Inschriftenkatalog: Stadt Xanten
Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.
DI 92: Stadt Xanten (2017)
Nr. 11 Stiftsmuseum um 1150
Beschreibung
Kreuzfußreliquiar1), sog. Kleiner Viktorschrein, wird bei der jährlichen „Kleinen Viktortracht“ mitgeführt. Niedersachsen (?). Vergoldete Bronze, gegossen und graviert. 1998 von H. Cürvers, Kevelaer, konserviert und restauriert. Der auf Löwenfüßen stehende Kasten diente zum einen der Aufnahme von Reliquien, zum anderen als Fuß einer (verlorenen) Kreuzigungsgruppe (Bekrönung und Reliquieneinsatz fehlen heute). Rechteckiger Kasten mit Walmdach als Deckel, an drei Seiten durchbrochen gearbeitet, die Rückseite ist unbearbeitet. Im Zentrum der Vorderseite des Kastenunterteils eine Majestas Domini, umgeben von ganzfigurigen, antropomorphen Evangelistensymbolen, in den hochrechteckigen Feldern links die hl. Maria, rechts der Erzengel Michael. An den Schmalseiten und auf den vorderen und seitlichen Flächen des Deckels stehen die zwölf Apostel unter Rundbogenarkaden. An den Dachecken sitzen teils vollplastisch gearbeitete männliche Gestalten in Diakonsgewändern, in Büchern lesend.2) An der unteren Kante des Daches verläuft an der linken Schmalseite und an der Vorderseite ein von Linien begrenztes Schriftband mit einer Reliquienliste, die an der Oberkante der vorderen Wandung fortgesetzt wird (A). Ein weiteres Schriftband mit einer versifizierten Beschreibung des Bildschmucks verläuft auf der unteren Kante der Wandung von der Schmalseite links über die Vorderseite und die Schmalseite rechts (B). Inschriften graviert.
Maße: H. 22,3 cm; B. 26 cm; T. 14,6 cm; Bu. 0,5–0,6 cm.
Schriftart(en): Romanische Majuskel.
- A
IN HOC SCRIN(IO)a) CONTINET(VR)b) / · DE LIGNO D(OMI)NIc) · VICTORIS M(ARTY)R(IS) · AGILOLFI M(ARTY)R(IS) // PANCRATII · M(ARTY)R(IS) SILVESTRI · P(A)P(AE) · CALIXTI · P(A)P(AE)d) +
- B
ALES HOMO LEO BOSe) ANIMAL/IA MISTICA CIRCA ·MAIESTAS MEDIO POST / FVLGET APEX DVODEN(VS)f)
Übersetzung:
(A) In diesem Schrein befindet sich (eine Reliquie) vom Holz des (Kreuzes unseres) Herrn, (eine Reliquie) des Märtyrers Viktor, des Märtyrers Agilolfus, des Märtyrers Pankratius, des Papstes Silvester, des Papstes Kalixtus.
(B) Vogel, Mensch, Löwe und Stier, die mystischen Lebewesen ringsherum, die Majestas (Domini) in der Mitte, danach leuchtet der Zwölferkranz (der Apostel).
Versmaß: Hexameter (B).
Textkritischer Apparat
- Fehlstelle zwischen I und N, linker Schaft des N zerstört. Kürzungsstrich durch den rechten Schaft des N.
- Kürzung durch Haken auf der Grundlinie.
- Ohne Kürzungszeichen.
- Querstrich zwischen P und P auf der Zeile.
- S verkleinert hochgestellt, vermutlich nachgetragen.
- Kürzung durch us-Haken in gleicher Höhe wie die übrigen Buchstaben auf der Zeile.
Anmerkungen
- Inv.-Nr. nach Hölker (1925): B-7.
- Vermutlich die Evangelisten symbolisierend.
- Sedulius, Paschale Carmen 1, V 361f. (ed. Huemer/Panagl, CSEL 10, 1885/2007, S. 42).
- Grote, Schatz von St. Viktor (1998), S. 80–82 (siehe dort auch zur kunsthistorischen Einordnung), danach Kat. Stiftsmuseum Xanten (2010), S. 64f. Weitere Datierungsvorschläge u. a. bei Kraus, Christl. Inschriften II (1894), Nr. 654: 12. Jh.; Clemen, KDM Kreis Moers (1892), S. 130: 12. Jh.; Schnitzler, Rheinische Schatzkammer (1959): Mitte 12. Jh.
Nachweise
- Aus’m Weerth, Kunstdenkmäler, 1. Abt., Bd. 1 (1857), Tf. XVII, 4, S. 40 Anm. 5.
- Clemen, KDM Kreis Moers (1892), S. 130, Nr. 3.
- Kraus, Christl. Inschriften II (1894), Nr. 654.
- Hölker, Inventar (1925), B-7.
- Schnitzler, Rheinische Schatzkammer (1959), Nr. 42 und Abb. 162–164.
- Kat. Zeit der Staufer, Bd. II (1977), Abb. 486 (dazu Bd. I, S. 515, Nr. 685).
- Schiffler, Inventar (1981), Mp. 4, Reliquiare, Nr. 4.
- Grote, Schatz von St. Viktor (1998), S. 80–82 mit weiterer Literatur.
- Kat. Stiftsmuseum Xanten (2010), Nr. III/01, S. 64f. mit Abb.
Zitierhinweis:
DI 92, Stadt Xanten, Nr. 11 (Paul Ley), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di092d009k0001108.
Kommentar
Der zweite Vers des Titulus B geht auf das Paschale Carmen des Sedulius (Mitte 5. Jahrhundert) zurück, wo es heißt: „Sic et apostolici semper duodenus honoris / fulget apex numero, menses imitatus et horas“.3)
Die romanische Majuskel kombiniert kapitale und unziale bzw. runde Buchstabenformen. A wird kapital mit und ohne Deckbalken verwendet, der in MISTICA sehr flächig gearbeitet und weit nach links geführt ist. Beim letzten Buchstaben von ANIMALIA wird A in einer ungewöhnlichen unzialen Form verwendet, bestehend aus einem senkrecht gestellten rechten Schaft, an dessen oberem Ende der geschwungene linke Schaft ansetzt, und mit leicht gebogenem Mittelbalken. Neben dem kapitalen E ist auch die unziale Variante vorhanden, M ist ebenfalls kapital und unzial mit vorne geschlossenem Bogen gestaltet. Das runde T hat einen geschwungenen Balken, der Balken des kapitalen T ist breit ausgeführt. Das obere Bogenende des eingerollten G ist weit nach rechts gezogen, ebenso die am Schaft ansetzende Cauda des R, deren freies Ende nach oben umgebogen ist. Bögen, Schäfte und Balken enden in dreieckigen Sporen, eine Tendenz zur Ausbildung eines Abschlussstrichs ist noch nicht erkennbar. An einigen Stellen werden Punkte auf der Zeilenmitte als Worttrenner verwendet. Der Schriftbefund widerspricht zwar der stilistisch begründeten Datierung der neueren kunsthistorischen Forschung4) nicht, bietet jedoch auch keine Handhabe für die Einordnung in einen so eng gefassten Zeitraum.