ausdrucks und ihrer Feier unmöglich sind, ist offensichtlich die Sensibilität für diese Grunddimension des Menschseins und des Lebens größer geworden. Viele nehmen die anderen bewusster wahr. Das ist ein Gewinn – nicht nur jetzt, mitten in allem, was uns fehlt, sondern hoffentlich auch für „die Zeit danach“. Wir können das, was sich jetzt da tun, für das eigene Erleben und für das Zusammenleben nachhaltig fruchtbar machen.
Deshalb mein Vorschlag: Nehmen Sie gerade jetzt Ihre Mitmenschen ganz bewusst wahr. Pflegen Sie die Mitmenschlichkeit mit den kleinen Zeichen und Gesten, die auch jetzt möglich sind – und die jetzt besonders gut tun, ja nötig sind. Zum Beispiel auch ein liebes Wort an der Supermarkt-Kasse – darüber freut sich die Kassiererin, und aus einem Geschäft wird mit einem Mal eine kleine Begegnung von Mensch zu Mensch. Das wirkt übrigens auch positiv auf Sie selbst zurück. Jede Geste der Mitmenschlichkeit tut der eigenen Seele gut – und verstärkt in Ihnen und im anderen eine Haltung und Verhaltensweisen, die das Leben intensiver und erfüllender machen: „Alles wirkliche Leben ist Begegnung.“ sagt Martin Buber.
2.
Sie können noch einen Schritt weiter gehen: Sie können den anderen segnen, ein inneres Segensgebet für ihn und über sie sprechen.
Das sind wir leider nicht so gewohnt. Bei „Segen“ denken die meisten an den Segen durch den Priester am Ende der Messe – und vielleicht noch an den päpstlichen Segen „Urbi et orbi“. Aber jede/r, der/die auf die Hilfe und den Beistand Gottes hofft, kann (einen) Mitmenschen segnen. Unsere Mutter hat uns vier Kindern immer ein kleines Segenskreuz auf die Stirn gezeichnet, wenn wir morgens aus dem Haus gegangen sind.
Was bedeutet das, wenn Sie einen Mitmenschen mit einem stillen Gebet oder auch einer äußeren Geste segnen? Das bedeutet zunächst, dass Sie es gut mit ihm meinen und ihm Gutes wünschen - Gutes, das Gott, die Quelle des Lebens, ihm oder ihr schenken möge. Es ist eine konkrete Bitte an Gott für diesen Menschen – im Vertrauen auf IHN, der uns allen „Leben in Fülle“ (Joh 10,10) schenken möchte.
„Segnen“ heißt auf Lateinisch „benedicere“. Wörtlich übersetzt: „bene-dicere“ – „gut-sagen“, gutheißen, Gutes wünschen. Wenn Sie einen Mitmenschen segnen, dann bedeutet das, dass Sie sich in das „Ja“, das Gott schon immer bedingungslos zu diesem Menschen (und zu Ihnen selbst!) gesagt hat und immer wieder neu sagt, einschwingen und es mitvollziehen: Sie sagen mit Gott „Ja!“ zu diesem konkreten Menschen. Das heißt: Sie tun damit „etwas Göttliches“, etwas, was Gott selbst tut und durch Sie tun möchte: Sie bejahen diesen Menschen, heißen ihn gut: „Ich freue mich darüber, dass Du da bist und dass wir uns sehen. Und ich empfehle Dich Gott an – damit Du sein Wohlwollen und seinen Schutz spürst und mehr zu Dir selbst und zu Deinem Lebensglück findest. Möge Gott Dir vor allem dort beistehen, wo Du seine Fürsorge jetzt besonders gut brauchen kannst.“
Wenn Sie in dieser Einstellung ein inneres „Sei gesegnet!“ oder „Der Segen Gottes möge mit Dir sein!“ sagen, dann treten Sie mit Gott und über Gott in Beziehung zum Nächsten und vertiefen Ihre Beziehung zu ihm, gleich, wer es auch sei, und gleich, wie nahe oder fern sie ihr stehen. Und warum nicht auch Ihre Ehefrau oder Ihren Ehemann oder die Kinder mit einem lieben, persönlichen Wort und einer kleinen Geste ausdrücklich segnen?! Bene-dicere, Gutes sagen, Gutes zusprechen, noch dazu im Namen Gottes, kann Wunder wirken und ist auf jeden Fall zutiefst lebensförderlich. Denn so werden auch Sie selbst zu einem Segen für die anderen!
Der bekannteste biblische Segen dürfte der sogenannte aronitische Segen (Num 6, 24-26) sein:
„Der Herr segne dich und behüte dich.
Der Herr lasse sein Angesicht über dich leuchten und sei dir gnädig.
Der Herr wende sein Angesicht dir zu und schenke dir Frieden.“
Das wünsche ich Ihnen von Herzen!
Ihr
Christoph Maria Kohl
1.
„Wir alle spüren, dass der Einschnitt, den wir jetzt erleben, unsere Welt verändern wird. Nicht nur, dass der Weg in die ‚Normalität‘ uns noch viele Verzichte abverlangen wird, sondern dass diese ‚Normalität‘ ein anderes Gesicht haben wird.“ „Aber nicht nur wir – die ganze Menschheit muss sich neu orientieren.“ Das sagte Bischof Wiesemann in der Chrisam-Messe am Gründonnerstagmorgen.
Ähnlich Bundespräsident Steinmeier in seiner Ansprache zwei Tage später: „Und für uns alle die bohrende Ungewissheit: Wie wird es weitergehen? … Wir alle sehnen uns nach Normalität. Aber was heißt das eigentlich? Nur möglichst schnell zurück in den alten Trott, zu alten Gewohnheiten? … Nein, die Welt danach wird eine andere sein.“
Wir leben derzeit in einer doppelten Ungewissheit. Zum einen ist nicht abzusehen, wie lange noch Kontaktbeschränkungen, Schließungen, Veranstaltungsverbote usw. zur Verringerung der unmittelbaren Ansteckungsgefahr unser gewohntes Leben stark beeinträchtigen. Zum anderen ist ganz unklar, wie die Folgen von Covid 19 unsere Welt und unser gewohntes Leben nachhaltig verändern werden: Langfristige Schutzmaßnahmen vor Infektion, bis Impfstoff für alle da ist; Rezession, Verlust von Arbeitsplätzen, persönliche Krisen durch Wegbrechen der (finanziellen) Existenzgrundlage; soziale Spannungen; Auseinandertriften der (europäischen) Staatengemeinschaft durch nationalstaatliches Abschottungsdenken u.ä.
Vieles, was für uns selbstverständlich war, geht derzeit nicht – und wird vielleicht nie wieder so sein „wie vorher“. „Die Welt danach wird eine andere sein.“ hat der Bundespräsident ganz bewusst in seiner Ansprache gesagt. Veränderungen kommen auf uns zu, womöglich gravierende und langfristige. Kein Wunder, wenn das viele verunsichert oder Ängste auslöst.
Gewohnheiten – das, was zum Leben dazugehört und wie es geht – was wir uns in Zeiten des Wohlstands selbstverständlich leisten können – wirtschaftliches Wachstum und positive Zukunftsaussichten - all das prägt die Bahnen, in denen sich das Leben bewegt, und all das gibt auch Sicherheit, einen gewissen Halt: „So geht Leben, und darauf kann ich mich verlassen.“
Und wenn dieses Selbstverständliche, diese Sicherheit wegbricht? Je gravierender die bedrohlichen Veränderungen sind, die unerwartet und ungewollt über uns hereinbrechen, desto mehr kann das verunsichern.
Denn wir brauchen ja Sicherheit für unser Leben – Verlässliches, das uns Halt gibt. Die Frage ist nur, was wirklich guten Halt und echte Sicherheit geben kann. Wenn äußere „Sicherheiten“ wegbrechen, ist die innere Sicherheit umso wichtiger.
Wenn das, was mein Leben faktisch ausfüllt, unreflektiert meinen Lebenssinn bestimmt; wenn ich unbewusst an dem hänge und keine positive, kritische Distanz zu dem habe, was alles so selbstverständlich scheint; wenn das Leben sich gewohnheitsmäßig in festen Bahnen bewegt – dann gibt das eine trügerische Sicherheit, die sehr zerbrechlich ist, wenn die äußeren Bedingungen sich ändern – wie es jetzt der Fall ist. Dann ist mit den äußeren Veränderungen das weg, was faktisch Halt und Sicherheit gegeben hat.
So gesehen ist eine Krisenzeit wie die derzeitige (die noch länger andauernd wird) eine „Stunde der Offenbarung“: Es zeigt sich zunächst, wie es um meine Sicherheit und meinen Halt bestellt ist. Das kann eine Ent-Täuschung mit sich bringen. Aber auch dann ist es hilfreich, wenn ich weiß, wie es wirklich um mich steht. Wenn ich wahrnehme, woran ich mich faktisch festhalte; was alles ich brauche, damit es mir gut geht. Je mehr unreflektierte Gewohnheit hierbei im Spiel ist, je mehr ich mich unbewusst an Gewohntes klammere, desto mehr mache ich mich innerlich davon abhängig – mit der Folge, dass das Lebensglück auf dünnem Eis steht.
Auf jeden Fall gilt: Je stärker meine innere Sicherheit ist, desto weniger werfen mich äußere Veränderungen um, desto besser kann ich mit ungewollten Veränderungen umgehen. Deshalb ist die Frage wichtig, wie die innere Sicherheit wachsen kann.
Es geht um das, was mir inneren Halt geben kann; um das innere Fundament, auf dem ich mit meinem Leben stehe. Je besser ein Baum in der Tiefe verwurzelt ist, desto weniger können ihm Stürme etwas anhaben!
Genau das kann uns der Glaube geben. Je tiefer ich in Gott verwurzelt bin, je mehr das Vertrauen auf IHN mir Halt gibt, je mehr ER das feste Fundament meines Lebenshauses ist, desto größer ist meine innere Sicherheit – auch und gerade dann, wenn vermeintliche äußere Sicherheiten wegbrechen.
Auch diese Erfahrung spiegeln viele Psalmen wider (Gott als „mein Fels“, „meine Burg“ – gerade in Not und Bedrängnis: s. Ps 18, 3.47; Ps 59, 10.17.18; Ps 62, 3.7.8; Ps 91, 2).
Und vor allem sehr wir es an Jesus Christus selbst. Was hat Jesus in seinem Leben (und Sterben!) Halt und Sicherheit gegeben? Bei ihm gab es keine äußeren, materiellen Sicherheiten, keine dumpfen Selbstverständlichkeiten, kein Wie-man-so-lebt, kein gewohnheitsmäßiges business-as-usual.
Was brauchte er zum Glücklichsein? Was hat ihn getragen? Was hat ihm diese große innere Sicherheit gegeben („Ich aber sage euch …“)? Seine innere Sicherheit erwuchs aus seiner Gottesverwurzelung. Er wusste sich vom Vater im Himmel bedingungslos geliebt. Er hat gespürt, dass Gott hinter ihm steht und ihn stärkt. Er hat in und aus der inneren Verbindung mit Gott gelebt. Er hat sich auch im Gebet immer wieder in IHN hineinvertieft. So konnte er je neu mit Lebenskraft und Geist erfüllt werden. Und er hat das Wirken Gottes in seinem Leben und bei den Menschen wachen Herzens wahrgenommen und war davon erfüllt. So konnte er als Freund des Lebens und der Menschen auch auf vielfältige Weise heilsam wirken – er war selbst als Person eine Frohe Botschaft für die Menschen.
Seine Gottesverwurzelung hat ihm Erfahrungen ermöglicht, die ihn dann weiter gestärkt haben. So hat er in großer Souveränität SEIN Leben gelebt – bis hin zu der Freiheit, es für die Menschen hinzugeben. Seine innere Sicherheit und Freiheit waren so groß, dass er sich im Sterben total verunsichern lassen konnte – im Vertrauen auf seinen Vater im Himmel.
Wer sich auf den Weg macht, Gott zu vertrauen und Jesus nachzufolgen, der kann auch in dessen innere Sicherheit immer mehr hinein wachsen. Dann können wir auch so manches loslassen, was nur scheinbar von außen her Sicherheit vermittelt. Und dann können wir mit Krisen und großen Herausforderungen viel besser umgehen.
2.
Um in die innere Sicherheit, die Jesus ausgezeichnet hat und die er auch uns schenken möchte, hinein zu wachsen, kann es hilfreich sein, diese Texte zu lesen und betend zu internalisieren:
• Die oben angegebenen Psalmen
• Lieder zu „Vertrauen und Trost“, Gotteslob 414 – 435
• Gebete zu „Vertrauen“ im Gotteslob 8, 5-7
Und ich empfehle Ihnen ein Gebet des Franziskanerpaters Anton Rotzetter (aus: Gott, der mich atmen lässt. Gebete. Herder-Freiburg 1985 u. ö., S. 170):
„Mich loslassen
und in Dein Herz fallen
Vertrauen
und mein Leben auf Dich setzen
Auf Jesus schauen
und mich nach ihm richten
Ins Dunkle gehen
und mit Dir rechnen
Das will ich
mein Gott und alles“
Möge Gott Sie diesen Weg führen!
Domdekan Dr. Christoph Maria Kohl
1.
Ostern 2020 ist ganz anders als sonst. Aber es fällt wegen der Pandemie nicht aus und wird auch nicht verschoben. Ostern, das Fest der Auferstehung, das Fest vom Sieg des Lebens, ist gerade jetzt besonders wichtig für uns.
Vieles ist derzeit nicht möglich, was sonst zu unserem Leben selbstverständlich dazu gehört, auch zu den Ostertagen. Es ist ein von außen auferlegter Verzicht, der uns zusetzt. Viele leiden auf verschiedene Weise darunter. Erst recht schmerzlich ist es, wenn Menschen durch den Virus schwer krank werden oder gar sterben. Wir erleiden etwas, was wir nicht im Griff haben, nicht einfach so ändern können - und wobei wir nicht wissen, wie es weiter geht. Auch eine Art „Passion“.
Mitten in dieser Situation feiern wir Ostern, feiern wir, dass Gott Jesus Christus aus dem Tod herausgeholt hat und ihm neues Leben geschenkt hat. Wir feiern den Gott, der stärker ist als alles Tödliche in unserem Leben – und der mit Jesus auch uns alle aus der Macht des Todes herausreißt, nicht nur am Ende unseres irdischen Daseins, sondern jeden Tag neu – zu unserem Glück, zu unserem Heil.
Denn es gibt ja die „kleinen Tode mitten im Leben“. Schmerzliche Erfahrungen,
Solche Erfahrungen sind Beispiele dafür, dass es in unserem Alltag so manches gibt, was sich „lebensfeindlich“ auswirkt - Hemmnisse für das „Leben in Fülle“ (Joh 10,10), das Gott uns schenken will. „Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen“ heißt es in einem alten Lied (aus dem 11. Jahrhundert, in dem der Speyerer Dom gebaut worden ist!), das durch Martin Luther bekannt geworden ist.
Vor dem Hintergrund dieser Grund-Erfahrung feiern wir Ostern. Wir feiern das Leben, das GOTT uns schenkt, erst recht dort, wo wir nicht mehr weiterkommen, wo wir am Ende sind. Wir feiern die „göttliche Lebensqualität“, die ER uns schenkt – indem er die Grenzen, die der Tod und alles Tödliche im Leben uns setzen, sprengt. Nicht nur am Ende des Lebens, sondern im Hier und Heute. Befreiung und Erlösung ganz konkret, dort, wo wir sie nötig haben.
Das kommt in einem neuen geistlichen Lied zum Ausdruck (s. Gotteslob Nr. 472):
„Manchmal feiern wir mitten im Tag ein Fest der Auferstehung.
Stunden werden eingeschmolzen, und ein Glück ist da.
Manchmal feiern wir mitten im Tag ein Fest der Auferstehung.
Sätze werden aufgebrochen, und ein Lied ist da.
Manchmal feiern wir mitten im Tag ein Fest der Auferstehung.
Waffen werden umgeschmiedet, und ein Friede ist da.
Manchmal feiern wir mitten im Tag ein Fest der Auferstehung.
Sperren werden übersprungen, und ein Geist ist da.“
(Text: Alois Albrecht)
Ich hoffe, dass Sie solche Auferstehungs-Erfahrungen, solche Ostererfahrungen auch schon gemacht haben:
Solche Auferstehungserfahrungen spielt Gott uns zu – nicht nur an Ostern und nicht nur sonntags (jeder Sonntag ist ja ein kleines Osterfest!), sondern jeden Tag neu – weil er uns ja immer mehr in das „Leben in Fülle“ hineinführen will – und weil er möchte, dass wir Hier und Heute schon möglichst viel davon verkosten können.
Ich lade Sie ein, jetzt, an den Ostertagen und in der Osterzeit, einmal nach solchen Ostererfahrungen, nach kleinen und großen Auferstehungserfahrungen in Ihrem persönlichen Leben, in Ihrem Alltag Ausschau zu halten. Wenn wir sie wahrnehmen und innerlich verkosten und einmünden lassen in Lob und Dank an den, der uns so beschenkt – dann gewinnt unser Leben eine neue Intensivität und Tiefe, dann kann uns die „gottgeschenkte Lebensqualität“ immer mehr erfüllen.
2.
Was das Beten angeht: Wenn Sie bei sich erleben „Manchmal feiern wir mitten im Tag ein Fest der Auferstehung“, wenn Sie sich solcher Erlebnisse bewusst werden, dann kann diese „Ostererfahrung konkret“ einmünden in ein Stoßgebet, ein spontanes Gebet aus dem eigenen Erleben und Herzen heraus – oder in eine Art persönlichen Psalm, Ihr Gebet, etwa in Form einer Litanei (s. als Beispiel verschiedenste Litaneien im Gotteslob, Nr. 556-569), in der sich das niederschlägt, was Sie erlebt haben an, was Sie aufgerichtet und Ihnen neues Leben geschenkt hat.
Ich wünsche Ihnen, dass Sie auf diese Weise immer mehr österliche Menschen werden.
Domdekan Dr. Christoph Maria Kohl
1.
Was uns gerade in dieser Krisenzeit besonders gut tun könnte ist eine „Kultur der Wertschätzung“.
Durch die Kontaktbeschränkungen und Homeoffice sind die meisten länger und enger in der Wohnung beisammen als sonst. Wenn die Arbeit außer Haus, soziale Kontakte und sonstiger Ausgleich wegfallen, wenn alle mehr oder ganz zuhause sind, wenn einem dazu noch die Kinder den ganzen Tag auf die Pelle rücken, dann kann das anstrengend werden. Alle sind mehr als sonst aufeinander angewiesen – und können sich auch „auf den Wecker gehen“. Das kann zu Spannungen und Konflikten führen – was kein Wunder ist. Und offensichtlich kommt es vermehrt zu Auseinandersetzungen, von unbedachten Vorwürfen bis hin zu häuslicher Gewalt.
Gerade in einer solchen, wirklich herausfordernden Situation – aber auch sonst „im ganz normalen Leben“! – tut es deshalb gut, bewusst das wahrzunehmen,
Den Blick dafür zu schärfen, das besser zu sehen, das ist eine Wohltat für alle Beteiligten. Das, was einem am anderen stört, das, womit er oder sie einem irgendwie zusetzt, das spürt man oft unmittelbar und sehr deutlich. Das Umgekehrte, das Positive, das Wohltuende, das wird einem oft nicht so automatisch bewusst – zumal es ja als selbstverständlich erscheint. Deshalb ist es hilfreich, wenn man eine Zeitlang diese „Wahrnehmungs-Übung“ macht, nämlich ganz bewusst die o.g. Punkte beim anderen zu suchen und im Herzen zu sammeln. Das kann dazu führen, dass ich Mitmenschen „mit anderen Augen sehe“, ja auch, dass ich ihn/sie neu schätzen lerne – weil ich das besser sehe, was ihn auszeichnet. (Übrigens sehe ich den anderen erst dann so, wie er wirklich ist, wenn ich ihn mit dem Blick des Wohlwollens und der Liebe betrachte.)
Und dann kann ich noch einen Schritt weitergehen: Ich kann dem anderen das sagen, was ich an ihm entdeckt habe, womit er mit gut tut, was er sonders gut kann, was ihn auszeichnet usw. Das muss nicht gleich ein großes Feedback werden. Schon ein ausdrücklicher Dank und ein Lob für etwas, was Sie jetzt gerade positiv erlebt haben, tut seine Wirkung. Wenn das zur Gewohnheit und dadurch auch zur inneren Haltung wird, dann vertieft das die Beziehung zu den Mitmenschen insgesamt. Menschen, die eine Kultur der Wertschätzung und des Dankens ausstrahlen, die sind ein Geschenk für die Mitmenschen – und werden dabei auch selbst beschenkt!
Paulus schreibt den Christen in Korinth in seinem ersten Brief (1 Kor 12,11), dass „der Heilige Geist JEDEM seine besondere Gabe zuteilt“. Das bedeutet: Als Gabe, als Geschenk Gottes hat JEDER Mensch mindestens eine besondere Gabe, Fähigkeit, Kompetenz, Stärke, ein Charisma! Wenn wir das entdecken und schätzen lernen, dann können wir den anderen auch immer besser so sehen, wie Gott ihn sieht – wir lernen dadurch, die Mitmenschen mit den Augen Gottes zu sehen!!!
Ich lade Sie ein: Gehen Sie mal auf Entdeckungsreise im Kreis Ihrer Lieben und Ihrer Mitmenschen. Machen Sie die beschriebene „Wahrnehmungsübung“ – und versuchen Sie mal, dem anderen auch das zu sagen, was Sie dann garantiert sehen und spüren werden! Das kann Ihnen und den Menschen, mit denen Sie zusammen sind, gerade jetzt gut tun. Und darüber hinaus vertiefen Sie dadurch bei sich automatisch eine Haltung und Verhaltensweisen, die das Leben insgesamt erfüllter und auch Sie selbst glücklicher machen.
2.
Wenn Sie in dieser Krisenzeit Gott Ihre Sorgen, (Für-)Bitten, Fragen, Zweifel usw. hinhalten oder entgegenschleudern wollen; wenn es dran sein sollte, ihn zu fragen, was das Ganze soll, wo seine Hilfe bleibt, mit ihm zu hadern – dann können die Psalmen dazu sehr gute Anregungen geben. Die Psalmen sind Gebete und Lieder, die aus allen denkbaren Lebenslagen heraus verfasst worden sind, die viele existentielle Erfahrungen und Fragen aufgreifen. Schauen Sie das Buch der 150 Psalmen einmal durch (z.B. Ps 16, 27, 34, 91, 139) – vielleicht finden Sie „Ihren“ Psalm, der Ihre derzeitige innere Verfassung wiederspiegelt. Manchem hat es schon gut getan, dann „seinen eigenen Psalm“ zu schreiben, sein Gebet in der Art der Psalmen.
Auf jeden Fall können diese Lieder Israels und der Kirche Sie in Ihre eigene innere Tiefe führen – und Gott näherbringen.
(Empfehlenswert für die Lektüre der Psalmen, aber auch als Bibelübersetzung insgesamt, ist die neue „Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift 2016“, die auch in den Sonntagsgottesdiensten verwendet wird. Vom Verlag Katholisches Bibelwerk wird sie in verschiedenen Ausgaben vertrieben.)
Zwei Anregungen möchte ich Ihnen für die kommende Woche mitgeben.
1.
Mehrere Politiker/innen haben klar gesagt, dass die momentane Situation die größte Herausforderung für unser Land seit dem Zweiten Weltkrieg ist – das scheint mir nicht übertrieben zu sein. Das öffentliche und wirtschaftliche Leben ruht fast ganz – keiner weiß, wie lange das noch nötig ist. Und die Fachleute sagen, dass wir derzeit erst „die Ruhe vor dem Sturm“ erleben, dass die Ausbreitung des Virus unweigerlich noch weitergehen wird. Vielen setzen die Kontakt-Beschränkungen langsam zu; es gibt mehr Spannungen und Konflikte bei denen, die jetzt auf engerem Raum und länger als sonst zusammen sind. Und eben noch kein Ende in Sicht. Und die längerfristigen Auswirkungen können wir nur ahnen…
Das ist eine Situation der OHNMACHT. Wir sind dem Virus irgendwie ausgeliefert – und können nichts dafür tun, dass der Spuk morgen oder sehr bald vorbei ist. Wir können uns nur passiv schützen, indem wir eben soziale Kontakte – soweit möglich – meiden. Aber das verhindert eben nur eine noch schnellere Verbreitung des Virus; unsere Mittel gegen das Virus sind sehr begrenzt. Es gibt keine schnelle Lösung. Wir erleben unsere Ohnmacht.
„Ich kann / Wir können nichts (wirklich Wirkmächtiges) tun!? Wir sind ausgeliefert.“ - Ohnmacht zu spüren ist kein gutes Gefühl. Deshalb wird es oft abgetan oder verdrängt. Dann aber hat es – weil es ja im Innern da ist und weiterrumort – sehr ungute Auswirkungen. Dann führt es entweder zu Lähmung, Resignation, depressiver Verstimmung – oder zu wenig hilfreichem Aktionismus als „quasi-Befreiungsschlag“. Beides ist derzeit bei Einzelnen und in der Gesellschaft wahrzunehmen.
Doch ich kann auch heilsam mit Ohnmachtsgefühlen umgehen - indem ich sie wahrnehme und zulasse. Indem ich mir sage: „Ja, wir sind jetzt in mancher Hinsicht in einer Situation der Ohnmacht. Und das setzt mir innerlich zu. Mein Ohnmachtsgefühl ist da, es gehört derzeit zu mir, – und deshalb nehme ich das Ohnmachtsgefühl an, weil ich mich annehme, so wie ich bin und so wie es mir geht – Gott nimmt mich ja auch so an.“ Wenn ich – so verstanden! – „Ja“ sagen kann zu meinem Ohnmachtsgefühl, dann hat es keine Gewalt mehr über mich, dann kann es mich nicht mehr blockieren oder ungut antreiben. Wenn ich die Ohnmachtserfahrung annehme, dann kann es gut weiter gehen – dann schenkt das innere Freiheit, dann können genau dadurch neue Kraft und neue Kreativität wachsen – und dann können auch wir besser mit der schwierigen Situation umgehen.
Übrigens hat auch Jesus in mancher Hinsicht Ohnmacht erlebt – im Laufe seiner Verkündigung bei Menschen, die ihn nicht verstanden und dann abgelehnt und schließlich ans Kreuz gebracht haben, v.a. bei den Pharisäern und Schriftgelehrten. Er hat sich in seiner Passion ganz in diese Ohnmacht hineinbegeben, so dass sie innerlich keine Macht über ihn hatte, – und Gott hat in seiner Auferweckung deutlich gemacht: SEINE Macht ist größer als alle Ohnmacht – und sie kann uns helfen, dass auch wir aus Ohnmachtserfahrung gestärkt und mit neuer Lebendigkeit herauskommen.
2.
Unser Alltagsleben ist derzeit einigermaßen eingeschränkt. Der äußere Lebensraum ist enger.
Wir können vieles nicht tun, was sonst ganz selbstverständlich zu unserem Leben dazu gehört. Das Leben ist irgendwie eintöniger, und es ist anstrengender.
In einer solchen Zeit ist es umso wichtiger und für das Innere sehr wohltuend, wenn wir gerade jetzt umso bewusster und intensiver das wahrnehmen,
• was wir auch in eingeschränktem Leben konkret an Schönem erleben,
• was mir / uns gut tut,
• wobei mir das Herz aufgeht,
• was den heutigen Tag irgendwie hell gemacht hat und ihm Farbe gegeben hat,
• worüber ich mich heute besonders gefreut habe.
Das in den Blick zu nehmen und das im Herzen gut zu verkosten, dazu lädt das sogenannte „Gebet der liebenden Aufmerksamkeit“ ein. Es geht auf den heiligen Ignatius von Loyola zurück, den Gründer der Jesuiten. In seiner Spiritualität ist dieses Gebet das wichtigste von allem Beten. Er empfiehlt dieses Gebet als Rückblick auf den Tag, zum Abschluss des Tages – am späten Nachmittag oder am Abend, bevor man allzu müde ist.
Es tut gut, dann den Tag Revue passieren zu lassen. Ich kann mir den Tag nochmals vergegenwärtigen, indem ich ihn wie einen Film vorüberziehen lasse – und dabei ganz bewusst nach den „hellen Farben“ Ausschau halte, nach dem, was ich zu Beginn des zweiten Abschnitts aufgezählt habe.
• Was hat mir gut heute getan - und wo habe ich anderen gut getan?
• Wo bin ich irgendwie beschenkt worden - und wo war ich für andere im Kleinen „ein Segen“?
• Wo und wie hat mir Gott irgendwie Leben zugespielt (das tut er täglich, stündlich!) -und wo habe ich heute etwas von ihm gespürt oder geahnt?
So kann ich mir das Wohltuende und Heilsame dieses Tages – und das gibt es jeden Tag! – bewusst machen und vergegenwärtigen. Dadurch kann ich es tiefer genießen, und es lässt mich erfüllt zurück – und es kann so in mir über den Tag hinaus weiterwirken. Zudem schärft das „Gebet der liebenden Aufmerksamkeit“ auf Dauer den Blick für das, was das Leben insgesamt faktisch schön macht und mich erfüllen kann. So kann diese Gebetsweise zu einer intensiveren „Daseinsweise“ führen, zu einer Vertiefung des Lebens.
Probieren Sie es einmal aus! Bitten Sie Gott gegen Abend, dass er Ihnen die Augen öffne, den Blick schärfe für all das, was diesen Tag – und Sie darin! – mit Liebe, Freude, Zuversicht, Hoffnung, … erfüllt hat. Das zu verkosten und im Inneren fruchtbar werden zu lassen tut gerade in dieser schwierigen Zeit besonders gut!
Weitere Informationen: Willi Lambert, Gebet der liebenden Aufmerksamkeit; Paulinus-Verlag Trier (67 Seiten, 5,00 €) – oder schauen Sie im Internet nach unter „Gebet der liebenden Aufmerksamkeit“.
Ich wünsche Ihnen für die kommende Woche die Erfahrung,
die der Beter der Psalms 23 gemacht hat und uns weitergibt:
„Der Herr ist mein Hirt,
nichts wird mir fehlen.
Er lässt mich lagern auf grünen Auen
und führt mich zum Ruheplatz am Wasser.
Meine Lebenskraft bringt er zurück.
Er führt mich auf Pfaden der Gerechtigkeit,
getreu seinem Namen.“ (neue Einheitsübersetzung 2016)
Ich bete für Sie und Ihre Lieben, auch wenn ich die Eucharistie feiere,
und grüße Sie ganz herzlich von unserem Dom aus –
Ihr
Domdekan Dr. Christoph Maria Kohl