Inschriftenkatalog: Stadt Xanten
Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.
DI 92: Stadt Xanten (2017)
Nr. 173 St. Viktor, Kreuzgang 1563?
Beschreibung
Epitaph für einen Anonymus im Nordflügel des Kreuzgangs, Joch U11.1) Baumberger Sandstein. Ädikula mit separat gearbeiteter, unten angesetzter Schrifttafel. Im Zentrum in Relief eine Weltgerichtsdarstellung, von einem Rundbogen überfangen, die Zwickel figürlich gefüllt. Das Bildfeld ist in ein Oben und ein Unten geteilt, die starre Grenze zwischen beiden Räumen wird durch eine Art Zwischenboden gebildet, der unterhalb der Bogenkrümme auf zwei Konsolen aufliegt. Dadurch entsteht ein Bogenfeld, das zusätzlich durch Wolkenbänder unter- und oberhalb der eingezogenen Decke sowie durch geflügelte Puttenköpfe entlang der Bogenkrümme als himmlischer Raum gekennzeichnet ist. In seinem Zentrum thront der Weltenrichter Christus auf dem Regenbogen. Von seinem Haupt gehen die Lilie als Zeichen der Gnade und Erwählung und das Schwert als Zeichen des Gerichts aus. In seinen Händen hält er, von Engeln unterstützt, Kreuz und Säule als Zeichen für das Neue und das Alte Testament.2) Zur Rechten und Linken Christi sitzen in Zweierreihen einmal sechs und einmal sieben Männer.3)
Der größere untere Teil des Bildes ist mit zahlreichen Figuren gefüllt, die perspektivisch auf Vorder- und Hintergrund verteilt sind. Links führen Engel die Seligen zum Reich der Sonne, das von dem Wolkenband umgriffen wird und in dem sich bereits eine Prozession der Geretteten in Begleitung eines Posaunenengels gebildet hat. Bei weitem größer ist der rechte Bereich, wo im Zeichen des abnehmenden Mondes die Verurteilten, die in unruhiger Bewegung sind, stürzen und von Teufeln gepackt werden. Eine brennende Ruine, aus deren Tor eine Gestalt tritt, zeigt den Ort des vernichtenden Feuers an. Die Verteilung der Geretteten und der Verdammten auf die Bildseiten zur Rechten und zur Linken Christi entspricht der Lilie und dem Schwert aus dem Mund des Weltenrichters.4) Vorne links stehen zwei Menschenpaare in Erwartung, die männlichen Körper sind völlig nackt, den weiblichen ist ein Schamtuch beigegeben.
Das Relief ist in eine Ädikula eingefügt. Vor die flankierenden Pilaster sind korinthische, mit Blattkapitellen versehene Säulen gesetzt, deren Trommeln mit Wilden Männern in Flachrelief verziert sind (rechte Säule verloren). Über dem Gebälk ein roh behauener Dreiecksgiebel, dessen bildliche oder ornamentale Ausstattung bereits vor 1945 verloren war. Eine exegetische Bildbeischrift in Form einer Bibelparaphrase in Niederländisch ist in den Fries des Gebälks (A), eine weitere – ein lateinisches Schriftzitat (B) – in das von Blattkapitellen flankierte Sockelfeld eingehauen. Eine Rollwerkkartusche im Unterhang trug ursprünglich einen heute völlig ausgelöschten Sterbevermerk. Kamphausen konnte 1931 das Datum 1563 noch lesen,5) während Engelskirchen 1937 eine Sechs als letzte Ziffer der Jahreszahl erkannt haben will.6) Die Inschriften sind eingehauen, das Epitaph war ursprünglich gefasst.7)
Schon Clemen (1892) spricht von starker Beschädigung. Im Zweiten Weltkrieg wurde das Epitaph zerschlagen und in den 1950er Jahren restauriert. Die Auferstehungsszenen zeigen Verwitterungserscheinungen, das Haupt Christi fehlt. Eine der beiden korinthischen Säulen fehlte bereits vor 1945,8) die verbliebene wurde bei der Restaurierung von der rechten auf die linke Seite verlegt. Eines der Säulenkapitelle ist verloren. Die Tafel mit dem lateinischen Bibelzitat zerbrach 1945 in mehrere Teile, dabei gingen kleine Bruchstücke mit Text verloren. Die Tafel wurde wieder zusammengesetzt, die fehlenden Buchstaben ergänzt.
Siehe Lageplan.
Maße: H. 144 cm; B. 75 cm; Bu. 1 cm (A), 1,5–1,8 cm (B).
Schriftart(en): Schrägliegende humanistische Kursive mit eingestreuten Kapitalisbuchstaben (A), Kapitalis (B).
- A
Van alle ydela) wort dat die menschen gespra=/ken hebben sullenb) sya) reden geuenb) in den / dach des Ordels. Want wt vc) worden / sultb) ghi gerechferdicht ofte Verdoemt / Wardend) Mathei : 129)
- B
O(MN)ESe) E(NI)M . NO[S]f) MANIFESTARI O[PO]RTETf) / A(N)TE TRIBVNAL CHRI(STI)g) VT R[EFER]ATf) / VNVS[QVIS]QVEh) . P(RO)PRIA CORPORIS: P(RO)VT / GESSI[T SI]VEf) BONV(M) SIVE MALV(M) . 2 COR · 510)
Übersetzung:
(A) Für jedes eitle Wort, das die Menschen gesprochen haben, sollen sie Rechenschaft geben am Tag des Gerichts. Denn auf Grund eurer Worte sollt ihr gerechtfertigt oder verdammt werden. Matthäus 12.
(B) Denn wir alle müssen offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi, auf dass ein jeder empfange nach dem, was er getan hat im Leib, es sei gut oder böse. 2 Korinther 5.11)
Textkritischer Apparat
- Buchstabe y aus zwei parallelen Schäften, der rechte ist unter die Grundlinie verlängert. Über beiden Schäften ein Punkt. Möglich ist auch die Lesung ij.
- Diakritisches Zeichen über u.
- Vgl. den Wortlaut in den niederländischen Bibelübersetzungen: „Wa(n)t wt v“ (Vorstemanbijbel); „Wt uwen“ (Liesveltbijbel); „Want wt uwen“ (Leuvense Bijbel); „Wt uwen“ (Biestkensbijbel); „Want wt dyne“ (Deux-Aesbijbel); vgl. hier Anm. 9.
- Im Anschluss ein Rankenornament.
- Heutiger Buchstabenbestand: OPS.
- Eingeklammerte Buchstaben ergänzt.
- Befund: XPI mit Querstrich über PI. PI restauriert.
- Eingeklammerte Buchstaben ergänzt, die Cauda des Q fehlt.
Anmerkungen
- Inv.-Nr. nach Hölker (1925): H-47.
- Die Säule weist auf den Tempel in Jerusalem hin. Kreuz und Säule stehen für das Alte und das Neue Testament, die in ihren apokalyptischen Visionen auf den kommenden Weltenrichter hinweisen: Dn 7,13; Apc 4,3; 19,15; 1, 16; 2,12.
- Entweder handelt es sich um die Apostel, deren Zwölfzahl durch Paulus aufgebrochen wird (Rm 1,1; 1 Cor 1,1), dann enthielte die Darstellung eine Anspielung auf die Verheißung Jesu an seine Apostel (Mt 19,28); oder aber die 13 Männer repräsentieren die 24 Ältesten, die in der Offenbarung den Hofstaat Christi als Richter bilden (Apc 4,3).
- Vgl. Jesu Weltgerichtsrede Mt 25,31–46.
- Kamphausen, Plastik (1931), S. 115f.
- Engelskirchen, Inschriften (1937), S. 32.
- Bader, Vermischtes (1964), S. 357.
- RBA 25192; Foto A. Schmitz, Köln 1890 (Archiv der Dombauhütte, Nachlass Bader, Schmitz, Anselm, Nr. 1890/62).
- Nach Mt 12,36f. (Vorstermanbijbel). Die Vorsterman-Bibel ist ebenso wie die Liesvelt-Bibel von 1542 (Erstausgabe 1526), die Biestkens-Bibel von 1560 und die Deux-Aes-Bibel von 1562 im Internet zugänglich (www.bijbelsdigitaal.nl/statenvertaling-1637).
- II Cor 5,10.
- Text der deutschen Einheitsübersetzung.
- Siehe zum ganzen Komplex Kamphausen, Plastik (1931), S. 11ff. und 115f.
- TRE, Bd. 2 (1993), S. 477f.
Nachweise
- Clemen, KDM Kreis Moers (1892), S. 148, Nr. 24 (B).
- Hölker, Inventar (1925), H-47.
- Engelskirchen, Inschriften (1937), S. 32, Nr. 28.
- Schirmer, Plastik (1991), S. 225f. (B).
Zitierhinweis:
DI 92, Stadt Xanten, Nr. 173 (Paul Ley), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di092d009k0017301.
Kommentar
Die schrägliegende Minuskel der Inschrift A verbindet Elemente der humanistischen Minuskel (etwa rundes g und auf der Grundlinie endendes h) mit Formen, die aus Kursivschriften bekannt sind (leicht geschwungenes, unter die Grundlinie verlängertes f und Schaft-s, tropfenförmige Bögen beim einstöckigen a und bei e, Umwandlung des oberen Bogenabschnitts bei n in einen Schrägbalken). Neben mehreren eindeutig als Majuskel zu verstehenden Versalien weist der Text an einigen Wortanfängen Kapitalisbuchstaben (M, V, W) auf, die lediglich die Höhe des Mittellängenbereichs erreichen und somit zu Minuskelbuchstaben umgedeutet sind. Im Unterschied zu den Buchstaben der humanistischen Kursive sind die Kapitalisbuchstaben nicht schrägliegend, sondern gerade ausgerichtet.
Die Identität des Verstorbenen ist unbekannt, das Schriftzitat in Niederländisch könnte einen Hinweis auf seine Herkunft liefern. Kamphausen weist das inspirierte, kunstsinnig komponierte und handwerklich fein ausgeführte Kunstwerk dem sog. Meister des Küchenkamins im Horster Schloss zu und stellt die Beziehungen zu Arbeiten Heemskercks heraus.12) Clemen rückt das bedeutende Epitaph in die Nähe der italienischen Renaissance.
Das leicht paraphrasierende Bibelzitat A stimmt weitgehend überein mit der Fassung der 1528 in Antwerpen erschienenen sog. Vorstermanbijbel. Es ist wahrscheinlich, dass dem Auftraggeber des Epitaphs die Bibel der Universität Löwen von 1548 vorgelegen hat, die von der Übersetzung der Vorsterman-Bibel beeinflusst sein dürfte; es ist für längere Zeit die einzige niederländische Bibelübersetzung gewesen, die von der römisch-katholischen Kirche gutgeheißen wurde.13)