Inschriftenkatalog: Stadt Xanten

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 92: Stadt Xanten (2017)

Nr. 15 Stiftsmuseum 12. Jh.

Beschreibung

Sog. Sapientia-Schale.1) Kreisrunde Schale mit flachem Boden, ansteigender Wandung und schmaler, waagerechter Randleiste. Eine Ausgussschnute wurde nachträglich eingefügt. Kupferlegierung, aus einem Blech getrieben, graviert. Ursprüngliche Funktion nicht sicher (Handwaschgeschirr?2)), sekundär wohl als Taufschale verwendet3). Kleinere Beschädigungen und Reparaturen.

Das Bildprogramm im Inneren der Schale stellt die sieben Gaben des Heiligen Geistes dar, die durch zahlreiche Bildin- und -beischriften, darunter etliche Zitate oder Paraphrasen aus Bibel und Liturgie, erläutert werden.4) Im Zentrum und somit auf dem Boden der Schale thront die Sapientia als Verkörperung der Gabe der Gottesfurcht mit Namensbeischrift zu beiden Seiten des Kopfes (A1) und einem Spruchband mit liturgischem Text auf dem Schoß (A2). Zu ihren Füßen sind zwei Schriftbänder übereinander angeordnet, getrennt durch einen Streifen mit stilisierten Arkaden, die auf sieben Säulenkapitellen aufruhen; sie tragen Anfang und Ende eines Bibelzitats, das auf dem oberen Schriftband beginnt, auf den Bereich beiderseits der Knie der Sapientia überspringt und dann auf das untere Schriftband wechselt (A3). Der Sapientia assistieren, jeweils mit Namensbeischrift über dem Kopf und einem Spruchband mit Bibelzitat in der Hand, links Johannes (A4, A5) und rechts Paulus (A6, A7). Die Gruppe ist von einer im Kreis umlaufenden Versinschrift (B) umgeben, die über dem Kopf der Sapientia beginnt. Um die zentrale Darstellung herum sind kreisförmig sechs Gestalten des Alten Testaments angeordnet. Sie thronen jeweils unter einem Rundbogen, der aus einer versifizierten Inschrift gebildet ist (C4–H4). In den Zwickeln zwischen den Bögen Symboltiere (mit Beischriften C5–H5), die jeweils einer der biblischen Gestalten zugeordnet sind. Die Männer, mit Namensbeischrift (C2–H2) sowie durch eine Geste und/oder ein Attribut gekennzeichnet, verkörpern wie die Symboltiere je eine der Gaben des Heiligen Geistes. Um welche Gabe es sich handelt, ist dem Schriftband im Schnabel einer Taube zu entnehmen, die in jedes der sechs Motive eingebunden ist (C1–H1). Auf dem Schoß halten die biblischen Gestalten ein Spruchband mit Worten, die ihnen im Alten Testament zugeordnet werden (C3–H3).

Die Darstellungen im Einzelnen: Über der Sapientia die Gabe der Weisheit auf dem Spruchband der Taube (C 1), als alttestamentliche Gestalt Adam (C 2) mit der Geste des Nachdenkens (C2–C4), im Zwickel als Symboltier die Schlange (C 5). Im Uhrzeigersinn folgt die Gabe des Verstandes (D1); die zugeordnete alttestamentliche Gestalt mit Redegestus und Stern ist gekrönt und soll vermutlich David darstellen, wird aber inschriftlich (wohl versehentlich) als Adam bezeichnet5) (D2–D4), zugeordnet ist der Hahn (D5). Die Gabe des Rates (E1): Mose mit Zeigegestus (E2–E4), zugeordnet die Ameise (E5). Die Gabe der Stärke (F1): Elias mit gezücktem Schwert (F2–F4), zugeordnet der Löwe (F5). Die Gabe der Wissenschaft (G1): Salomo mit Zeigegestus (G2–G4), zugeordnet der Hund (G5). Die Gabe der Frömmigkeit (H1), Samuel (H2–H4), zugeordnet die Taube (H5). Eine auf dem Schalenrand umlaufende exegetische Bildbeischrift erläutert die grundsätzliche Bedeutung der Gaben des Heiligen Geistes (I).

Die Erhaltung der Schale ist – insgesamt gesehen – recht gut. Allerdings sind die Gravuren zum Teil vergangen. Vor allem ist der Schalenboden so abgewetzt, dass eine genaue Bestimmung des Schriftbefundes sehr schwierig ist. Für die Lesung und Analyse ist die Heranziehung der Graphik Aldenkirchens hilfreich, da dieser die Schale in besserem Zustand gesehen haben dürfte. Allerdings weicht seine gezeichnete Version in etlichen Details von der Lesung ab, die er im Text bietet. Im Bereich von E stört ein nachträglich eingefügter Flicken, und die oben erwähnte Ausgussschnute hat bei I ein Wort fast gänzlich ausgelöscht.

Ergänzungen nach Utecht-Gahr und Aldenkirchen (Graphik).

Maße: H. 5,8–7,1 cm; Dm. 31,5–32,5 cm, an der Ausgussschnute 33 cm; Randbreite ca.1 cm; Bu. 0,5–1 cm (A1–H5); 0,7–0,8 cm (I).

Schriftart(en): Romanische Majuskel.

  1. A1

    SA[P]IE//[N]TIA

  2. A2

    [EG]O I(N) ALTISSỊṂIS // H[ABI]TO [ET THRONO]a) M(EO)b) I(N) C(OLVMNA) N(VBIS)c)6)

  3. A3

    SA[PI]E(NTIA) SI[B]I DO[MVM]d) // EDI//[F]ICA[T]e) // EXCID(IT)COLVM(NA)Sf) VII7)

  4. A4

    IOHANNES

  5. A5

    [DE] RL[........] ACCEPIMVSg)8)

  6. A6

    PAVLVS

  7. A7

    O ALTTVDOh) D(IVITIARVM) SAP(IENTI)Ei) ET SCIENTIE D(E)I9)

  8. B

    + ED[IT]A DORDEj) [PA]TRIS · SAPI[E]N[TIA10) // CVN]CTA · C[R]EA[VITNATA] SINV[Sk) MA(T)]RIS HOMO INCLASV(S)l) REPARA[V]IT ·

  9. C1

    SP(IRITV)S · SAPIEVTIEm)

  10. C2

    ADAM ·

  11. C3

    ERVNT DV/O IN CARN/E VNA ·11)

  12. C4

    + SPIRITVS · EST MENTIS HISCn) AMARE DEVM SAPIEITISo) ·

  13. C5

    SERPENS ·

  14. D1

    SP(IRITV)S · INTELLECTASp)

  15. D2

    ADAM ·q)12)

  16. D3

    SVP(ER) · SENES / INTELLE/XI ·13)

  17. D4

    DANS · INTELLETVMr) COR SVSTOLLITs) RVHRt) SET(VM)u)

  18. D5

    G//AL//LVS ·

  19. E1

    SP(IRITV)S CONSILII ·

  20. E2

    MOYSES ·

  21. E3

    [AVDI I]SRA/HEL MA[ND]ATA / VITE ·14)

  22. E4

    [CON]SILII · FLAMEN · DVBIIS CO(N)FERTv) MEDICAMEN ·

  23. E5

    FORMICA ·

  24. F1

    SP(IRITV)S PORTITVDINISw) ·

  25. F2

    HELYAS ·

  26. F3

    VIVIT D(OMI)N(V)Su) I/[N C]VIVS CONSPE[C]//TVx) STO ·15)

  27. F4

    ḤIC EST CONFORTANSy) HIC SP(IRITV)Sv) OMNAz) · PORTAṆAaa) ·

  28. F5

    L//EO ·

  29. G1

    SP(IRITV)S SCIENTIE

  30. G2

    SALOM//ON ·

  31. G3

    DATVS E(ST)v) MI/CHI SENSVS C/ONSV/MMATVS ·16)

  32. G4

    [Q]VOD SCIVS EST DONAT QVE(M)v) SPIRITVS ISTE CORONAT ·

  33. G5

    CANISbb)

  34. H1

    SP(IRITV)S PIETATIS ·

  35. H2

    SAMELcc) ·

  36. H3

    ABSISdd) A ME V/T DESINA(M)v) ORAR/E PRO VOISee) · ·17)

  37. H4

    ESSE PIVM · GRATIS DAT SILIRTVSff) · HVICgg) PIETATIS ·

  38. H5

    COLVMBA · ·

  39. I

    + HEC TV NEVMAhh) · DAii) SVPERO DE · CARDIAEjj) · LATA ·HIS · CARISMATIBVS · SANCTORVM · REGIA TRIBVS[.....]VRkk) · AMTVRll) FIRMATVR GLORICATVRmm)ET DIVETDnn) QVIDEM [DAT]Aoo) SED DATOR · VNVS ET IDEM18)

Übersetzung:

(A2) Ich wohne in den Höhen, und mein Thron (ist) in der Wolkensäule.

(A3) Die Weisheit baut sich ein Haus, haut sieben Säulen zurecht.

(A4) Aus seiner Fülle haben wir alle empfangen.

(A7) O Tiefe des Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis des Herrn!

(B) Die Weisheit, aus dem Herzen des Vaters hervorgebracht, erschuf alles. Geboren als Mensch aus dem Schoß der Mutter, in den sie eingeschlossen war, machte sie (alles) wieder gut.

(C1) Der Geist der Weisheit.

(C3) Es werden zwei in einem Fleische sein.

(C4) Gott zu lieben, das ist der Geist einer weisen Gesinnung.

(D1) Der Geist des Verstandes.

(D3) Ich hatte mehr Verstand als die Greise.

(D4) Indem er den Verstand verleiht, erhebt der Geist das Herz mit sich empor.

(E1) Der Geist des Rates.

(E3) Höre, Israel, die Gebote des Lebens.

(E4) Der Geist des Rates bringt den Zweiflern Heilung.

(F1) Der Geist der Stärke.

(F3) Es lebt der Herr, in dessen Angesicht ich stehe.

(F4) Dies ist der Geist, der stark macht, der Geist, der alles trägt.

(G1) Der Geist der Wissenschaft.

(G3) Gegeben wurde mir vollkommene Klugheit.

(G4) Wem dieser Geist die Krone aufsetzt, dem verleiht er, dass er wissend sei.

(H1) Der Geist der Frömmigkeit.

(H3) Ferne sei von mir, dass ich aufhöre, für euch zu beten.

(H4) Der Geist der Frömmigkeit gewährt es diesem umsonst, fromm zu sein.

(I) Dies schenk uns, Heiliger Geist, … Durch diese Gnadengaben wird die königliche Gemeinde der Heiligen … gestärkt und verherrlicht. Zwar sind die Gaben verschieden, der Spender aber ist ein und derselbe.

Versmaß: Hexameter mit zweisilbigem leoninischem Reim (C4, D4, E4, F4, G4, H4, I). Hexameter mit zweisilbigem Zäsur- und Endreim (B).

Kommentar

Die Grundlage für die theologische Auffassung von den Gaben des Heiligen Geistes bildet Jesaja, der den Geist Gottes als „spiritus sapientiae et intellectus, spiritus consilii et fortitudinis, spiritus scientiae et pietatis“ beschreibt.19) Die Verbreitung des Themas als Bildmotiv wurde angeregt durch die Ausführungen zur Sapientia und zu den sieben Säulen ihres Hauses im „Speculum Ecclesiae“ des Honorius Augustodunensis.20) Die Verbindung der einzelnen Gaben mit alttestamentlichen Personen basiert – ebenso wie die umlaufenden Inschriften B und I – auf verschiedenen theologischen Schriften früh- und hochmittelalterlicher Autoren.21) Das Bild-Text-Programm der Schale ist somit durchaus anspruchsvoll angelegt. Insbesondere die metrischen Inschriften weisen durch ihren komplexen gedanklichen Hintergrund, die Abfassung in gebundener Sprache und durch die Wortwahl auf einen gebildeten Verfasser hin. Im krassen Gegensatz dazu stehen die zahlreichen und teilweise den Text völlig entstellenden Fehler, die wohl darauf zurückgehen, dass der Graveur die Vorlage nicht verstanden hat. Die Bibelzitate sind – wie auch die kurzen Namensbeischriften – von diesen Fehlern vergleichsweise wenig betroffen, vielleicht, weil der Text dem ausführenden Künstler vertrauter war. Die metrischen Inschriften hingegen wurden offenbar zumindest teilweise ohne jedes Textverständnis ausgeführt.

Schwierigkeiten bereitet insbesondere der erste Vers der Inschrift I (HEC TV NEVMA DA SVPERO DE CARDIAE LATA). Die Form CARDIAE existiert im Lateinischen nicht, zumal hier ein Ablativ gefordert ist. Vielleicht ersetzt CARDIA als Gräzismus das lateinische „cor“, wie im selben Vers das griechische (P)NEVMA für „spiritus“ steht. Die Verwendung von Gräzismen ist umso plausibler, als mit dem 1. Korintherbrief des Paulus ein griechischer Text die gedankliche Basis der Verse bildet. Gut denkbar ist, dass das E von CARDIAE irrtümlich an CARDIA angehängt wurde, ursprünglich aber zum darauf folgenden LATA gehörte.22) Nimmt man an, dass SVPERO irrtümlich statt SVPERI ausgeführt wurde, erhält man die Lesung HEC TV NEVMA DA SVPERI DE CARDIA ELATA, übersetzt „Dies schenke (uns), (Heiliger) Geist, was aus dem Herzen des himmlischen (Vaters) hervorgegangen ist“. Dieses Gebet knüpft inhaltlich an die metrische Inschrift B an.23)

Fehlendes Verständnis der ausführenden Kunsthandwerker für die Texte der Inschriften lässt sich auch an zahlreichen anderen gravierten Schalen nachvollziehen, woraus man insgesamt auf mangelnde Lateinkenntnisse der Graveure schließen kann.24) Auch die Ausführung der Schrift entspricht nicht dem hohen inhaltlichen Niveau. Die Buchstaben sind teilweise nachlässig graviert und oft ungeschickt verteilt. Gegen Ende längerer Textpassagen sind die Buchstaben weit auseinander gezogen, um den vorhandenen Raum zu füllen (z. B. am Ende von B, in F4 oder H4 mit anschließender Lücke; in E4 wählt der Graveur zur Füllung einen Strich). Die in Kontur ausgeführte Schrift beruht auf dem kapitalen Alphabet, nur das E wird immer unzial ausgeführt25) und das G ist leicht eingerollt. Die Kombination konturierter und einfach gravierter Buchstabenteilen bewirkt den Wechsel von Haar- und Schattenstrichen, ohne dass dieser konsequent umgesetzt wird. So sind beim M zumeist der rechte Außen- und der linke Schrägschaft verstärkt, in anderen Fällen sind es beide Außenschäfte (E2, I), oder es liegt gar keine Schaftverstärkung vor (D2). Bei den Bogen- und Schaftverstärkungen wird die Innenkontur einmal durch eine einfache, ein andermal durch eine doppelte Linie gebildet. Auch die Gestaltung der regelmäßig verwendeten und deutlich ausgeprägten Sporen ist nicht einheitlich: Gerade, gebogene und gewellte Linien wechseln ab. Wo die Verbindung zwischen dem Balken, dem Bogen oder dem Schaft und dem zugehörigen Sporn fehlt, wird der Eindruck einer flüchtig, ja zeichnerisch ausgeführten Schrift unterstrichen. Eine Entwicklung zum Abschluss der Buchstaben ist noch nicht erkennbar.

Die Ausführung der Buchstaben zeigt – trotz ihrer generellen Orientierung am Kapitalisalphabet – einen durchaus großen Variantenreichtum. Das kapitale A ist teilweise spitz mit breitem Deckstrich und in Kontur gearbeitetem rechtem Schrägschaft, teilweise trapezförmig mit breitem, kräftigem Deckbalken oder gewelltem Deckstrich ausgeführt. Besonders variantenreich sind R und S gestaltet. R hat einen kräftigen, fast rechteckigen oder aber einen keilförmigen Schaft, die Cauda ist gerade, gebogen oder geschwungen, setzt am Schaft oder am Bogen an, zuweilen berühren sich Bogen und Cauda nicht, manchmal auch nicht den Schaft. Die beiden Bögen des S liegen nicht übereinander, sondern sind seitlich verschoben, wodurch der Buchstabe stark linkslastig wirkt. In vielen Fällen ist der Buchstabe aus zwei gegenläufigen, ineinander geschobenen Bögen gebildet, die sich nicht berühren und mal mit, mal ohne Innenkontur ausgeführt sind. Die Worttrennung erfolgt, wo sie vorhanden ist, durch lanzettförmige Zeichen auf der Zeilenmitte. In wenigen Fällen ist der Beginn der Inschrift durch ein griechisches Kreuz markiert (B, C4, I).

Die Sapientia-Schale greift bestehende Traditionen auf, die sich sowohl auf das Layout als auch auf die Ikonographie und Text-Bild-Bezüge erstrecken. Die kreisförmige Anordnung von Illustrationen, die Rota, erfreute sich im 12. Jahrhundert auch zur Illustration von Handschriften großer Beliebtheit, zumal derartige Schemabilder sich zur Vermittlung komplexer Inhalte und damit für didaktische Zwecke besonders gut eignen.26) Ein prominentes Beispiel ist die Darstellung der Artes liberales im Hortus deliciarum der Herrad von Hohenburg in Form einer Rota mit der Philosophia im Zentrum, umgeben von Personifikationen der sieben Artes.27)

Auffallende Übereinstimmungen weist die Sapientia-Schale mit einer zweiten Bronzeschale auf, der sog. Philosophen-Schale, die 1854 in einem Teich in Horst (Gelsenkirchen-Buer) aufgefunden wurde und sich seitdem in der Sammlung des Freiherrn von Fürstenberg befindet.28) Sie zeigt im Zentrum die Personifikation der thronenden Philosophia, durch eine Beischrift zu beiden Seiten des Kopfes identifiziert. Aus ihrer Krone wachsen drei Köpfe, die die philosophischen Disziplinen vertreten. Sie hält – genau wie die Sapientia – ein Schriftband auf dem Schoß und wird von Sokrates und Plato29) flankiert. Diese zentrale Gruppe wird von einer erklärenden Inschrift gerahmt. An der Schalenwand sind sechs weitere Philosophen angeordnet, jeweils durch eine Namensbeischrift bezeichnet und mit einem erläuternden Schriftband in der Hand. Jeder der Philosophen sitzt unter einem aus einer Inschrift gebildeten Rundbogen, und ein Vogel trägt im Schnabel ein weiteres Schriftband mit der Bezeichnung der jeweils zugeordneten Ars liberalis. Den Zwickeltieren der Sapientia-Schale entsprechen auf der Philosophen-Schale verschiedene Vogelarten. Die Anordnung von Text und Bild ist bei beiden Schalen völlig parallel konzipiert, die ikonographische und stilistische Ausführung der Menschen und Tiere vergleichbar, so dass man annehmen darf, dass beide Schalen vom selben Hersteller stammen30) und möglicherweise von Beginn an als Paar entworfen worden sind. Auch paläographische Übereinstimmungen sind feststellbar, wobei allerdings bedacht werden muss, dass die Inschriften der Bronzeschalen vor allem aufgrund ihrer Ausführung in Konturschrift insgesamt gewisse Gemeinsamkeiten aufweisen. Die meisten Buchstabenformen und auch die gewellten Sporen der Xantener Schale sind auch an der Horster Schale zu finden, nicht jedoch die besondere Form des S aus zwei ineinander geschobenen Bögen. Insgesamt sind die Verteilung und die Ausführung der Schrift auf der Philosophen-Schale besser gelungen. Wenn auch an der Herstellung der beiden Schalen in derselben Werkstatt kaum ein Zweifel bestehen kann, so mögen die Inschriften doch von verschiedenen Händen angebracht worden sein.

Die Ikonographie der Horster Schale entspricht in vielerlei Hinsicht der bereits erwähnten Illustration der Artes liberales im Hortus deliciarum. Auch hier thront die namentlich bezeichnete Philosophia mit der dreigeteilten Krone und einem Schriftband in den Händen. Sokrates und Platon sitzen unter ihr und bilden mit ihr die zentrale Gruppe, die durch eine umlaufende Inschrift gerahmt ist. Darum herum sind die (hier sieben) Artes liberales ebenfalls im Kreis unter Inschriftenbögen angeordnet, jeweils mit Beischriften versehen. Nach außen wird die Darstellung durch ein weiteres umlaufendes Schriftband abgeschlossen, dessen Text mit den Umschriften des Bodens und des Randes auf der Horster Schale identisch ist. Wenn im Hortus deliciarum auch stehende Frauen die Artes personifizieren, während die Horster Schale sitzende Philosophen bietet, so sind die eindeutigen Parallelen der zentralen Gruppe und die Wortgleichheit der Inschriften doch klare Indizien dafür, dass beide aus derselben Vorlage schöpfen.31) Dass es Vorlagen sowohl für die bildliche als auch für die textliche Umsetzung biblischer, theologischer oder liturgischer Themen gab, ist bekannt, obwohl ihre Existenz oft nur indirekt zu erschließen ist.32) Ein einschlägiges Beispiel findet sich in einer Handschrift aus St. Gallen, die eine genaue Anweisung Ekkehards IV. von St. Gallen für die Gestaltung einer Schüssel („scutula vel nappa“) mit Darstellung der Philologie oder der Sapientia („phylologya vel sapientia“) enthält. Diese Anweisung sieht vor, um die zentrale allegorische Figur kreisförmig die Artes liberales – vertreten durch biblische Frauengestalten – anzuordnen und diese jeweils auf eine Gabe des Heiligen Geistes zu beziehen.33) Neben der Anordnung der Figuren und ihrer Ikonographie notiert Ekkehard auch entsprechende Beischriften, darunter solche in Form von Distichen. Eine ähnliche Vorlage wird man nicht nur für die Philosophen-Schale, sondern auch für die Xantener Sapientia-Schale annehmen dürfen. Die zahlreichen Stellen, an denen bei dieser wie auch bei den meisten anderen bekannten Schalen fehlendes Textverständnis zu verderbten Überlieferungen geführt hat, machen einen Austausch zwischen den Verfassern der Inschriften und den Graveuren während des Herstellungsprozesses unwahrscheinlich; ebenso wenig fand offenbar eine Kontrolle durch gelehrte Auftraggeber statt. Man wird daher weniger an individuelle Vorlagen für Einzelanfertigungen zu denken haben als an eine Mustersammlung.

Textkritischer Apparat

  1. Ergänzungsvorschlag von Utecht-Gahr. Die biblische Vorlage (Sir 24,7) hat den Nominativ „thronus meus“. Reste der beiden O sind jedoch noch erkennbar.
  2. Vielleicht hochgestelltes S.
  3. M(EO) I(N) C(OLVMNA) N(VBIS)] so nach Utecht-Gahr. Erkennbar sind nur noch kleine Reste von Buchstabenfragmenten, die die Abkürzung M I C N ergeben können. Aldenkirchen, Liturgische Schüsseln (1883), bietet in seiner Nachzeichnung (Tf. IV) und im Text (S. 69) unterschiedliche Versionen, die sich aber ebenfalls auf Sir 24,7 beziehen.
  4. DONVM Aldenkirchen.
  5. Wort rechts und links neben den Knien der Sapientia, wohl nachträglich hinzugefügt. Ein vermeintliches A (kapital mit schrägem linkem und senkrechtem rechten Schaft) am Wortanfang von EDIFICAT (Aldenkirchen, Utecht-Gahr) dürfte eher Teil des Throns der Sapientia sein.
  6. Nach Aldenkirchen. Buchstabenbestand unklar: statt M vielleicht N; vorhergehendes V verkleinert? S kleiner ausgeführt.
  7. Bereits Aldenkirchen konnte mit Ausnahme des ersten und des letzten Worts nur wenige Buchstaben erkennen. Hinter DE am Satzanfang las er RI (R falsch ausgeführt für P, statt I ist L zu lesen), vor ACCEPIMVS ein NC. Dazwischen verzeichnet er einzelne Schäfte und Bögen. Utecht-Gahr schlägt die Ergänzung zu DE PLENITVDINE EIVS NOS OMNES ACCEPIMVS (nach Io 1,16) vor, die inhaltlich überzeugt. Allerdings dürfte EIVS aus Platzgründen gefehlt haben.
  8. Richtig: ALTITVDO. O ALTTVDO] Lücke bei Aldenkirchen.
  9. D(IVITIARVM) SAP(IENTI)E] Kürzungszeichen fehlen. Ergänzungsvorschlag nach Rm 11,33 von Utecht-Gahr.
  10. Richtig: CORDE. Sichtbar ist ein nach links offener Bogen. Ob es sich um den Rest eines D oder um ein seitenverkehrtes C handelt, kann nicht mehr beurteilt werden.
  11. Richtig: SINV. SINV Utecht-Gahr; NATA SINVS] NATAS IN V(VLV)A Aldenkirchen, S. 70.
  12. Richtig: INCLVSVS. HOMO INCLASVS] hominis lapsum Küches.
  13. Richtig: SAPIENTIE.
  14. Richtig: HIC. Aldenkirchen, S. 63, schlägt eine Konjektur zu DISCE vor.
  15. Richtig: SAPIENTIS.
  16. Richtig: INTELLECTVS.
  17. Aldenkirchen, S. 63, schlägt eine Konjektur zu ABRAM vor.
  18. Richtig: INTELLECTVM.
  19. Richtig: SVSTVLIT.
  20. RVHR statt des hebräischen RVHA/RVAH.
  21. SET(VM) statt SEC(VM). Kürzungszeichen fehlt.
  22. Kürzungszeichen fehlt.
  23. Richtig: FORTITVDINIS.
  24. Unterbrechung durch das Schriftband der Taube. Vom kleiner ausgeführten C ist nur der obere Bogenabschnitt sichtbar, vom mittleren Balken des unzialen E lediglich der Sporn.
  25. Der obere Balken des F ist nicht in Kontur, der untere nicht oder nur sehr schwach ausgeführt.
  26. Richtig: OMNIA.
  27. Richtig: PORTANS.
  28. Die rechte untere Ecke des N ist von der Darstellung des Hundes perspektivisch überdeckt.
  29. Richtig: SAMVEL.
  30. Richtig: ABSIT.
  31. Richtig: VOBIS.
  32. Richtig: SPIRITVS (?).
  33. V über den Balken des H gestellt.
  34. Im mittelalterlichen Latein geläufige Schreibung für ‚pneuma‘, siehe Stotz, Handbuch, Bd. 1 (2002), IV § 14.16.
  35. Bei A führt ein zusätzlicher, parallel zum rechten Schaft verlaufender Schaft vom Deckbalken zur Grundlinie. Rechts und links von ihm verlaufen die beiden Linien des in Kontur gravierten Mittelbalkens versetzt zueinander.
  36. Unverständlich. Siehe dazu den Kommentar.
  37. Vor VR fehlt ein Versfuß (Daktylus oder Spondeus).
  38. VR AMTVR] unverständlich. Falsch für ARMATVR?
  39. Richtig: GLORIFICATVR. L vermutlich aus I korrigiert.
  40. Richtig: DIVERSA? (Utecht-Gahr). Hier wurde vielleicht versehentlich die Buchstabenfolge ETD aus dem vorhergehenden ET DIV… wiederholt.
  41. Buchstabenverlust durch die Umarbeitung des Randstücks zur Ausgussschnute.

Anmerkungen

  1. Inv.-Nr. nach Hölker (1925): B-4.
  2. Siehe dazu Müller, Gebrauch (1999), S. 35–47 und 204–215.
  3. Utecht-Gahr (Bildprogramm [1984], S. 2) weist darauf hin, dass die Schale noch „in jüngerer Zeit“ als Taufschale benutzt worden sei. Nach Küches (Heiliger Geist [1923], S. 58) wurde sie für die heiligen Öle verwendet.
  4. Zur Ikonographie der Sapientia und der sieben Gaben des Hl. Geistes siehe Schiller, Ikonographie, Bd. 4,1 (1976), S. 36–38, 71–77.
  5. Aldenkirchen (Liturgische Schüsseln [1883], S. 66) und ihm folgend Krüger („Hansa-Schüsseln“ [1974], S. 88) vermuten in der dargestellten Figur Abraham, der sehr selten gekrönt dargestellt ist (LCI 1 [1968], Sp. 21).
  6. Wörtlich als Antiphon zum Fest der Unbefleckten Empfängnis überliefert (CAO III [1968], Nr. 2576), nach Sir 24,7.
  7. Nach Prv 9,1.
  8. Nach Io 1,16.
  9. Rm 11,33.
  10. Vgl. Prudentius, Carmina, Liber Apotheosis <I Praefatio>, V. 2 (ed. Cunningham, CCSL 126 [1966], S. 73): „Corde patris genita est sapientia…“.
  11. Gn 2,24.
  12. Tatsächlich dürfte, dem Text auf dem Spruchband zufolge, mit dem Dargestellten David gemeint sein.
  13. Ps 118,100.
  14. Bar 3,9.
  15. III Rg 17,1.
  16. Nach Sap 7,7. Vgl. auch Sap 6,16: „Cogitare ergo de illa [sc. sapientia] sensus est consummatus“.
  17. Nach I Sm 12,23.
  18. Nach I Cor 12,4.
  19. Is 11,2f.
  20. Sermo de dedicatione, Migne PL 172 (1854), Sp. 1101. Schiller, Ikonographie, Bd. 4,1 (1968), S. 37.
  21. Siehe dazu Utecht-Gahr, Bildprogramm (1984), mit zahlreichen Hinweisen auf die philosophisch-theologische Literatur. Die Ergebnisse ihrer unveröffentlichten Magisterarbeit werden zitiert bei Grote, Schatz von St. Viktor (1998), S. 88–94.
  22. So Aldenkirchen, Liturgische Schüsseln (1883), S. 72.
  23. Grote, Schatz von St. Viktor (1998), S. 93, konjeziert nach Utecht-Gahr SVPERO DE CARDINE LATA, sodass der ganze Vers dann mit „Dies schenke (uns), (Heiliger) Geist, was vom Himmelspol aus gebracht wurde“ übersetzt werden müsste. Diese Version hat eine gewisse Parallele bei Boetius, De consolatione philosophiae 1,3,3 (ed. Moreschini, München/Leipzig 2000, S. 9): „quid …, o omnium magistra virtutum, supero cardine delapsa venisti?“ (freundlicher Hinweis von Jitka Ehlers, Bonn), verliert aber den überzeugenden objektimmanenten Bezug zu Inschrift B.
  24. Müller, Medien (2003), S. 121f.; ders., Gebrauch (1999), S. 154–158.
  25. Eine Ausnahme bildet lediglich das E in AEDIFICAT (A3). Dieses Wort enthält mit dem A mit gebrochenem Balken einen weiteren Buchstaben, der aus dem ansonsten verwendeten Formenkanon heraus fällt. Bereits Utecht-Gahr weist darauf hin, dass das Wort vermutlich von anderer Hand nachgetragen wurde (Bildprogramm [1984], S. 24).
  26. Wolter-von dem Knesebeck, Deutschland (2007), S. 268–274.
  27. Die Miniatur befindet sich auf fol. 32r. Die Parallelen wurden erstmals von LeBlanc herausgearbeitet (P. M. LeBlanc, Middeleeuwse hanzeschotels. Spiegel tot lering, Nijmegen 1979, S. 44f.). Siehe auch O. Holl, Art. Philosophie, in: LCI, Bd. 3 (1971), Sp. 429.
  28. Weitzmann-Fiedler, Bronzeschalen (1981), S. 81f.
  29. Plato ist in Analogie zu Paulus kahlköpfig dargestellt.
  30. So bereits Wormstall, Bronzeschüssel (1897), Sp. 239f.; Krüger, „Hansa-Schüsseln“ (1974), S. 88; Heerlein, Sophia – Sapientia (2000), S. 264; Müller, Gebrauch (1999), S. 148.
  31. Wormstall, Bronzeschüssel (1897), Sp. 248f.; Heerlein, Sophia – Sapientia (2000), S. 263.
  32. Zu Vorlagen und Musterbüchern des Mittelalters siehe Bänsch, Goldschmiedekunst (1984), und Springer, Modelle und Muster (1985).
  33. St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 830, S. 439; Karl August Wirth, Von mittelalterlichen Bildern und Lehrfiguren im Dienste der Schule und des Unterrichts, in: Studien zum städtischen Bildungswesen des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, hg. von Bernd Moeller u. a., Göttingen 1983, S. 344–347 und Abb. 42a.

Nachweise

  1. Aldenkirchen, Liturgische Schüsseln (1883), S. 62–78 mit Tf. IV (graphische Nachzeichnung der Schüssel).
  2. Clemen, KDM Kreis Moers (1892), S. 133, Nr. 8.
  3. Kraus, Christl. Inschriften II (1894), Nr. 653.
  4. Küches, Heiliger Geist (1923), S. 59 (B).
  5. Krüger, „Hansa-Schüsseln“ (1974), S. 87f.
  6. Schiffler, Inventar (1981), Mp. IV, Gefäße für hl. Öle und Wasser, Nr. 5.
  7. Weitzmann-Fiedler, Bronzeschalen (1981), S. 82–84 und Tf. 69–71.
  8. Utecht-Gahr, Bildprogramm (1984).
  9. Grote, Schatz von St. Viktor (1998), S. 88–94 (nach Utecht-Gahr) und Abb. S. 89, 91.
  10. Kat. Stiftsmuseum Xanten (2010), Nr. VI/13, Abb. S. 142f.

Zitierhinweis:
DI 92, Stadt Xanten, Nr. 15 (Paul Ley), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di092d009k0001504.