Inschriftenkatalog: Stadt Xanten

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 92: Stadt Xanten (2017)

Nr. 111(†) St. Viktor, Hochchor 1529–1534, 1540

Beschreibung

Hochaltar.1) Altargehäuse: Holz, polychromiert und mit silber- und goldgefasstem Schnitzwerk versehen; Altarflügel: Malerei, Öl auf Eichenholz. In seiner heutigen Form ist das Retabel weitgehend eine Schöpfung der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Der architektonisch aufgebaute Schrein, dessen einzelne Glieder mit geschnitztem Rankenwerk verziert sind, hat die Funktion eines Reliquienrepositoriums bewahrt. Er dient der Aufnahme des Viktorschreines (siehe Nr. 12), der an zentraler Stelle mit der Stirnseite nach vorne platziert und von zwölf Fächern mit Reliquienbüsten (Holz, versilbert) umgeben ist.2) An die Stelle der ursprünglich unter dem Viktorschrein eingefügten, heute verlorenen sog. Goldenen Tafel (Nr. 3) ist 1814 ein gemaltes Renaissancetriptychon (Mitte 16. Jahrhundert) getreten, das halbfigurige Darstellungen der Muttergottes mit Jesuskind sowie der hll. Bischöfe Blasius (links) und wahrscheinlich Petrus Damianus (rechts) zeigt.3) In die Predella sind weitere 20 Fächer eingearbeitet, die Kopfreliquien enthalten. Der halbkreisförmige Auszug wird von einer gemalten Lünette mit dem Gekreuzigten zwischen Maria und Johannes (Kreuztitulus I) und drei Tabernakeln gebildet, in die vollplastische Figuren der Stiftspatrone, des hl. Viktor (links) und der hl. Helena (rechts), sowie des Christus Salvator4) in der Bekrönung eingestellt sind. Um den inneren Rahmen des Altarschreines umlaufend war ursprünglich der Text der Festantiphon des Stiftes inschriftlich ausgeführt, bereits zu Beissels Zeiten aber nicht mehr vorhanden (A).5)

Die Doppelflügel zeigen in geschlossenem Zustand zwei in Grisaille-Technik gemalte Dialoggruppen von Heiligen in architektonischer Renaissancerahmung: auf der Evangelienseite (links) Maria mit Jesusknaben zwischen den Märtyrern der Thebäischen Legion Viktor und Gereon, jeweils mit Namensbeischrift auf der Vorderkante des gemalten Podestes (B–D); auf der Epistelseite (rechts) Helena zwischen Papst Silvester und Konstantin, ebenfalls mit Namensbeischriften (E–G). Die erste Öffnung stellt in narrativer Folge Ereignisse aus den Legenden der Stiftspatrone dar: auf der Evangelienseite (Außentafel) im Hintergrund den Auszug des hl. Viktor aus Jerusalem, seine Segnung durch Papst Marcellinus in Rom und als Hauptszene im Vordergrund den Abschied des hl. Viktor von Kaiser Maximilian; auf der Innentafel das Martyrium des hl. Viktor und seiner Gefährten. Die Epistelseite ist der hl. Helena gewidmet: innen die Bekehrung der hl. Helena und ihr Abschied von Papst Silvester, außen die Auffindung des wahren Kreuzes mit anschließender Überführung nach Jerusalem und die Überbringung der Kreuzreliquie in eine im Bau befindliche Kirche. Auf einem Stein im Vordergrund die Jahreszahl 1534 (H). Die zweite Öffnung zeigt zwei Szenen aus der Passion Christi, auf der Evangelienseite das Ecce-Homo-Motiv (zusammen mit Geißelung und Dornenkrönung), auf der Epistelseite die Auferstehung Christi (simultan Frauen am Grabe und Begegnung vor Emmaus). Bemerkenswert ist der spezifische Lokalkolorit auf den Flügelgemälden: Im Hintergrund des Martyriums des hl. Viktor ist die Silhouette des mittelalterlichen Xanten abgebildet6), beim Abschied der hl. Helena und der Kreuzauffindung sind in langen Reihen die zeitgenössischen Kanoniker, Schöffen und Bürgermeister, z. T. mit Familie, dargestellt, und auf beiden Bildern reiht sich mit Imeza von Kappenberg eine Gönnerin des Stiftes aus dem 11. Jahrhundert in die Schar der Hofdamen der Kaisermutter ein.7) In die Szene der Kreuzauffindung hat der Maler Bartholomäus Bruyn d. Ä. sein Selbstporträt sowie die Bildnisse seiner Gattin und eines seiner Söhne eingefügt.8)

Die Restaurierung des Schnitzwerks nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgte 1956 bis 1958 durch Reinhold Honl,9) die der Gemälde 1950–1953 durch Richard Perret10). Mit den Kriegsschäden wurden auch die Fehler früherer Restaurierungen weitgehend beseitigt.

Inschrift A nach Beissel.

Siehe Lageplan.

Maße: H. ca. 900 cm (Gesamthöhe11)), 370 cm (Schrein mit Predella), 278 cm (Flügel); B. 433 cm (Mittelteil), 191 cm (Flügel); Bu. ca. 3,5 cm (H).

Schriftart(en): Kapitalis (B–G, I).

  1. A†

    Ave miles invictissimeave martyr sanctissimeave pie protector sancte Victor12)Hymnis tuam devotis observantibusclementiam obtine precibuspiis ut adsit omnipotentis gratia

  2. B

    · S(ANCTVS) · VICTOR

  3. C

    · S(ANCTA) · MARIA

  4. D

    S(ANCTVS) · GEREON

  5. E

    · S(ANCTVS) · SILVESTER

  6. F

    · S(ANCTA) · HELENA

  7. G

    · S(ANCTVS) · CONSTANTINVS

  8. H

    1534

  9. I

    INRI13)

Übersetzung:

(A) Sei gegrüßt, wahrhaft unbesiegbarer Streiter, sei gegrüßt, heiligster Märtyrer, sei gegrüßt, frommer Schutzherr, hl. Viktor. Bewirke durch deine Fürbitten, dass den Frommen, die deine Güte mit demütigen Lobliedern preisen, die Gnade des Allmächtigen zuteilwerde.

Versmaß: Hymnenverse (A).

Kommentar

Die feierliche Antiphon „Ave miles invictissime“14) wurde gemäß dem Bericht des Dechanten Arnold Heymerick über die Viktortracht von 1464 im Zusammenhang mit der Ausstellung des Viktorschreins auf dem Altar gesungen.15) Es handelt sich um einen Hymnus, dessen Strophen durch Endreim nach dem Muster aab gebaut sind. Die Anrufung des Stiftspatrons in der ersten Strophe ist durch Anapher und strenge Parallelität zusätzlich hervorgehoben. Die Syntax der zweiten Strophe ist recht unübersichtlich: Piis dürfte gleichzeitig als Dativobjekt zu obtine und adsit aufgefasst werden können; an piis schließt sich eine Partizipialkonstruktion an, die das Partizip observantibus mit einer adverbialen Bestimmung hymnis devotis im Ablativ Plural versieht, während ein weiterer Ablativ Plural precibus adverbial das obtine näherhin erläutert. Rhythmisch sind die Strophen nicht einheitlich gebaut.

Die Quellen zur Geschichte des Hochaltars setzen mit der Anfertigung der Goldenen Tafel (siehe Nr. 3) durch Erzbischof Brun von Köln († 965) und deren Vollendung durch seinen Nachfolger Erzbischof Folkmar († 969) ein. Die Historia Xantensis von 1420/2116) berichtet, dass die Goldene Tafel, die dem Altar wahrscheinlich als Antependium diente und vor der Mensa angebracht war17), ursprünglich die Ausdehnung des Altars gehabt habe. Durch Propst Gottfried von Kuik18) sei der Altar erweitert, die Goldene Tafel mit Schädelreliquien in goldgefassten „loculi“ (Fächern) umgeben, darüber sei ein „receptaculum“ (Aufbewahrungsfach) für den Viktorschrein19) (siehe Nr. 12) eingerichtet worden. Zwei innen und außen bemalte Flügel hätten diesen Altarschrein verschließen können, der Schlüssel sei dem Thesaurar anvertraut worden. Kötzsche unterzieht den Bericht der Historia Xantensis einer eingehenden Analyse und weist nachdrücklich auf die terminologischen Unklarheiten und die sich daraus ergebenden interpretatorischen Möglichkeiten hin.20) Es ist unklar, auf welche Gestaltung des Altars sich der Bericht von 1420/21 bezieht, da mindestens zwei Versetzungen des Altars, im Jahr 1264 und 1311, erfolgten. Kötzsche sieht es als wahrscheinlich an, dass der Umbau des Altars (und im Zuge dessen die Integration der Goldenen Tafel in den Altaraufsatz) bald nach der Kirchweihe durch Norbert von Xanten im Sommer 1128 von dem Propst veranlasst wurde und folglich im Zusammenhang mit der Neuausstattung des Ostchores zu sehen ist (vgl. auch die Translation der Gebeine des hl. Viktor 1129). Ob der Altaraufsatz noch während der Amtszeit des Gottfried von Kuik vollendet wurde, ist ebenso spekulativ wie der Rekonstruktionsversuch Beissels.21)

Ab 1437 wurden Schrein und Flügel des Hochaltars aufwändig erneuert.22) Dieser Altar wurde nach 1476/77 durch Skulpturen aus der Kalkarer Bildhauerwerkstatt erhöht23), blieb aber sonst bis 1529 unverändert. 1529 fasste das Kapitel den Entschluss, einen neuen Hochaltar in Auftrag zu geben. Den Altarschrein schuf Wilhelm von Roermond aus Köln.24) Die Reliquienbüsten25) wurden nach den Thesaurierechnungen 1533–1544 durch die Kalkarer Werkstatt von Heinrich Douvermann und Heinrich van Holt geschnitzt und von Arnold Duerkopp versilbert.26) Für die künstlerischen Malerarbeiten am Altar gewannen Dechant Goldwert (siehe Nr. 125) und das Kapitel Bartholomäus Bruyn d. Ä. aus Köln, der 1529–1534 die Doppelflügel und 1540 die Lünette malte.27) Die Gemälde der Doppelflügel von Bartholomäus Bruyn waren wahrscheinlich eine Einzelstiftung des Vikars und Kirchenfabrikmeisters Gerhard von Haffen, der mit seinem Legat vom 21. Juli 1533 in Höhe von 625 Gulden zugunsten der Ausstattung des Hochaltars der alleinige Finanzier gewesen sein dürfte.28) Die Predella wurde seit 1536 durch separate Flügel verschlossen, die vom Maler Rütger Krop mit Bildnissen der vier Kirchenväter in Grisaille-Technik ausgestattet wurden (heute nicht mehr vorhanden).29) Die letzte Rechnung für den Hochaltar wurde 1549 bezahlt.30)

Anmerkungen

  1. Siehe dazu erstmals ausführlich Beissel, Bauführung III (1889), S. 1–27; Tümmers, Altarbilder (1964), S. 84–89; Kötzsche, Schrein (1978), S. 56–65 sowie zuletzt Ruf, Imago Xantensis (2012), S. 237–256, und Friedrich, Tradition (2000), S. 229–231. Abbildungen in Hilger u. a., Dom zu Xanten (2007), S. 71–77.
  2. Zum Reliquienbestand und zur Reliquienpräsentation im Xantener Hochaltarretabel siehe Preising, Hochaltarretabel (1996), S. 67–78.
  3. Grote, Schatz von St. Viktor (1998), S. 25; Pawlik, Angesicht (2012), S. 66.
  4. Entgegen Beissels Annahme, die Figur des Salvators sei mit der 1476 angefertigten Skulptur des Vorgängerretabels identisch und für das neue Retabel übernommen worden (Bauführung III [1889], S. 16), handelt es sich hier um eine Arbeit der Werkstatt Henrick van Holts, siehe de Werd, Meister (1990), S. 318–320; Rommé, Douwerman (1994), S. 246f. Die Figuren wurden 1543 durch Dietrich Scherre von Duisburg gefasst und versilbert (Beissel, Bauführung III [1889], S. 17f. nach den Baurechnungen).
  5. Beissel, Bauführung III (1889), S. 11.
  6. Es handelt sich hier nicht um eine realistische, sondern um eine ideale Stadtansicht Xantens, auf der charakteristische Denkmäler und Motive zusammengefügt werden (Ruf, Imago Xantensis [2012], S. 247–249).
  7. Diese Deutung vertritt u. a. Klapheck (Dom zu Xanten [1930], S. 126). Vgl. hierzu auch Tümmers, Altarbilder (1964), S. 89.
  8. Ebd., S. 88f.; Ruf, Imago Xantensis (2012), S. 250ff.
  9. Bericht von Reinhold Honl, Wiederherstellung (1964), S. 263.
  10. Auszug aus dem Restaurierungsbericht von 1953 in: Perret, Konservierung (1964), S. 198 und 200, mit Aufnahmen der Tafelgemälde während der Restaurierung, Tf. 37–39.
  11. Schrein mit Predella und Aufbauten.
  12. Festantiphon, gesungen beim Fest der Translation des hl. Viktor (Oediger, Ordinarius [1963], S. 116).
  13. Nach Io 19,19.
  14. Der Superlativ „invictissime“ kommt als Epitheton, insbesondere für Märtyrerheilige, in der Hymnendichtung häufig vor, vgl. die zahlreichen Beispiele in Analecta Hymnica, z. B. für den hl. Stephanus Erzmärtyrer (Bd. 19 [1895], Nr. 462, S. 255), den hl. Georg (Bd. 33 [1899], Nr. 1/33, S. 12), den hl. Vinzenz (Bd. 19 [1895], Nr. 491, S. 270f., Nr. 495, S. 272; Bd. 50 [1907], Nr. 36, S. 35f.). Als Ausdruck der höchsten Ehrerbietung wird er hier wohl analog zu anderen geläufigen Superlativen der Hymnendichtung wie „sanctissime“, „sacratissime“, „fortissime“, „clementissime“ verwendet, besonders häufig in der Junktur „miles invictissime“ und „martyr invictissime“.
  15. Beissel, Bauführung II (1889), S. 61; Preising, Hochaltarretabel (1996), S. 73.
  16. Stiftsarchiv Xanten, H 6, Bl. 83/3; Oediger, Bau und Ausstattung (1975), S. 263–269. Siehe Nr. 38.
  17. So auch Beissel, Bauführung I (1889), S. 41.
  18. Der Kanoniker Gottfried von Kuik ist zwischen 1128 und 1134 nachweisbar, wahrscheinlich aber bis 1138 Propst des Viktorstifts; im April 1138 wird sein Nachfolger Heriman zum ersten Mal als Propst von Xanten erwähnt (Classen, Archidiakonat [1938], S. 85; Kötzsche, Schrein [1978], S. 58, u. a. zu einer möglichen Verwechslung mit Godefridus de Kuch, S. 58f.).
  19. „… quoddam receptaculum, in quo beati Victoris capsam reponi fecit et conservari” (Kötzsche, Schrein [1978], S. 238). Der Zusatz mit dem Hinweis auf den Viktorschrein fehlt in der Edition von Oediger, Bau und Ausstattung (1975), S. 275.
  20. Kötzsche, Schrein (1978), S. 59f. und 63.
  21. Beissel geht davon aus, dass der Altar das Aussehen hatte, wie es die Historia Xantensis im Wesentlichen beschreibt: Das Herzstück des Altars, der Viktorschrein, war mit der Goldenen Tafel als seinem Untersatz und mehreren Reliquienbüsten in einen Holzschrein eingestellt, der durch vergoldete Flügel verschlossen werden konnte. Vgl. Beissel, Bauführung III (1889), S. 1.
  22. Aus den Rechnungen der Stiftsfabrik für das Jahr 1437/38 geht hervor, dass Gerhard von Wesel ein zusätzliches (ein zweites) Flügelpaar für den Viktor-Altar anfertigte. Es wurde vom Maler Jodocus bemalt, der zugleich die bestehende Farbfassung des Schreins sowie der alten Flügel ausbesserte. Die eisernen Vorrichtungen für die Anbringung und Verschließung machte der Handwerker Johann Sparenmecker. Eine lange, eiserne Stange zum Verschließen der Altarflügel lieferte Henrik Wrenger. Ferner wurde durch einen Maler Konrad für 8 Kronen an einem Unterbau unter dem Viktorschrein gearbeitet (Wilkes/Rotthoff, Baurechnungen [1957], Sp. 410; unverständlich dagegen Beissel, Bauführung III [1889], S. 3f.).
  23. Mit der Herstellung der Holzfiguren für die Bekrönung des Retabels wurde ein unbekannter Bildschnitzer in Kalkar beauftragt, der 1476 einen Christus Salvator und 1477 zwei Engel mit zwei Leuchtern schuf (Rotthoff, Baurechnungen [1975], Sp. 183, 194; Beissel, Bauführung III [1889], S. 6).
  24. Vgl. Beissel, Bauführung III (1889), S. 12ff.
  25. 1534 Viktor- und Helenabüste, 1535 Silvester- und Konstantinbüste, 1536 Marcellinus- und Mauritiusbüste, 1544 Marien- und Johannesbüste. Vgl. Friedrich, Tradition (2000), S. 241. Die beiden Büsten der unschuldigen Kinder sollen aus dem Vorgängeraltar stammen (Beissel, Bauführung III [1889], S. 10).
  26. Vgl. ebd., S. 16f.
  27. Ruf, Imago Xantensis (2012), S. 237f.; Grohé, Bruyn (2010), S. 108–111.
  28. Friedrich, Tradition (2000), S. 235.
  29. Beissel, Bauführung III (1889), S. 7 und 17.
  30. Ebd., S. 18 und 20.

Nachweise

  1. Beissel, Bauführung III (1889), S. 11 (A).
  2. Hilger u. a., Dom zu Xanten (2007), S. 3 (A) und Abb. S. 75 (H), 76 (B–D).

Zitierhinweis:
DI 92, Stadt Xanten, Nr. 111(†) (Paul Ley), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di092d009k0011105.