Inschriftenkatalog: Stadt Xanten
Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.
DI 92: Stadt Xanten (2017)
Nr. 136 St. Viktor, Kreuzgang 1549
Beschreibung
Epitaph des Balthasar Vulturius (Gyer) im Westflügel, Joch U26.1) Baumberger Sandstein. Aus drei Platten zusammengesetzte, hochrechteckige Schrifttafel in profiliertem Rahmen mit Giebelaufsatz. Der dreieckige, eingezogene Giebel ist konkav geformt und mit einem Muschelornament gefüllt. Die ursprünglich vorhandenen drei urnenförmigen Akroterien sind heute verloren. Auf der Schrifttafel sind ein Totenlob mit Sterbevermerk (A) und ein Epigramm in elegischen Distichen mit einer Grabbezeugung und einer Bitte um Fürbitte (B) untereinander eingehauen. Die Pentameter der Distichen sind nicht eingerückt. Das Epitaph ist an einigen Stellen ausgebessert, der Text wurde dort nach fotografischen Vorlagen nachgearbeitet.2) Mittig unter den Inschriften ist ein Loch angebracht, das einst vielleicht zur Befestigung eines separat gearbeiteten Wappens diente.
Ergänzungen nach Foto.
Siehe Lageplan.
Maße: H. 135 cm; B. 70 cm; Bu. 2 cm.
Schriftart(en): Kapitalis.
- A
BALTHAZA[RVS VVLTVRIVS] WESALIA ORIVNDVS / IN[G]ENIOa) PR[OMPTIOR Q(VAM)b) ELO]QVIO C[ONSIL]IO / SVBTILISc) ANIMO SINCERVS [ET RECTVS MAG]NAd) / CVM LAVDE IN AVLA ILLVSTRISSIMOR[VM]e) PRIN/CIPIVMf) NOSTRORVM IOANNIS ET GVILHELMI / VERSATVS POSTEA HVIVS ECCLESIE CANONI/CVS IN EADEM INTEGRITATE PERSEVERANS / CESSIT FATIS 9g) SEPTEMBRIS ANNO 1549
- B
[AH MIHI] GERMANVS FRATER CHARISSIMVS OMNES /[INTER MO]RTAL[ES CO]NDITVR HOC TVMVLO /QVI VIVENS PROPRIVM BALTASSAR NOME(N) HABEBA[T]d) /DICTVS ERAT STIRPIS NOMINE VVLTVRIVS /HVIVS ERAT SACRIh) COETVS E FRATRIBVS VN[VS] /DAT QVIBVS AGNOMEN DICTIO GRATA CA[NON] /HVNC IGITVR TVMVLVM QVOTQVOT TRA(N)SIBIT[IS ORO] /NE GRAVE SIT VOBIS DICERE VOTA PIA
Übersetzung:
(A) Balthasar Vulturius, aus Wesel stammend, eher ein fähiger Kopf als ein Redner, ein feinsinniger Ratgeber, rein und aufrichtig im Herzen, hat sich großes Lob bei seinem Aufenthalt am Hof unserer erlauchtesten Fürsten Johann und Wilhelm erworben. Er blieb später als Kanoniker dieser Kirche hier ebenso redlich. Er erlag seinem Schicksal am 9. September im Jahr 1549.
(B) Ach, mein leiblicher Bruder, unter allen Sterblichen mir der Liebste, liegt geborgen in diesem Grabe. Er, der als Lebender mit Eigennamen Balthasar hieß, wurde mit Familiennamen Vulturius (Geier/Gyer) genannt. Er war einer der Brüder der hiesigen heiligen Vereinigung, denen ein trefflicher Ausdruck den Titel „Kanoniker“ verleiht. Sooft ihr deshalb an diesem Grabmal vorbeigeht, möge es euch, bitte, nicht schwer fallen, fromme Gebete auszusprechen.
Versmaß: Elegische Distichen (B).
Textkritischer Apparat
- Buchstabe G beschädigt.
- Kürzung durch Zeichen in Form einer arabischen 3 und Kürzungsstrich.
- Buchstabe B beschädigt.
- Die Fehlstelle wurde hier nicht nachgearbeitet, der Text ist auf einem vor 1945 aufgenommen Foto überliefert.
- Von den letzten beiden Buchstaben ist nur der untere Teil sichtbar.
- Sic! Falsch für PRINCIPVM.
- Der untere Teil der 9 ist verloren.
- SA durch ein Loch in der Steinoberfläche beschädigt.
Anmerkungen
- Inv.-Nr. nach Hölker (1925): H-58.
- In der Edition sind die entsprechenden Stellen in eckigen Klammern wiedergegeben.
- Einzige Ausnahme ist das erste A in GRATA (drittletzte Zeile in B).
- Vgl. auch die Einleitung, Kap. 5.4.
- Siehe die Bemerkung auf seinem eigenen Epitaph (Nr. 146): FRATRIS EPITAPHIVM HISCE CARMINIBVS CONSCRIPSIT. Die falsche Verwendung der Form PRINCIPIVM statt PRINCIPVM ist dem philologisch versierten Friedrich Vulturius allerdings nicht zuzutrauen und deshalb wohl als Steinmetzfehler zu beurteilen.
- Matrikel Köln 2 (1919), 496,47–48.
- Pels II, Deliciae (1734), p. 181.
- Classen, Archidiakonat (1938), S. 144. S. zu B. Vulturius auch Kloosterhuis, Erasmusjünger (2006), S. 410, 420, 591.
- Pels II, Deliciae (1734), p. 203; Classen, Archidiakonat (1938), S. 144.
- Pels II, Deliciae (1734), p. 283; Successio, fol. 43v–44r, 57v–58r. Pels bezieht sich mit dieser sarkastischen Bemerkung auf den nicht weniger sarkastischen Text des Spruchbandes, das als einziges von dem Epitaph seines Bruders heute noch im Kreuzgang hängt: INDOLE SVNT MVLTI NOMINE VVLTVR EGO – ‚Ihrem Charakter nach sind es viele, ich bin nur dem Namen nach ein Geier‘ (siehe Nr. 146).
- Zählung nach Wilkes, Studien (1952), S. 50. Das Haus hat heute die Nummer 8 und wird als Pfarramt und Sitz der Zentralrendantur genutzt.
- Ebd.
Nachweise
- Foto: RBA 25206 (vor 1945).
- LAV NRW R, HS N III Nr. 2 (von Dorth, Notizen [1659–1674]), fol. 61r.
- Hölker, Inventar (1925), H-58.
- Engelskirchen, Inschriften (1937), S. 37f., Nr. 43.
- Bambauer/Kleinholz, Inschriften, Teil 2 (1980), S. 220.
Zitierhinweis:
DI 92, Stadt Xanten, Nr. 136 (Paul Ley), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di092d009k0013606.
Kommentar
Die qualitätvolle Kapitalis ist sehr gleichmäßig gehauen und mit Serifen versehen, weicht aber in etlichen Details vom antiken Vorbild ab. So verläuft die Cauda bei Q und R gewölbt nach unten. Die kurzen Balken des E sind gleich lang, der Balken des H ist nach unten ausgebuchtet. M weist schräge Außenschäfte und einen kurzen Mittelteil auf. Der Deckbalken des zweistöckigen Z ist gebrochen; die Form ähnelt der arabischen 3 und wird auch als Kürzungszeichen verwendet. Das A mit gebrochenem Mittelbalken und mit einem Deckbalken, der nur nach rechts verläuft,3) gehört zu den auffälligsten Buchstaben der Schrift. Die Anfangsbuchstaben des Eigennamens und die Versanfänge (außer Vers 3) sind größer ausgeführt. Die Schrift weist damit dieselben Merkmale auf wie die des Epitaphs für den Auftraggeber, Balthasars Bruder Friedrich Vulturius (siehe Nr. 146), und stammt wohl vom selben Steinmetz.4)
Der erwähnte Bruder Friedrich ist auch der Verfasser des Epigramms, vermutlich auch des Sterbevermerks.5) Mit ihm schrieb sich Balthasar Vulturius 1512 an der Artes-Fakultät der Universität Köln ein.6) In Xanten wurde er nach Pels am 1. Juli 1528 aufgenommen und verzichtete am 1. August 1544.7) Classen weist darauf hin, dass er am selben Tag mit einem anderen Kanonikat bedacht wurde, dessen Pfründe er am 2. August 1546 antrat. Bis 1543 war er Pastor zu Keppeln, 1528–1544 Sekretär am Klever Hof unter den Herzögen Johann III. (regierte 1521–1539) und Wilhelm V. (regierte 1539–1592) von Jülich-Kleve-Berg.8) Als Todesdatum gibt Pels den 8. September 1549 an, während das Kapitelprotokoll das Datum des Epitaphs bestätigt.9)
Nach den ausführlichen Berichten Pels’ und der Successio über die Pfründen des Balthasar Vulturius scheint der Kanoniker mit Bedacht und großem Geschick seine Beziehungen zu Kleve genutzt und sich seine Einkünfte gesichert zu haben, so dass Pels sich zu folgender Charakteristik genötigt sieht: „Fuit nomine et omine vultur“ – ‚er war dem Namen und seiner Bedeutung nach ein Geier’.10) 1539 erwarb Balthasar Vulturius die Kurie Kapitel 10,11) die Alte Dechanei. In den Präsenzrechnungen ist der Kanoniker für die Jahre 1538–1548 als Besitzer genannt.12)