Inschriftenkatalog: Stadt Xanten
Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.
DI 92: Stadt Xanten (2017)
Nr. 260 St. Viktor, Langchor 2. H. 15.–17. Jh. (und später)
Beschreibung
Chorgestühl (angefertigt um 1228)1) mit Graffiti aus dem 15. bis 19., vielleicht auch 20. Jahrhundert. Eichenholz. Das Gestühl ist an der Evangelien- und an der Epistelseite jeweils zweireihig entlang der Innenwände des Langchors aufgestellt. Jede der vier Reihen besteht heute aus zwölf Stallen, von denen jeweils sechs eine Einheit bilden.2) Die einzelnen Sitze sind am oberen Abschluss der Rückenlehne mit Nummern versehen, die nachträglich – vermutlich zwischen der zweiten Hälfte des 16. und dem 18. Jahrhundert – ins Holz eingeschnitten wurden. Nur die beiden Gruppen aus jeweils sechs Sitzen, die heute auf beiden Seiten am östlichen Ende der inneren Reihe stehen, tragen Graffiti, die in die Rückenlehne, in die Sitzfläche, in die Miserikordie oder in die Deckplatte eingeschnitten wurden. Nicht alle Sitzflächen und Rückenlehnen sind im Originalzustand erhalten, einige wurden ganz oder zur Hälfte erneuert und tragen keine Inschriften. Eingeritzt wurden Namen und Initialen, dazu gelegentlich Marken (mit oder ohne Wappenschild), Ortsnamen und Daten, die einzelne Einträge in die Jahre 1541, 1558, 1567, 1621 und 1694 einordnen. Des Weiteren sind an einigen der Sitze Zirkelschläge und (überwiegend undeutbare) Kritzeleien angebracht. Im Folgenden werden die Graffiti in der Sortierung nach den Sitznummern geboten. Aufgenommen wurden nur Einträge, die mindestens eine Silbe umfassen oder als Initialen erkennbar sind. Einträge, die mit hoher Wahrscheinlichkeit nach dem 17. Jahrhundert entstanden, wurden nicht berücksichtigt.
Siehe Lageplan.
Maße: Bu. 0,7–3,7 cm.
Schriftart(en): Gotische Minuskel, z. T. mit Versalien (26E, 27C, 27E, 27H, 28A, 29A, 29L, 57B, 58J, 58M, 59F, 59H, 61F); schreibschriftliche Minuskel (61D, 61K); humanistische Minuskel (58L); Mischminuskel, z. T. mit schreibschriftlichen Elementen und einzelnen Majuskelbuchstaben (alle übrigen in Minuskel ausgeführten Einträge); Kapitalis, z. T. mit Minuskelformen (alle Einträge in Majuskelschrift).
Anmerkungen
- Günther, Chorgestühl (1996–1998), S. 197. Die Datierung basiert auf einer dendrochronologischen Untersuchung.
- Zu den insgesamt 48 Sitzen kommen zwei dreisitzige Gestühle neben den seitlichen Lettnereingängen hinzu, die jünger sind.
- Reihenfolge: Es werden erst die Einträge auf der (vom Betrachter aus) linken, dann die auf der rechten Hälfte der Rückenlehnen genannt, jeweils von oben nach unten. Bei den Sitzen wird entsprechend verfahren.
- Siehe Anhang, Nr. 16.
- Es handelt sich um die auf dem Gestühl überlieferte Namensform (59H). Siehe Anhang, Nr. 17.
- Siehe Anhang, Nr. 18.
- Vier Einträge sind um 90° gegen den Uhrzeigersinn gedreht, lassen also auf eine Ausführung aus seitlicher Position schließen (29G, 29J, 29K, 31R, 31T).
- An Stalle 61 jedoch mit dem v der humanistischen Minuskel bzw. Kapitalis (61C).
- Bader, Dom I (1978), S. 303. Mehrere Mitglieder der Familie Bolt/Bols sind als Stiftsangehörige belegt. Ein Vikar Johannes Bols, Prokurator der Vikare, verstarb bereits 1400 und dürfte als Schreiber nicht in Frage kommen (Hawicks, Xanten [2007], S. 484).
- Kastner, Urkunden III (2007), Nr. 2659 von 1524 Feb. 26.
- Kastner, Urkunden IV (2013), Nr. 3399 von 1582 Feb. 3 und Nr. 3401 von 1582 Feb. 7.
- Pels II, Deliciae (1734), p. 134; Successio, fol. 11v.
- Kastner, Urkunden IV (2013), Nr. 3242 von 1562 Dez. 2 und Nr. 3557 von 1609 Juli 10.
- „Noch (e)i(n) sylveren handt s(ancti) Victoris gehoerende in dat offerkistge(n) in dat chorstainde mit ein ketge(n) daran ein agnus dei dat h(er) herma(nn) stockhorst in bewarungh hefft“ (Stiftsarchiv Xanten, B 48, Akten der Thesaurarie, Inventarium ornamentorum in sacristia existentium anno 1573, Pos. 11a).
- Die Baurechnung 1484/85 hat zwei Eintragungen zu dem verstorbenen Vikar der Kirche in Rees Hermann Moer. Die erste nennt ein Legat des Verstorbenen an die Kirchenfabrik, die zweite Einkünfte der Fabrik durch die Testamentsvollstrecker „de certis curmedis per eundem receptis“ Rotthoff, Baurechnungen (1975), Sp. 228 und 233.
- Vgl. auch Nr. 259, N6, N7, S7 (?) zu Everhard Haich; S6 zu Hermann Beek/Beck.
- Successio, fol. 3.
- Kastner, Urkunden IV (2013), Nr. 2954 von 1542 Dez. 18.
- Pels II, Deliciae (1734), p. 125; Successio, fol. 3 und 18.
- Pels II, Deliciae (1734), p. 125; Successio, fol. 3.
- Pels II, Deliciae (1734), p. 327; Successio, fol. 18.
- Beissel, Bauführung III (1889), S. 103.
- Beissel, Bauführung I (1889), S. 219.
- Zum ersten Mal Rotthoff, Baurechnungen (1975), Sp. 34, zum letzten Mal ebd., Sp. 175.
- Rotthoff, Baurechnungen (1975), Sp. 78, 80–82.
Zitierhinweis:
DI 92, Stadt Xanten, Nr. 260 (Paul Ley), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di092d009k0026003.
Stalle 26
An der Rückenlehne3)
Uictora)
herb)
Thẹc̣) Zo(n)sbeckd)
Theo Pasma(n)e)
Joha(n)f)
HeR : ṣṭoll :
An der Vorderseite der Deckplatte
SCHREMI
H H F̣
Textkritischer Apparat
Stalle 27
An der Rückenlehne
E · N ·a)
gradb)
gerac)
W K
veltd)
IACOB//VSc) ṭỊFA[..]e)
I Wf)
boltg)
i // bg)
Textkritischer Apparat
Stalle 28
An der Rückenlehne
simo[.]a)
Iob)
[- - -]omsc)
LIE[.]d)
IOAb)
Wẹḷ[..]ghe)
IO(HANN)ES p[…..]f)
R W
IO(HANN)ES pas[...]g)
An der Miserikordie
Iob)
Textkritischer Apparat
Stalle 29
An der Rückenlehne
suederus / Tạcka)
Io(hann)eṣ MostARtb)
V S M
I : M
vẹll
Auf der Sitzfläche
h(er)ma(n)n(us)c) moers
Io(hann)es mostartd)
A R N
W A D
W Ke)
I We)
An der Miserikordie
theo custodisf)
Textkritischer Apparat
Stalle 30
An der Rückenlehne:
A(nn)o : d(omini) · 1541 : / Her : HAICHa) / HE(R) : MOLṬ : / ḤEr : bẹẹḳ :
georb)
da beic)
dAVIdd) Beil
Auf der Deckplatte
I // Me)
Textkritischer Apparat
Stalle 31
An der Rückenlehne
W V
I K
STO/CKa)
H I N
I V D H
W . T .b)
Auf der Sitzfläche
W K
N : 9 AVErbeckc)
E L
A M
W : K
Q Ed)
KLUT
IOHA g)
H F
R B
S B
LOTe)
R : B
I Be)
LEṚṢ
An der Vorderseite der Deckplatte
I K
A H
Auf der Deckplatte
CASPAR KNIPf)
Textkritischer Apparat
Stalle 57
An der Rückenlehne
HERa) · Ib) · stOCHORstc)
theo [custo]disd)
Reineruse)
H V I
HERa) Ib) STOCHORST
arn · noltf)
H · D / A(nn)og) 1621
Auf der Sitzfläche:
W A D
F V B
Textkritischer Apparat
Stalle 58
An der Rückenlehne
Jo(hann)e[s]a)
HERMA(N) : 2b)
HER :
HERA
TH : RA(.)Ec)
Ju(.)ve k)
HENRICVS closd)
Johannes : winnikere)
david issf)
d · cust :g)
hermh)
Io(hann)es :i)
th[eo] custod[..]sj)
Textkritischer Apparat
Stalle 59
An der Rückenlehne
wolter(us) vdema)
theo : custodisb)
wolter(us) / vdema)
Theoc)
stap̣p̣
ḥẹṛṃd) hẹc̣ke(n)e)
lvdolpf)
[……] // [..] quaijeckg)
i hash)
An der Miserikordie
theo [ge...]
An der Vorderseite der Deckplatte
FER[.]N
Textkritischer Apparat
Stalle 60
Auf der Sitzfläche
S T O R
M A N
IOHANNFa)
Textkritischer Apparat
Stalle 61
An der Rückenlehne
theọ :
E · T ·
wolter(us) vde(m)a)
huysma(n)b)
wilh
Aratoṇịsc)
E : T
gerlac
vlef̣f̣d)
Reis
Albert(us) swelme)
Auf der Sitzfläche
THEO
VICTOR
VICT
IOH :
Auf der Deckplatte
HEI(N)RIC(VS) // GELREMA(N)f)
H(EINRICVS) // G(ELREMAN)g)
CALCAR
1558 3 MAI
IOANNES TACKh)
VICTOR WEYER / 1694
1567i)
SIMO(N) TACK
Textkritischer Apparat
Stalle 62
Auf der Deckplatte
KALL
VICTOR WEYER
S F F C Xa)
H D F C Xa)
Textkritischer Apparat
Marken
unbekannt (IM)4), Bolt (unkenntlich), Quaijeck5), Geldermann6)
Kommentar
Dem Charakter von Graffiti entsprechend sind viele der Einträge flüchtig ausgeführt. Genutzt wurde die gesamte Fläche der Rückenlehnen und der Sitzflächen, wobei die Ausrichtung der Schrift darauf schließen lässt, dass die Ausführenden in fast allen Fällen vor dem Gestühl gestanden bzw. gehockt haben.7) Zahlreiche abgebrochene Einträge sprechen dafür, dass die Schreiber gestört wurden. Die mangelnde Übung im Umgang mit dem Messer und die ungewohnte Schreibposition bewirkten vielfach Unsicherheiten und Mängel wie schwankende Buchstabenhöhe oder ungelenk ausgeführte Bögen. Ob der häufig zu beobachtende Wechsel zwischen Majuskel- und Minuskelformen mit der Entscheidung für möglichst einfach auszuführende Buchstaben zu erklären ist oder auf generell fehlende Schreibpraxis zurückzuführen ist, sei dahin gestellt.
Allerdings gibt es auch Beispiele für sorgfältig eingeschnittene Inschriften, die Schreibroutine und eine Gestaltungsabsicht erkennen lassen. Das gilt etwa für den Eintrag des Johannes Winneker (58 H), der durch sehr ausgeprägte Ober- und Unterlängen und energisch umgebrochene obere Schaftenden auffällt. W ist aus zwei Schrägschäften mit eingestelltem, schräglinks ausgeführtem Mittelschaft gebildet, zwei übereinander gestellte Quadrangel dienen als Worttrenner. Die gleiche Form des W findet sich bei Wolterus Udem (59A, 59C)8), dessen Einträge ebenfalls noch der gotischen Minuskel verpflichtet sind. Die Graffiti des Suederus Tack (29A) und des Theo Custodis (29K, 57B, 58M, 59B) sind in einer späten gotischen Minuskel ausgeführt und dürften zu den frühesten Einträgen am Chorgestühl zählen. Mehrmals wird als Versal ein rundes T mit geradem Deckbalken und einem von diesem herabhängenden Schaft in halber Zeilenhöhe verwendet, das aus der gotischen Kursivschrift übernommen ist (Suederus Tack, 29A; Theo Pasman, 26D, zudem bei Einzelbuchstaben). Auffallend sind auch die Einträge von Theo Zonsbeck (26C, vgl. auch Nr. 259, N17), der nicht nur für b, h und o, sondern auch für das zweibogige Z runde Formen verwendet.
Nur einige wenige Personen sind quellenmäßig fassbar, darunter mehrere Kleriker. Eines der ältesten Graffiti stammt wahrscheinlich von Johann Bolt (27H), der 1463/64 als Vikar an der St. Viktorkirche der Kegelgilde beitrat.9) Johannes Tack (61T) ist vielleicht identisch mit dem gleichnamigen, 1526 urkundlich belegten Priester, Sohn der Adelheid Tack aus der Xantener Marsstraße,10) oder mit einem Kölner Kleriker, der 1585 für die Marienvikarie der Pfarrkirche in (Rees-)Bienen präsentiert wurde11). Hinter dem Familiennamen huysman (61D) verbirgt sich möglicherweise Heinrich Hu(i)sselman, der von 1520 bis 1530 Kanoniker am St. Viktorstift war.12) Hermann (ingen) Stoc(k)horst (57A, 57E, vgl. Nr. 259, S1) ist für 1562 und 1609 als Vikar und Offiziant des Sebastianusaltars nachgewiesen. Er gehörte 1609 zu den „quattuor primi vicarii“13) und wird auch im Inventar des Domschatzes von 1573 erwähnt.14) Hermann Moer(s) (29F) war um 1484/85 Vikar in Rees.15) Als Her – also Stifts- oder Chorherr – bezeichnen sich Hermann (?) Beek, Everhard (?) Haich und ein HE(R) MOLT in ihrem 1541 angebrachten Graffito (30A).16) Hinter Heinrich Clos (58G) können sich verschiedene Kanoniker verbergen. Heinrich Clos (I) erhielt am 12. August 1489 die Präbende des verstorbenen Propstes und verstarb vor dem 7. März 1495.17) Heinrich Clos (II) erhielt nach dem Tod des Heinrich Penningh 1520 dessen Kanonikerpräbende und am 23. März 1529 das Ferculum des Wessel Hotmann (siehe Nr. 103). 1542 ist er als Testamentsvollstrecker des Sibert von Riswick bezeugt.18) Er selbst starb 8. Juli 1544 und wurde in Xanten beigesetzt.19) Heinrich Clos (IV), Sohn des Schlüters und Hofrichters des Bischofshofes Heinrich Clos (III), war ebenfalls Kanoniker am Viktorstift, verzichtete aber 1574 und verstarb 1595.20) Heinrich Clos (V) schließlich ist zwischen 1598 und 1651 am Stift nachweisbar.21) Wer aus dieser Familie seinen Namen auf dem Chorgestühl verewigt hat, lässt sich nicht entscheiden.
Einige wenige Einträge lassen sich auf Handwerker zurückführen, die an Arbeiten in der St. Viktorskirche beteiligt waren. Ein „arcularius“ (‚Schmuckkästchenmacher‘) namens Queick (auch Qweeck) fertigte 1525/26 einen Traghimmel für das heilige Sakrament nach Vorbildern in Kleve und Venloe.22) Vermutlich verbirgt er sich hinter dem Eintrag Quaijeck (vgl. Nr. 59H). Swederus Tack (29A) lieferte 1537 einen kleinen Altaraufsatz aus Holz für das Kapitelshaus.23) Johannes (28G, 28I) und Theodor Pasmann (26D) waren vermutlich am Bau der Westempore beteiligt (vgl. Nr. 259). Ein Johannes Pasmann wird in den Fabrikrechnungen 1454/55–1475/76 als Bewohner eines zinspflichtigen Hauses in der Scharnstraße erwähnt.24) 1465/66 war er als Zimmermann u.a. an den Dachdeckerarbeiten für die Michael- und die Andreaskapelle beteiligt.25) Theo und Johannes Pasmann gehören zu den Personen, deren Namen sowohl am Chorgestühl als auch am Geländer der Galerie in der Westchorhalle zu finden sind (siehe Nr. 259), ebenso wie Everhard Haech, Theo Zonsbeck, Jan Has (59I) und Hermann (ingen) Stochorst.