Inschriftenkatalog: Stadt Xanten

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 92: Stadt Xanten (2017)

Nr. 4 St. Viktor, Lapidarium 2.–3. V. 11. Jh.

Beschreibung

Zwei Fragmente eines Grabsteins für einen Engilbraht mit einer Versinschrift, die eine Grabbezeugung mit einem Sterbevermerk, einer Gebetsaufforderung und einer Mahnung an den Leser verbindet. Lothringischer Kalkstein. Ursprünglicher Standort unbekannt. Fragment I1) war zuletzt im Kreuzgang (U1) als Baumaterial vermauert, bevor es ins Lapidarium verbracht wurde. Es handelt sich um etwas weniger als die linke Hälfte des Steins. Der rechte Rand ist nicht geschnitten, sondern unregelmäßig abgebrochen; am unteren Rand sind ebenfalls zwei Stücke abgebrochen, aber erhalten. Der Stein ist in der Tiefe fasisch geschnitten, wie bei Fußboden- bzw. Deckenplatten üblich, die Oberfläche ist glatt geschliffen. Fragment II2) wurde 1940 in einem Abstellraum des nördlichen Kreuzgangflügels aufgefunden. Es umfasst das rechte obere Viertel des Steins. Von den sechs Zeilen sind auf diesem Fragment nur die drei oberen sichtbar, wobei die erste Zeile durch einen nachträglich eingearbeiteten Wulst mit darunter liegender Spitznut durchtrennt und dadurch weitgehend unleserlich geworden ist. Bis zur unteren Linie der ersten Zeile war Fragment II mitsamt der Schriftfläche eingemauert, so dass der Wulst hervorragte und mit seiner Oberkante der Witterung ausgesetzt war. Der Stein ist an beiden Seiten gebeilt, an der Unterseite ist eine Falz eingearbeitet. Auf der Oberfläche deuten mineralogische Veränderungen und zahlreiche Rotverfärbungen darauf hin, dass der Stein einem Brand ausgesetzt war. Wie eine mikroskopische Untersuchung ergab, reichen die Brandspuren bis an die Kanten der eingeschnittenen Buchstaben, während in deren Tiefe solche Spuren fehlen. Auch weisen die Bruchkanten des Steins keinerlei Merkmale eines Brandes auf. Der Stein muss demzufolge nach Einhauen der Schrift einem Brand ausgesetzt gewesen sein.3) Die Inschrift ist in Scriptura continua zwischen schwach eingeritzter doppelter Lineatur eingehauen.

Maße: Fragment I: H. 42 cm; B. 28 cm; T. 7 cm. Fragment II: H. 18,5 cm; B. 32,5 cm; T. 7,5 cm; Bu. ca. 4,3 cm.

Schriftart(en): Romanische Majuskel.

  1. HACa) QVIb) P(ER)GISc)4) Ạ[....]d) // SVe) [.]DI[.....]f) /QVIDg) SISh) QVOi) TE[....]j) // [H]ICk) POTISl) ES CAPIASm) · /C(ON)SPICVVSn) VITAo)5) [ENGILBRA]//HT CVBATp) ECCEq) LEVITAr) · /FLORIDVSs) HEST[....t) // - - -] /SEPTIMVSu) OCTOBRI[Sv) .... // - - -] /DICf) REQVIESw) [.... // - - -]

Übersetzung:

Du, der du hier vorbeikommst … was du bist, wohin (du gehst), hier kannst du es erfahren. Siehe, da liegt der Levit Engilbraht, herausragend im Leben, gestern (noch) blühend, … der 7. (Tag?) des Oktober … Sprich: „Die Ruhe…“

Versmaß: Elegische Distichen, leoninisch gereimt (?).

Kommentar

Die qualitätvolle Schrift schöpft überwiegend aus dem kapitalen Alphabet, E und T sind zusätzlich auch unzial ausgeführt. Während Kürzungen nur zurückhaltend verwendet werden, prägen zahlreiche Über- und Unterstellungen, Enklaven und Verschränkungen unter Verwendung kleiner Buchstaben das Schriftbild. Dafür lassen sich das ganze 11. Jahrhundert hindurch Vergleichsbeispiele finden, von der Auftraggeberinschrift an der Willigistür des Mainzer Domes (um 1009)6) bis zur Weiheinschrift in Keyenberg (1089–1099)7). Die Schaft-, Balken- und Bogenenden tragen kleine Sporen, die zum Teil bereits dreieckig ausgeformt sind. Koch führt für Sporen in Form einfacher Striche ein frühes Beispiel aus dem zweiten Viertel des 11. Jahrhunderts an,8) so dass die weiter entwickelte Form der Sporen in der Xantener Inschrift diese eher in die Mitte des Jahrhunderts rückt, vermutlich aber vor die Inschrift für Hubertus (Nr. 8), deren Schäfte teilweise bereits keilförmig verbreitert sind. M hat parallele Außenschäfte und einen kurzen Mittelteil. B, P und R sind offen, die Cauda des R ist weit ausgestellt, leicht geschwungen und trägt eine annähernd dreieckige Schwellung, die sich auch an der Cauda des Q findet.

Der Verstorbene, für den die Grabinschrift angefertigt wurde, lässt sich anhand des ältesten Totenbuchs identifizieren. Zum 7. Oktober ist dort vermerkt: „O(biit) Engilbraht puer“.9) Da die letzten beiden Buchstaben des Namens auf dem Stein noch lesbar sind und ein dreisilbiger Name aus metrischen Gründen zu erwarten ist, darf die Identifizierung als sicher gelten. Als Leviten bezeichnete man seit dem Hochmittelalter Diakon und Subdiakon, die beim feierlichen Levitenamt dem zelebrierenden Priester assistierten,10) oder auch den Diakon im Unterschied zum Subdiakon.

Der Text ist so auf dem Stein verteilt, dass jede Zeile einen Vers umfasst, das Versende wird durch Punkte auf der Zeilenmitte markiert. Ungeachtet der erheblichen Textverluste insbesondere in der rechten Hälfte, aber auch an der Bruchkante des Fragments I, ist aus der fragmentarischen Versstruktur ein Wechsel von Hexametern und Pentametern ersichtlich, d. h. es handelt sich um elegische Distichen.11) Die Länge der Fehlstellen in der Versmitte ist nur schwer einzuschätzen. Zwar scheinen – wie der Ergänzungsvorschlag zu Vers 2 nahelegt – an dieser Stelle je nach Breite der Buchstaben nur vier bis fünf Buchstaben zu fehlen, doch ermöglichen Verschränkungen, Kürzungen und Enklaven, u. U. deutlich mehr Text unterzubringen.

Die handwerkliche Bearbeitung des Steins lässt auf eine ursprüngliche Nutzung als Boden- oder Deckenplatte schließen, die als Grabstein wiederverwendet wurde. Die erwähnten Brandspuren wurden vermutlich durch den zweiten Brand des Xantener Domes in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts oder durch den dritten Brand von 1081 verursacht; der Brand von 1081 ist direkt, der frühere indirekt im ältesten Totenbuch erwähnt.12) Die Schädigungen betreffen nur das Fragment II, die beiden Fragmente wurden zu diesem Zeitpunkt also bereits voneinander getrennt aufbewahrt. Der Stein ist bisher unveröffentlicht.

Textkritischer Apparat

  1. A unter den Balken des H gestellt.
  2. V in Q eingestellt.
  3. I in G eingestellt.
  4. Erkennbar ist das untere Ende eines rechtsschrägen Schafts, vermutlich zu einem A gehörig.
  5. Kürzungsstrich über dem V ist möglich.
  6. I in D eingestellt.
  7. VI in Q eingestellt.
  8. S und I verschränkt.
  9. V in Q eingestellt, O verkleinert über die Cauda des Q gestellt.
  10. E verkleinert unter den Balken des T gestellt. Nach dem E ist ein Schaft zu erkennen, vermutlich von N oder M. Zu TENDAS zu ergänzen?
  11. C verkleinert in der Zeilenmitte.
  12. O verkleinert auf der Grundlinie, IS leicht verkleinert, I unter den Balken des T gestellt.
  13. A in C eingestellt.
  14. Spitzwinklig ausgebuchteter Querstrich über dem C, I verkleinert unter dem Bogen des P, erstes V in C eingestellt, zweites V verkleinert.
  15. I in V, A in den Bogen des unzialen T eingestellt und mit einem einseitig nach links angesetzten Deckbalken versehen.
  16. V in C eingestellt. Vom A, das verkleinert unter den Balken des T gestellt ist, ist nur noch die Spitze erkennbar.
  17. E zweimal in C eingestellt.
  18. E über den Balken des L gestellt, I in V, A in den Bogen des unzialen T eingestellt.
  19. O stark verkleinert über den Balken des L, I unter die Cauda des R gestellt; V in D eingestellt.
  20. E unter den Balken des H gestellt. Zu HESTERNO zu ergänzen?
  21. E über den Mittelteil des S, T unter den Bogen des P, V unter den linken Schrägschaft des M gestellt, S und der rechte Schaft des M verschränkt.
  22. C in O eingestellt, zweites O verkleinert in der Zeilenmitte, I unter den Ansatzpunkt der Cauda des R gestellt.
  23. E unter den Ansatzpunkt der Cauda des R gestellt, VI in Q eingestellt. Hinter dem S ist der obere Abschluss eines Schafts erkennbar. Daher ist wohl nicht zur Formel „requiescat in pace“ zu ergänzen, die zudem nicht ins Metrum passen würde.

Anmerkungen

  1. Inv.-Nr. 373.
  2. Inv.-Nr. 422.
  3. Freundliche Mitteilung von Torsten Knapp, Dombauhütte Xanten.
  4. Vgl. das Epitaph des Mönchs Ruthard (865?): Hoc per iter rogito qui pergis rite viator. Vgl. DI 30 (Landkreis Calw [1992]), Nr. 2.
  5. Die Junktur CONSPICVVS VITA findet sich auch in einem Grabgedicht für den hl. Waldomeris von Lyon († um 660), überliefert in einer Handschrift des 9. Jh. (Paris, BN, lat. 2832): „Conspicuus vita, pretiosa morte sacratus“ (Titulorum Gallicanorum liber, in: Alcimi Ecdicii Aviti Viennensis episcopi Opera quae supersunt, MGH AA 6,2, S. 183, Nr. III.)
  6. DI 2 (Mainz [1958]), Nr. 5. Siehe dazu Koch, Inschriftenpaläographie (2007), S. 151–153.
  7. Funken, Anmerkungen (1983), S. 334. Vgl. Kraus, Christl. Inschriften II (1894), Nr. 500. Siehe zur Weiheinschrift in Erkelenz-Keyenberg, Rhein-Kreis Neuss (E. 11. Jh.), Funken, Bauinschriften (1981), S. 103.
  8. Taufrelief in der Pfarrkirche zu Großbirkach, vgl. Koch, Inschriftenpaläographie (2007), S. 155 und Abb. 149.
  9. Totenbuch in Lichtdrucken (1959), fol. 55r; Oediger, Totenbuch (1958), S. 78.
  10. Adolf Adam, Art. Levitenamt, in: LThK, Bd. 6 (1997), S. 876.
  11. Parallelbeispiele dafür, dass die Pentameter nicht eingerückt sind, finden sich gelegentlich in Inschriften des 11. Jh., vgl. z. B. DI 70 (Stadt Trier I [2006]), Nr. 70f. von A. 11. Jh.
  12. Runde, Xanten (2003), S. 312, 340 u. bes. 312f. Vgl. Einleitung Kap. 2.1.

Zitierhinweis:
DI 92, Stadt Xanten, Nr. 4 (Paul Ley), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di092d009k0000407.