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in Marburg nach 1945
Marburg (Kreisstadt,
Hessen)
Jüdische Geschichte / Synagogen
Übersicht:
Hinweis:
Es entsteht eine weitere Seite mit Texten zur
jüdischen Geschichte Marburgs
Gleichfalls besteht eine weitere Seite zur
jüdischen Gemeinde in Marburg der Gegenwart
Zur Geschichte der jüdischen Gemeinde (english
version)
In Marburg gab es eine jüdische Gemeinde bereits im Mittelalter.
Sie entstand vermutlich im 13. Jahrhundert (seit 1220 hatte Marburg
Stadtrechte). Mit Sicherheit lebte in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts
eine größere Anzahl von Juden in der Stadt. Ihren Lebensunterhalt verdienten
sie vor allem mit Geldverleih, was durch zahlreiche
Eintragungen in den Frankfurter Gerichtsbüchern bezeugt ist. Bei der Judenverfolgung
in der Pestzeit 1348/49 wurde die Gemeinde zerstört. 1364 waren wieder einige Juden in der Stadt. In der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts
werden häufig die "Judengasse" sowie die "Judenschule"
(Synagoge s.u.) und ein jüdischer Friedhof (Judenkirchhof) genannt. Bei der
Judengasse handelt es sich um die Schlosssteig, die im Zentrum der Altstadt beim
Markt zwischen Wetter- und Mainzergasse verläuft. In der 2. Hälfte des 14.
Jahrhunderts und im 15. Jahrhundert sind mehrere Juden mit Namen genannt,
darunter auch zwei Ärzte, die sich zeitweilig in der Stadt
aufhielten. Nach der Vertreibung der Juden aus Hessen durch die landgräfliche
Austreibungsverordnung von 1524 wurden 1532 nochmals vorübergehend Juden
zugelassen.
Seit Anfang des 17. Jahrhunderts konnten einzelne jüdische Personen/Familien
wieder in Marburg zuziehen. 1744 lebten sechs jüdische Familien in der
Stadt, 1776 acht Familien. Ihre Häuser befanden sich wiederum im
Bereich der Judengasse und der benachbarten Wettergasse. 1758 konnte der erste jüdische Student
in Medizin seinen Abschluss an der
Universität machen. Bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts nahm die Zahl
der jüdischen Einwohner weiter
zu: 1818 waren es 13 Familien (1827 80 Personen). Nach dem Sturz Napoleons
wurden die Juden im Mai 1816 - zumindest teilweise - als Staatsbürger
anerkannt. Seit 1823 war Marburg Sitz eines
Provinzialrabbinates. Der bedeutendste Rabbiner war Dr. Leo Munk
(1876-1918), ein Vertreter der jüdischen Neo-Orthodoxie. Während seines
Rabbinates wurde in Marburg die höchste Zahl jüdischer Einwohner mit 512
Personen erreicht (etwa 2 % der Gesamtbevölkerung). Nachfolger Munks als Provinzial-
und Ortsrabbiner war Dr.
Naphtali Cohn, der von 1918 bis zu seiner Zurruhesetzung Ende 1933 amtierte.
Seit Ende des 19. Jahrhunderts war
Marburg durch die Aktivitäten von Otto Böckel (1859-1923), dem Gründer der
antisemitischen "Deutschen Reformpartei" ein Zentrum der
antisemitischen Bewegung. Böckel war als Vertreter dieser Partei aus dem
Wahlkreis
Marburg der erste antisemitische Reichstagsabgeordnete in Berlin. Die jüdischen
Familien lebten im 17./18. Jahrhundert überwiegend vom Not- und Warenhandel, eröffneten
jedoch mit der Erlangung der Gleichberechtigung im 19.
Jahrhundert zahlreiche Handelsgeschäfte und Betriebe in Marburg. Besondere
Bedeutung hatte u.a. der Lederhandel. Einige besaßen Kaufhäuser oder Bankhäuser. In
den 1920er-Jahren bestand in Marburg auch ein jüdisches Restaurant und das
Hotel Isenberg.
Um 1925 wurden ca. 400 jüdische Einwohner in der Stadt gezählt (1,82 %
von ca. 22.000 Einwohnern). Zur jüdischen Gemeinde Marburg gehörten auch die
in Cölbe, Elnhausen, Ockershausen und Wehrda lebenden jüdischen Personen. Den jüdischen
Gemeindevorstand bildeten damals die Herren Simon Höxter, Samuel Bachrach und Meier
Wolf. Als jüdischer Volksschullehrer und Kantor war Salomon Pfifferling
angestellt, als Religionslehrer, Schochet und Hilfskantor Honas Gans. Während
Pfifferling die jüdische Volkschule leitete, war Gans auch Lehrer an den
öffentlichen höheren Schulen. Als besondere Einrichtung bestand ein
Israelitisches Schüler- und Lehrlingsheim mit 30 Plätzen. An jüdischen
Vereinen bestand der Israelitische Wohltätigkeitsverein (gegründet 1873), der
Israelitische Frauenverein (gegründet 1878(, der Israelitische Armenverein und
die Vereinigung jüdischer Akademiker. Für die jüdischen Studenten war eine
"Mensa academica judaica" eingerichtet. 1932 bildeten den
Synagogenvorstand die Herren Samuel Bachrach (1. Vorsitzender) und H. Kugelmann
(2. Vorsitzender).
1933 lebten noch 341 jüdische Personen in Marburg. Bis November 1938
ging ihre Zahl durch die ständig zunehmenden Repressalien und die
wirtschaftliche Boykottierung auf 149 Personen zurück. Die Ereignisse beim
Novemberpogrom 1938 führten zu einer beschleunigten Aus- und Abwanderung.
Von
den jüdischen Einwohnern, die nicht emigrieren konnten oder wollten, wurden am
8. Dezember 1941 44 Personen aus der Stadt Marburg via Kassel nach Riga
deportiert. Am 31. Mai 1942 wurden ab Marburg via Kassel 29 Personen deportiert
(nach einem Bericht von Robert Eisenstädt [1944 in der Schweiz publiziert - in
leicht gekürzter Form im Buch: Helmut Burmeister/Michael Dorhs: Das achte
Licht. Hofgeismar 2002) ging
dieser Transport nach Lublin. Ca. 98 Personen dieses Transportes wurden nach
Majdanek gebracht. Alle anderen überlebten nicht, da der Transport sofort
weiter nach Sobibor ging). Am 6. September 1942 wurden ab Marburg via Kassel 44
Personen in das Ghetto Theresienstadt deportiert. Mindestens ein Marburger ist
in Buchenwald "umgekommen".
Im Zusammenhang mit dem
"Euthanasie-Programm" der Nationalsozialisten wurden 18 jüdische
Insassen der psychiatrischen Klinik der Stadt ermordet.
Zur Geschichte nach 1945 bis zur Gegenwart siehe weitere
Seite bei "Alemannia Judaica".
Persönlichkeiten:
| Hermann Cohen (1842-1918), Philosoph, Begründer der
Marburger Schule (Neu-Kantianer). War 1876-1912 ordentlicher Professoren der
Philosophie an der Marburger Universität. 1886 Dekan der Philosophischen
Fakultät. 1912 Direktor des Philosophischen Seminars. Als Jude wurde er
jedoch - obwohl es ihm als dem zuletzt dienstältesten Dekan der
Universität zustand - nicht Rektor der Universität. Weitere
Informationen siehe Website der Hermann-Cohen-Gellschaft. |
| Adolf Abraham Halevi Fränkel (1891-1965): studierte
und promovierte an der Universität Marburg; mit Unterbrechungen durch
Kriegsdienst im 1. Weltkrieg von 1916-1928 in Marburg, wo er nach der
Habilitation Professor wurde, 1928 in Kiel. 1929 Professor und Leiter des
mathematischen Instituts der Hebräischen Universität in Jerusalem. |
| Mosche Silberg, studierte in Marburg Jura und war
seit 1950 Richter am obersten Gerichtshof in Jerusalem. |
| Dr. Leopold Lucas (1872 Marburg - 1942 KZ
Theresienstadt), entstammte einer seit Anfang des 17. Jahrhunderts in
Marburg ansässigen jüdischen Familie. Lucas studierte in Berlin Geschichte
und jüdische Wissenschaft sowie Philosophie und orientalische Sprachen.
1895 Promotion in Tübingen zum Doktor der Philosophie promoviert. 1899 als
Rabbiner nach Glogau berufen, wo er vier Jahrzehnte lang als Lehrer,
Prediger und Seelsorger der jüdischen Gemeinde diente. Unermüdlich war
Leopold Lucas während seines ganzen Lebens wissenschaftlich tätig. 1902
Initiator der "Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft des
Judentums". Im Jahr 1940 folgte Lucas einem Ruf an die Hochschule für
die Wissenschaft des Judentums in Berlin - zu einer Zeit also, in der die
Vernichtung der Juden in Deutschland beschlossene Sache war und begonnen
hatte. 1942 mit Frau deportiert.
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Zur Geschichte der Synagogen
Die Synagoge des
Mittelalters
Bereits die jüdische Gemeinde des Mittelalters hatte eine Synagoge
("Judenschule"). Sie wurde vermutlich um 1280 an Stelle eines älteren
Gebäude erbaut und wird erstmals 1317
in einer Urkunde genannt. Sie befand sich in der "Judengasse" (seit
1933: Schlosssteig/Ecke Mainzer Gasse/oberhalb des Marktplatzes). Beim Stadtbrand
1319 wurde die Synagoge vermutlich zerstört. Auf den Fundamenten der alten
wurde eine neue Synagoge errichtet. Vor
und nach der Judenverfolgung in der Pestzeit 1348/49 wird dasselbe Gebäude als Synagoge
genützt worden sein. 1452 wurde die Synagoge zerstört und teilweise
abgebrochen;
die Steine wurden teilweise unter anderem zum Bau der Mauer des christlichen St. Kilianskirchhofes
verwendet.
Die Überreste des
mittelalterlichen Synagoge wurden 1993 überraschend wiederentdeckt und bis
1997 ausgegraben. Das Gelände an der Ecke Schlosssteig/Mainzer Gasse wollte die
Stadt damals neu anlegen. Bei der Installation eines unterirdischen Trafos stieß
man auf die gut erhaltenen Reste der mittelalterlichen Synagoge, die von der
Landesdenkmalpflege als architektonisches Denkmal von außerordentlichem Rang
eingestuft wurde. Erhalten ist von dem um 1280 entstandenen Synagogengebäude
u.a. der Steinplattenfußboden. Der erhaltene Schlussstein des Gewölbes zeigt möglicherweise
einen (allerdings stark verwitterten) Davidstern. Von der nach dem Stadtbrand
1319 neu erbauten Synagoge sind noch Mauern bis zu einer Höhe von vier Metern
erhalten. Eine angedeutete Nische ist erkennbar. Das Bauwerk war insgesamt etwa
sieben Meter hoch und mit einem sechsstrahligen Gewölbe versehen. Im Sommer
1995 wurde von der Stadt ein Architektenwettbewerb ausgeschrieben, der den
Vorschlag erbrachte, die Ausgrabungsstätte zum Schutz gegen Witterungseinflüsse
mit einem Glaskubus zu überbauen. Die jüdische Gemeinde und Teile der
Marburger Bevölkerung sprachen sich zunächst gegen diese Lösung aus. Ein
anderer Vorschlag war, eine Tragekonstruktion mit einer stählernen Decke auf
vier Stahlpfosten ("Baldachin") über der Synagogenruine zu errichten.
Schließlich setzte sich doch der Glaskubus durch, der im Sommer 2002 erstellt
wurde.
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Straßenschild "Schloßsteig"
mit
Hinweis "früher Judengasse"
(Fotos: Hahn, März 2008) |
Blick
zur Schlosssteige, frühere Judengasse |
Zeichnung des Blickes in die
frühere Judengasse (Quelle:
Arnsberg, Bilder s.Lit.) |
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Bereich der
mittelalterlichen Synagoge mit Glaskubus und darunter befindlichen
Ausgrabungen |
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Die
Reste der mittelalterlichen Synagoge, rechts der Schlussstein |
Tafeln zur mittelalterlichen
jüdischen Geschichte und
zur Synagoge |
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Häuser im Bereich der
ehemaligen Judengasse
(Foto: E. Hahn, Oktober 2007) |
Seit September 2002: Die Reste
der Synagoge liegen unter einem Glaskubus.
Fotos: E. Hahn (Aufnahmen im
Oktober 2007) |
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März 2009: Der
Platz vor der mittelalterlichen Synagoge wird in
"Willy-Sage-Platz" umbenannt |
Foto
links: Unter den Blicken zahlreicher Gäste enthüllte Oberbürgermeister Egon Vaupel (rechts) das Schild des Willy-Sage-Platzes am Marburger Obermarkt. Foto: Katharina Kaufmann
Bericht von Katharina Kaufmann in der "Oberhessischen Presse"
vom 9. März 2009 (Artikel):
Willy-Sage-Platz Zur Erinnerung an einen Brückenbauer.
An Willy Sage, den Mitbegründer und langjährigen Vorsitzenden der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Marburg, erinnert seit gestern der Platz vor der mittelalterlichen Synagoge.
Marburg. Ein Brückenbauer sei Willy Sage gewesen und ein Mensch, auf den man sich verlassen konnte – gerade in schwierigen Zeiten. Mit diesen Worten beschrieb Marburgs Oberbürgermeister Egon Vaupel gestern
Nachmittag bei der Enthüllung der Straßenschilder am Obermarkt Willy Sage. Ihm sei es gelungen, Christen und Juden einander näher zu bringen.
Das Marburger Stadtparlament hatte im vergangenen September einem Antrag des Magistrats zugestimmt, den Platz vor der mittelalterlichen Synagoge am Obermarkt nach Willy Sage, dem Mitbegründer und langjährigen Vorsitzenden der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, zu benennen. |
Die
Synagogen vom 18. bis zum 20. Jahrhundert
Die im 18. Jahrhundert zugezogenen jüdischen Familien konnten vermutlich um
1720 einen Betsaal einrichten. Als
"Judenschulmeister" (Vorsänger) wird von 1788 bis 1829 Samuel Hirsch
Fränkel genannt. Diese Synagoge des 18. Jahrhundert stand in einem Hinterhaus
der Barfüßerstraße beziehungsweise der Langgasse. Sie war um 1815 für die inzwischen 13 jüdischen Familien
der Stadt zu klein geworden. So machte sich die Gemeinde an den Bau einer
größeren Synagoge. Die Bauarbeiten dürften in den Jahren 1817/18
durchgeführt worden sein.
Die Einweihung der Synagoge am 14. August 1818 wurde von Rabbiner
Moses Salomon Gosen (1780-1864, Rabbiner in Marburg von 1802 bis 1860!) unter
Mitwirkung des Vorsängers Lillo aus Battenfeld (Gemeinde Allendorf/Eder)
vorgenommen. Außer dem Rabbiner hielt auch der damalige Gemeindevorsteher
Siegmund Lilienfeld eine Rede.
Über das Fest der Einweihung liegen zwei Berichte in der
Zeitschrift "Sulamith" vor (Jahrgang V Band 2) sowie ein Bericht
aus der nichtjüdischen "Karlsruher Zeitung":
Marburg. - Den 14. August (1818) feierte die hiesige
Israelitische Gemeinde das Fest der Einweihung ihrer neu errichteten
Synagoge.
Um 3 Uhr Nachmittags nahm unter feierlicher Gottesverehrung, mit Gesang und
Instrumentalmusik das Fest seinen Anfang, und verspätete sich bis in die Nacht.
Sämtliche Kurfürstliche Zivil- und Militärbehörden, die Herren Professoren
der Universität, die Geistlichkeit aller Konfessionen, eine große Anzahl der
studierenden Jugend und mehrere Personen aus allen Ständen waren zugegen, und
die Ordnung und Andacht, welche sowohl bei dem Zuge (aus der alten Synagoge in
die neue) durch die Stadt, als auch in der Synagoge fortwährend herrschten,
waren sprechende Beweise, dass diese heilige Angelegenheit alle Gemüter in
Anspruch genommen, und Alle den innigsten, frömmsten Anteil an dem Feste gehabt
haben. Das Musikchor bestand größtenteils aus Liebhabern der Tonkunst (unter
denen mehrere Professoren und Studierende), welche zur Ehre Gottes die
Festlichkeit zu verschönern und zu erhöhen suchten. Der geschmackvoll erbaute
und ganz seinem Zwecke gemäß eingerichtete Tempel, war feierlich
ausgeschmückt und festlich erleuchtet. Der Herr Rabbiner Gosen ordnete das
gottesdienstliche Zeremoniell, und der jüdische Vorsänger, Herr Lillo aus
Battenfeld, stand dem Gesang vor. Ein von diesem Rabbiner verfasstes Danklied
und Gebet für das Wohl unseres allgeliebtesten Landesvaters, des gesamten
verehrten hessischen Kurhauses, der Stadt, des Landes und der gesamten
Menschheit, wurde mit Instrumentalbegleitung feierlichst abgesungen; desgleichen
ein von Herrn Lillo verfasstes Lied: "Preiset des Herrn Majestät;"
auch hielt der Rabbiner Gosen eine dem wichtigen Gegenstand anpassende deutsche
Predigt, und Herr Siegmund Lilienfeld trug eine dem Zwecke des Festes
angemessene Rede vor. So wechselten Worte des Friedens und der Weihe mit
heiligen Hymnen und Psalmen unter feierlichem Gesang und Saitenspiel ab in dem
neuerrichteten Hause des Herrn, Es war ein wahrhaft herzerhebendes Fest der
allgemeinen Gottesverehrung, das eine andächtige Volksmenge - ohne Unterschied
weder des Glaubens noch des Standes, in Eintracht und Liebe feierte, vor dem
Angesichte des himmlischen Allvaters, und es wird gewiss bei den Mitgliedern
jeder Glaubensgemeinde dieser Stadt, dieser Tag als einer der schönsten noch
lange im Andenken bleiben. |
2. Teil des Berichtes: Marburg. In der hiesigen
Synagoge von Herrn Siegmund Lilienfeld gehaltenen Rede heißt es unter andern
wie folgt:
- - - Auch wir, meine hochverehrtesten Zuhörer, auch wir wollen uns heute der
Trauer und Unglückstage, welche die Menschheit überhaupt, welche die
Israelitische Nation insbesondere in verschiedenen Zeiträumen verlebt, recht
ernstlich erinnern; wollen abermals die Vergangenheit mit der Gegenwart
vergleichen, und tröstende Hoffnungen schöpfen für die Zukunft. Unsere
gegenwärtige Festlichkeit - die Einweihung unserer Synagoge, beut uns dazu die
schicklichste Gelegenheit dar.
Als noch, (und das ist noch nicht gar lange her!), die Finsternis des
Irrglaubens und der Unduldung die menschlichen Gemüter umhüllte, ach! da war
es einem großen Teil der Erdbewohner nicht vergönnt, ihren Schöpfer nach
ihrer eigenen Weise und Meinung öffentlich zu verehren! Wer kennt nicht die
zahllosen Ereignisse von Jammer und Elend, die jener heillose Irrwahn über das
Menschengeschlecht gebracht, wer kennt nicht den in Bruderblut getauchten Stempel,
der die Blätter der Zeitgeschichte befleckt, und bei dessen Anblick Erinnerung
Schrecken und Grausen den Menschenfreund ergreift. Vorüber ist dieser grausame
Wahn, verscheucht das düstere Gewölk der Unduldung und Verfolgung durch die
wohltätige Sonne der Vernunft und der Menschenliebe. Ungestört, öffentlich
und frei darf jetzt der Mensch seinem Gotte nach seiner ihn beseligenden
Meinung, nach seiner Glaubensweise dienen; nicht hindert ihn mehr die Menge der
Andersdenkenden, Andersglaubenden, nicht mehr verkennt der Mensch durch die Form
seines Glaubens - den im Ebenbild des Herrn - des Vaters aller Menschen,
geschaffenen Mitbruder. Die Verschiedenheit des menschlichen Glaubens ist nicht
mehr die Verschiedenheit der menschlichen Herzen, und nicht mehr begleiten
Seufzer und Tränen, durch Menschendruck und Verfolgung ausgepresst, die
Dankgebete im Hause des Ewigen.
Vorüber sind die Tage des Drangsals, und bessere frohere Zeit ward uns
beschieden; denn erloschen ist ja auch die wilde Flamme des Krieges, die jüngst
noch verheerend um uns loderte. Die Geißel der Habsucht lastet nicht mehr auf
uns, denn Deutschland ist frei vom fremden Hoch, und ruhig wandeln seine Völker
unter dem milden Schatten der Friedenspalme.
Ja vorüber sind die Tage des Elends und einer bessern froheren Zukunft sehen
wir entgegen. Die Gnade des Herrn waltet sichtbar über uns, drum lasst uns ihm
danken dafür im fröhlichen Gesang. "Rührt dem Ewigen Saitenspiel, denn
er hat große Dinge getan, das ist auf der ganzen Erde kund." (Jesaja
12,5).
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So berechtigt uns denn das gegenwärtige Fest der Synagogenweihe zu der frohen
Hoffnung, dass auch fernerhin der Geist der Friedfertigkeit, der Duldung und der
Liebe fortleben werde in den Herzen der Menschen, und dass nie, nie sie wieder
trennen möge, das zweischneidige Schwert der Rache und der Verfolgung; sie
berechtigt uns zu der frohen Hoffnung, dass fort bestehen werden die milden und
menschenfreundlicheren Gesinnungen der Fürsten, welche mit echter Vaterliebe
auch die Nachkommen Abrahams, als ihre Kinder anerkennen, und ihnen gleiche
Rechte und gleichen Schutz verliehen haben mit den übrigen Bewohnern ihrer
Lande; unsere Synagogenweihe berechtigt uns zu der freudigen Hoffnung, dass
unsere christlichen Mitbrüder uns auch künftighin als Kinder eines und
desselben Vaters anerkennen, und als wahre Brüder uns lieben werden; sie
berechtigt uns zu der beseligenden Hoffnung, dass auch die Stammesgenossen des
Hauses Israels, dass auch wir, meine lieben Glaubensbrüder, unsererseits alle
Kräfte und Mittel anwenden werden, uns jener Liebe unserer christlichen
Mitbrüder, uns jenes Genusses der erlangten menschen- und Brüderrechte würdig
zu machen, und dass wir alles vermeiden werden, was eines braven Weltbürgers,
eines getreuen Untertans, und eines echten Menschenfreundes unwürdig wäre. Das
Fest unserer Synagogenweihe berechtigt uns endlich zu der süßen Hoffnung, dass
diese Synagoge fernerhin ein Denkmal sein werde, in unserer Gemeinde, für uns
und unsere Nachkommen, ein Denkmal der Freundschaft, der Eintracht und der
Liebe, auf dass neben der Andacht im Hause des Herrn auch innige Bruderliebe
stets unsere Herzen erfülle, und wir von unsern Gemeindemitgliedern stets mit
dem heiligen Dichter singen mögen: "O wie fein, wie lieblich ist's, wenn
Brüder beisammen wohnen!" (Psalm 133,1). |
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Auch in nichtjüdischen Tageszeitungen
wurde über die Einweihung der Synagoge in Marburg berichtet:
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Artikel
in der "Karlsruher Zeitung" vom 27. September 1818: "Marburg. Am 14.
August feierte die hiesige israelitische Gemeinde das Fest der Einweihung
ihrer neu errichteten Synagoge. Um 3 Uhr Nachmittags nahm unter feierlicher
Gottesversehrung mit Gesang und Instrumentalmusik, das Fest seinen Anfang,
und verlängerte sich bis in die Nacht. Sämtliche kurfürstlichen Zivil- und
Militärbehörden, die Professoren der Universität, die Geistlichkeit aller
Konfessionen, eine große Anzahl der studierenden Jugend und mehrere Personen
aus allen Ständen waren zugegen. Es war ein wahrhaft herzerhebendes Fest der
allgemeinen Gottesverehrung, das eine andächtige Volksmenge, ohne
Unterschied, weder des Glaubens, noch des Standes, in Eintracht und Liebe
feierte, vor dem Angesicht des himmlischen Allvaters."
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Um 1848 kam es innerhalb der jüdischen Gemeinde zu starken Spannungen.
Es bildeten sich zwei Separatgruppen: die "neuen deutschen
Glaubensgenossen" und die Überzeugten. Ab 1852 wurde die Judenschaft
Marburgs durch Verfassung in einer Einheitsgemeinde zusammengeschlossen. Durch
die Zersplitterung der Gemeinde musste allerdings die Synagoge verkauft werden,
erst nach Schaffung einer Einheitsgemeinde wurde das Gebäude 1855
zurückgekauft.
In den 1880er-Jahren reichte die alte Synagoge für die größer
gewordene jüdische Gemeinde nicht mehr aus. Man plante den Bau einer größeren
Synagoge. Der von der Gemeinde hiermit beauftragte Architekt Wilhelm Spahr legte
1895 zunächst Entwürfe vor, die über dem in romanischen Formen gehaltenen Kernbau einen
orientalisierenden Tambour mit einer Zwiebelkuppel zeigten (s.u.). Erst in der
Revision seiner Pläne, die schließlich ausgeführt wurden, wandelte Spahr diese Motive in einer stilistischen Angleichung an den Hauptbau in
spätromanische
Formen mit byzantinischen Elementen um. Einem quadratischen
Kernbau sollte im Westen ein im Grundriss querrechteckiger Bauteil für
Eingangshalle und Treppen vorgelegt werden. Im Osten plante er in einem Anbau Nebenräume und
den Almemor. Der Aron HaKodesch (Toraschrein) war in einer auch nach außen
sichtbaren Apsis untergebracht. Die neue Synagoge sollte Platz für 230
Männer und 175 Frauen haben.
1896 konnte der Grundstein für den Neubau der Synagoge
in der Universitätsstraße gelegt werden. Damit befand sich die Synagoge in
einer städtebaulich herausragenden Situation. Die Einweihung der Synagoge wurde
am 15. September 1897 durch den Provinzialrabbiner Dr. Leo Munk vorgenommen.
Die Einweihung der Synagoge am 15. September 1897
vgl. auch die im Digitalen Archiv Marburg
zusammengetragenen Texte zur Einweihung der Marburger Synagoge: http://digam.net/dokumenta368-2.html?ID=9182
Zeitschrift "Israelit" vom 2. September
1897: Marburg, 30. August. Voraussichtlich wird die hier neu erbaute
Synagoge am 15. September dieses Jahres eingeweiht. Dieselbe ist im romanischen
Stil erbaut und hat zwei Schulzimmer, Wohnung und Frauenbad. |
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Zeitschrift "Der Israelit" vom 23. September 1897: Marburg. Der
18. Elul (= 15. September 1897) bildet einen Wendepunkt in der Geschichte der
jüdischen Gemeinde Marburg. Es ist der Tag, an dem die Tag Synagoge eingeweiht
wurde. Wenn schon für jede jüdische Gemeinde ein solcher Tag von Bedeutung
ist, so muss dies für die unsrige ganz besonders der Fall sein. Marburg, die
Stadt im herrlichen Lahntale, darf nicht nach ihrer numerischen Einwohnerzahl
gemessen werden. Durch die Universität gewinnt sie eine Wichtigkeit, die nicht
unterschätzt werden darf. Junge Leute, die hier ihren Studien obliegen, lernen
auch hier zum ersten Mal das Leben kennen, Die Eindrücke, die sie empfangen,
tragen sie mit sich für alle Zeit fort. Sie nehmen die verschiedenen Institute
der menschlichen Gesellschaft in Augenschein und schenken ihren inneren
Einrichtungen die größte Aufmerksamkeit. In unserer Zeit gewinnt ja wieder das
religiöse Leben an Boden und wird demselben mannigfaches Interesse
entgegengebracht. Der nichtjüdische Student sehnt sich oft danach auch unsere
Kultusstätte und unsern Kultus kennen zu lernen. Die irrigsten Vorstellungen
herrschen ja über denselben selbst in den Kreisen, von denen man es nicht
erwarten sollte. In Marburg gab es zwar eine jüdische Kultusstätte, aber kein
Mensch ahnte, wenn er vor derselben stand, was es sei. Das Bestreben unseres
hochverehrten Herrn Provinzial-Rabbiner Dr. Munk, der erst jüdisches Leben hier
gepflanzt hat, indem er jüdische Institute mannigfacher Art erst schuf, ging
auch dahin, dass ein würdiges Gotteshaus in der Gemeinde errichtet würde. Es
ist ihm und dem Vorstande, an dessen Spitze seit Jahren Herr Koppel Strauß
steht, gelungen. In einer der schönsten Strasse "ist die Synagoge",
so schildert die Festschrift des Herrn Provinzial-Rabbiner Dr. Munk den Bauz,
"in spät romanischem Stil mit Anklängen an den byzantinischen aus rotem
Sandsteinmaterial gebaut. Der Grundriss ist aus dem Quadrat konstruiert. Der
Almemor befindet sich in der Mitte des Raumes und wird die Lage desselben durch
eine von vier Säulen getragene Kuppel betürmt. Zwischen dem die vorgenannten
Säulen unterstützenden Pfeilern wölben sich Gurtbogen, welche die
Frauenempore tragen. An den Männerraum schließt sich nach Osten die Estrade
an, mit dem Oraun hakaudesch (Toraschrein) und der Kanzel; der Fußboden der
Estrade ist um 80 cm gegen den des Männerraumes erhöht."
Doch bevor ich die Einweihungsfeier des imposanten Baues vorführe, will ich den
Abschied von dem schlichten alten Gebethause schildern. Die ganze Gemeinde hatte
sich zum Morgengottesdienst in diesem vereinigt. Das Gebet ging in üblicher
Weise vor sich, da ertönt plötzlich beim Tachanun (Bittgebet "Tachanun")
aus dem Munde unseres Rabbiners das Schomer Jisrael ("Hüter
Israels" = Gott). Wer die antisemitischen Irrungen und Wirrungen der
letzten Jahre kennt, wird begreifen, welchen Eindruck dieses Bekenntnisgebet auf
Hörer Marburgs machte. Nach Beendigung des Gottesdienstes sprach Herr
Provinzial-Rabbiner Dr. Munk der Gemeinde die ... vor, worauf dieser in einer
kurzen, aber ergreifenden Ansprache an die Gemeinde sich wandte. Fast niemand
blieb tränenleer, als er das Gotteshaus selbst apostrophierte, dasselbe um Mechila
(Verzeihung) bat und seiner Würde und Weise dann gleichsam entkleidete. Hierauf
erschallten zum letzten Male die Schofartöne an dieser Stelle. |
Um 1/2 12 Uhr begann die Einweihungsfeier der neuen Synagoge. Im Vorgarten hatte
sich die gesamte Gemeinde mit ihren Gästen versammelt. Als Ehrengäste waren
unter Anderem anwesend: Der Oberbürgermeister, der Vizebürgermeister, der
Vorsitzende des Stadtausschusses, der Landrat, zugleich als Vertreter des Herrn
Regierungspräsidenten, der zu seinem lebhaften Bedauern am Erscheinen
verhindert war, der Stadtkommandant, der Kurator der Universität, der Vertreter
des abwesenden Rektormagnificus und die Direktoren der höheren Lehranstalten.
Nachdem in feierlicher Weise von dem Gemeindeältesten Herrn Koppel Strauß der
Landrat den Schlüssel erhalten hatte, überhab ihn dieser mit einer kurzen
Ansprache dem Provinzial-Rabbiner Dr. Munk. Mit dem Schlüssel stieg nun dieser
die Stufen zum Hauptportale empor.
Die Worte, die über demselben eingemeißelt sind Pitechu li schaarei zädäk
usw. ("Öffnet mir die Tore der Gerechtigkeit" usw.) und die folgenden
Verse des Psalms paraphrasierte der Redner in kurzer, markiger Sprache und
öffnete das Tor. Ich will nicht die Einzelheiten der Feier im Innern des
Gotteshauses, das in hellem Lichterglanze erstrahlte und dessen Oraun
hakaudisch (Toraschrein) durch die Freigebigkeit des Herrn Louis Erlanger
ein Kunstwerk geworden ist, vorführen. Den Mittelpunkt der Feier bildete die
Predigt des Herrn Provinzial-Rabbiner Dr. Munk. Beginnend mit einem kurzen
Gebete ging er zu seinem Texte Ma nora haMakom hasäh, ein säh ki im beit
elohim we säh haSchaar haSchamajim ("Wie furchterregend ist dieser
Ort. Dies ist nichts anderes als Gottes Haus und dies ist die Pforte des
Himmels"). Mit jesaianischen Worten warf er die Frage auf, wozu dem
Allumfasser, dessen Tempel die Natur ist, ein Gotteshaus. Die Antwort gab er in
der geistvollen Deutung der Bezeichnungen, die ein jüdisches Gotteshaus führt.
Beit HaTefilla ("Haus des Gebetes"), Mischkan HaEdut ("Haus
des Gesetzes"), Beit HaKnesset ("Haus der Versammlung").
Meisterhaft war inhaltlich und formell die Ausführung. Begeistert begeisterte
der Redner, ergriffen waren die Hörer. Gewaltig wirkten auch die musikalischen
Teile der Feier, um die sich Herr Lehrer Strauß ungeteiltes Lob und Verdienst
erworben hat. Mit Verständnis für den Geist der hebräischen Poesie wusste er
die Kompositionen dem von ihm geschulten Chore und Orchester beizubringen, dass
es eine vollendete Leistung war.
Auf den Gesichtern aller Teilnehmer der Einweihung las man die Begeisterung. Ein
Kiddusch haSchem (Heiligung des Namens) war es und bleibt es, wie die
obengenannten Vertretern Vertreter der Behörden, zum Teil Männer mit
glänzenden Namen, alle in hervorragenden Stellungen, die wärmste Anerkennung
und den innigsten Dank unserem hoch- und allverehrten Provinzial-Rabbiner Dr.
Munk aussprachen. Man sah und hörte, dass es nicht konventionelle Formen waren.
Noch heute bildet in diesen Kreisen die erhebende Feier das Gespräch.
Ungefähr eine Stunde nach dieser Feier fand ein feierlicher Mincha-Gottesdienst
statt.
Am späten Nachmittage versammelte sich die gesamte Gemeinde zu einem Festdiner.
Tränen traten mir in die Augen, als ich beim Betreten des Saales einen der
ältesten Männer, der aus einem alten Marburger Geschlechte stammt, vor Freuden
tanzen sah. In diesem Momente ging mir fast ein Jahrhundert der jüdischen
Geschichte Marburg's durch den Kopf. Den Kaiser-Toast brachte der Herr
Provinzial-Rabbiner aus, indem er den Kaiser als Friedensfürsten, dem die
Religion wahre Herzenssache ist, feierte. Auf den Rabbiner toastete Herr
Kaufmann, auf die Gemeinde Herr Geheimer Regierungsrat Prof. Cohen. Von den
anderen Rischreden will ich nur noch die auf den Gemeindeältesten Herrn Koppel
Strauß erwähnen. Die Feier war freudig und würdig, eine Feier, wie sie dem
jüdischen Geiste und Herzen entspricht.
Der Tag aber bleibt ein Ehrentag für die jüdische Gemeinde Marburgs. |
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Artikel
in der "Allgemeinen Zeitung des Judentums" vom 1. Oktober 1897:
"Marburg, 26. September (1897). Die Einweihung unserer neuen
Synagoge fand am 15. und 16. dieses Monats statt und wurde im Anschluss an
das Morgengebet in der alten Synagoge durch eine Ansprache des Herrn
Provinzialrabbiners Dr. Munk eingeleitet, in welcher derselbe auf die
Bedeutung der geweihten Stätte bei freudigen wie traurigen Ereignissen
hinwies. Sodann versammelten sich die Festteilnehmer auf dem geräumigen
Hofe der neuen Synagoge, darunter die Spitzen der Marburger Behörden und
der Universität. Ein Mädchen brachte auf samtenen Kissen den Schlüssel
der Synagoge dem Vorsteher, der ihn mit einigen begleitenden Worten dem
Landrat weitergab, dieser wiederum überreichte ihn ebenfalls mit einer
kurzen Ansprache dem Rabbiner, der seinerseits die zur Synagoge führenden
Stufen erstieg und ein kurzes Gebet sprach. Bei dem Eintritt in die Synagoge
wurde der Zug durch ein von der Kapelle der in Marburg garnisonierenden
Jäger vorgetragenes Präludium begrüßt. Dann trug der zu diesem Zweck
von Herrn Lehrer Strauß gebildete Synagogenchor in wirkungsvoller Weise
das Matobu vor. Darauf wurden unter Musik und Gesang die Torarollen
aufgehoben, ein Rundgang mit ihnen gemacht und dann in die heilige Lade
zurückgebracht. Nun bestieg der Rabbiner die Kanzel und hielt die
Weiherede, die alle Zuhörer tief ergriffen hat. Hierauf trug der Chor die
Kaduscha vor, und zwar die von der Gemeinde zu sagenden Verse hebräisch,
das Übrige in gebundener Rede deutsch. Die Solis sang Lehrer Strauß.
Dieser Teil war besonders wirkungsvoll. Wie wir hören, hat ein Verwandter
Lewandowskis die Gesangsstücke für diese Gelegenheit besonders
bearbeitet. Nach abermaligem kurzen Gebete des Rabbiners wurde die ewige
Lampe angezündet, dann das Gebet für den Landesvater gesprochen und zum
Schluss nochmals ein hebräischer Gesang vorgetragen. Um 5 Uhr
versammelten sich 200-300 Festteilnehmer zu einem vom Restaurateur
Isenberg gestellten solennen Festessen. Wie üblich, wurde dasselbe
gewürzt durch eine bunte Reihe von Toasten, unter denen wir den des
Geheimen Regierungsrats Professor Dr. Cohen besonders hervorheben müssen.
Am folgenden Tage wurde in einem dicht am Walde bei Marburg gelegenen
Gasthause ein Kinderfest und abends ein Ball
abgehalten." |
Über die 1897 eingeweihte Synagoge in Marburg (Artikel von
1926)
Artikel in der "Jüdischen Wochenzeitung für Kassel, Kurhessen und
Waldeck" vom 19. November 1926: |
Durch einen Brand in der Universität ist die Synagoge gefährdet
(1927)
Artikel in der "Jüdischen Wochenzeitung für Kassel, Kurhessen und
Waldeck" vom 3. Juni 1927: Marburg. Dienstag gegen 9
Uhr abends brach plötzlich im Dachstuhl der Universität Feuer aus, durch
welches die direkt danebenliegende Synagoge stark gefährdet war. Nach
mehrstündiger Arbeit hiesiger und benachbarter Wehren wurde das Feuer auf
seinen Herd beschränkt. Während des Brandes wurde die Synagoge wegen
Feuersgefahr ausgeräumt und die Sefer Torah (Torarolle) in ein
benachbartes jüdisches Haus gebracht. Der Materialschaden ist bedeutend,
während die Synagoge unversehrt blieb. E." |
Beim Novemberpogrom 1938 wurde die Synagoge von Marburger SA-Leuten
geschändet und niedergebrannt. Die Kosten für die anschließenden Abbruch- und
Aufräumarbeiten wurden der jüdischen Gemeinde in Rechnung gestellt. Die
Philipps-Universität erwarb das Grundstück am 28. Juli 1939 für 11.700
RM.
Nach 1945 kam das Synagogengrundstück nach Abschluss der Restitutionsverfahren in den Besitz des
Landes Hessen.
Am 10. November 1963 wurde auf dem Synagogengrundstück ein Gedenkstein zur Erinnerung an
die Zerstörung der Synagoge eingeweiht. Aus dem Synagogengrundstück wurde ein
begrünter Platz mit Sitzmöglichkeiten; ein Teil des Grundstückes ist ein
Parkplatz der Universität. Die nach dem Abbruch der Synagoge verbliebenen
Fundamente der Synagoge sind unter dem Platz noch vorhanden. Im Sommer 2008
wurde mit den Ausgrabungen dieser Fundamentreste begonnen (siehe
unten).
Zur Geschichte nach 1945 bis zur Gegenwart siehe weitere
Seite bei "Alemannia Judaica".
Adresse/Standorte der Synagogen:
| Mittelalterliche Synagoge: Schlosssteig/Ecke Mainzer
Gasse/oberhalb des Marktplatzes |
| Synagoge 1720-1818: Barfüßerstraße / Langgasse 7 |
| Synagoge 1818-1897: Ritterstraße 2 |
| Synagoge 1897-1938: Universitätsstraße 11 |
| Nach 1945: Synagoge Lutherstraße 2/1, ab 1946
Landgraf-Philipp-Straße, ab Mai 1950 Schulstraße 7 |
| 1988-2005: Pilgrimstein 25: neuer Betsaal |
| seit 26.11.2005: neue Synagoge in der Liebigstraße 21
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Fotos / Pläne / Abbildungen
Die ersten Pläne für die Synagoge
(Quelle: H.-P. Schwarz s.Lit. S. 249) |
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Architekt Wilhelm
Spahr zeichnete im Februar 1895 diese Pläne mit einer orientalischen
Kuppel,
die nicht verwirklicht wurde. Ende 1895 legte er neue Pläne vor,
nach denen dann der
Bau 1896/97 erstellt wurde. |
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Außenansichten der 1897 erbauten Synagoge
(Quelle: rechts aus H. Hammer-Schenk, Synagogen Bd. 2
Abb. 273) |
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Lage der Synagoge an der
Universitätsstraße |
Die 1897 an der
Universitätsstraße eingeweihte Synagoge |
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Die Zerstörung der Synagoge |
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Die brennende Synagoge beim
Novemberpogrom 1938 |
Die Synagogenruine
im November
1938 |
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Die
Gedenkstätte an der Universitätsstraße
(Fotos: Hahn, Aufnahmedatum 25.3.2008) |
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Berichte
zur Neugestaltung des Synagogenplatzes seit den Ausgrabungen 2008 sowie weitere
Berichte zur Erinnerungsarbeit in Marburg
Sommer 2008 - Die Fundamente der Synagoge
werden freigelegt
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Artikel
in der "Oberhessischen Presse" vom 14. Juli 2008 (nur Anfang
des Artikels wird zitiert): "Arbeiter legen Fundamente der früheren Synagoge frei.
Marburg. Bereits wenige Stunden nach dem Start der Ausgrabung auf dem Gelände der ehemaligen Synagoge stießen die Arbeiter auf die ersten Mauerreste.
von Manfred Hitzeroth.
'Die Vermessungen waren so genau, dass bereits die ersten Grundmauern gefunden
worden', freute sich Oberbürgermeister Egon Vaupel (SPD) gestern beim Ortstermin auf dem Grundstück der 1938 von den Nationalsozialisten abgebrannten Marburger Synagoge. Das Team unter der Projektleitung
des ehemaligen Marburger Baudirektors Elmar Brohl präsentierte bereits wenige Stunden nach dem Start der Ausgrabungen erste Ergebnisse.
'Wir haben die Überreste eines Wasserbehälters gefunden, der die beiden Ritualbäder
speiste', berichtete Brohl. Zudem wurde auch bereits ein Treppenabgang freigelegt, der in der Keller der früheren Synagoge führte." |
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Artikel vom 19. Juli 2008 aus www.pr-inside.com:
70 Jahre nach der Zerstörung der Marburger Synagoge soll das Gelände neu gestaltet werden
- Archäologen graben Mikwe aus.
Seit einer Woche graben Archäologen auf dem Gelände am Fuß der Marburger Oberstadt, wo einst die Synagoge der Stadt stand. Die
Mikwe, das rituelle Tauchbad für jüdische Frauen, haben sie bereits entdeckt.
'Man sieht eindrücklich, wie überstürzt die Synagoge vor
70 Jahren verlassen wurde', sagt die stellvertretende Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Marburgs, Monika
Bunk..." |
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Presseinformation der Stadt
Marburg (Quelle) vom 23.
Juli 2008:
Auf dem Grundstück der 1938 niedergebrannten Synagoge in der Universitätsstraße wurden im Rahmen archäologischer Untersuchungen erfreulicherweise unter anderem gut erhaltene Reste der Mikwe mit dem Tauchbad freigelegt.
Auch der Wasserspeicher für das Tauchbad, welches mit Regenwasser vom Synagogendach gespeist wurde, ist sichtbar.
Möglicherweise wird auch der Grundstein in einem weiteren Grabungsabschnitt freigelegt werden können.
Da sich dieser Bereich der ehemaligen Apsis auf dem angrenzenden heutigen Universitätsparkplatz befindet, wurden, so Bürgermeister Dr. Franz Kahle, bereits Kontakte mit der Universität aufgenommen.
Der Haupt -und Finanzausschuss hatte einer außerplanmäßigen Ausgabe in Höhe von 30.000 Euro für die archäologischen Voruntersuchungen am 27. Mai zugestimmt.
In der Folge der aktuellen Grabungen wird über über eine Umgestaltung der Synagogengedenkstätte nachgedacht.
Die Ausgrabungen werden zunächst nach der Sicherung der bisherigen Ausgrabungsteile beendet.
Zum Hintergrund: Am 15. September 1897 weihte die Jüdische Gemeinde in Marburg ihre neue Synagoge in der Universitätsstraße ein.
In der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 ging diese Synagoge in Flammen auf. Brandstifter waren Marburger Bürger in der nationalsozialistischen Zeit.
Am 10. November 1963 wurde auf dem Grundstück an der Universitätsstraße feierlich ein Gedenkstein enthüllt, der uns an die zerstörte Synagoge, die einmal an dieser Stelle gestanden hat, erinnert.
Nunmehr werden unter Federführung des früheren Baudirektors Elmar Brohl, des Freien Instituts für Bauforschung und Dokumentation und unter Einsatz von ABM Kräften und dem Dienstleistungsbetrieb der Stadt Marburg mit den Grabungen/archäologischen Voruntersuchungen durchgeführt.
Darüber hinaus ist vorgesehen, die Funde im Rahmen des Tages des offenen Denkmals am 14. September 2008 vorzustellen.
Der Tag des offenen Denkmals 2008 steht unter dem Motto "Vergangenheit aufgedeckt - Archäologie und Bauforschung". |
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Stand der Grabungen Anfang
August 2008
(Fotos: Regine Joos) |
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Blick vom Parkplatz der
Universität |
Gedenkstein von
1963, dahinter die Ausgrabungen |
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Reste der ehemaligen Mikwe |
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Stand der Grabungen
Anfang November 2008
(Fotos: Tom Held, Aufnahmedatum 9.11.2008) |
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Blick über das ehemalige
Synagogengrundstück |
Der Gedenkstein von 1963 |
Reste der Umfassungsmauer der
Synagoge |
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Ausgrabungen des
rituelles Bades / der Mikwe |
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November
2009: Der Synagogenplatz soll neu
gestaltet werden |
Pressemitteilung (epd-Hessen)
vom 3. November 2009 (Artikel):
"Stadt Marburg gestaltet Synagogenplatz um.
Marburg (epd). Die Stadt Marburg gestaltet den Platz der ehemaligen Synagoge in der Universitätsstraße zu einer Gedenkstätte um. Dafür werde ein Konzept eines Düsseldorfer Landschaftsarchitektenbüros umgesetzt, sagte Bernd Nützel vom Fachdienst Stadtplanung am 30. Oktober in Marburg dem
epd..." |
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Juli
2010: Zum
Stand der Arbeiten am Synagogenplatz |
Artikel in
der "Hessischen Allgemeinen" vom 28. Juli 2010: (Artikel):
"Vorarbeiten zur Errichtung einer Gedenkstätte -
Suche nach den Resten der Synagoge.
Marburg. Auf dem Gelände der ehemaligen Synagoge in der Universitätsstadt Marburg wird jetzt gegraben. In Vorbereitung auf die im kommenden Jahr geplante Errichtung einer Gedenkstätte lässt die Stadt mit einem sogenannten Probeschürfen feststellen, in welcher Tiefe sich im westlichen Teil noch Mauerreste befinden..." |
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September
2011: Zum Stand der Arbeiten am
"Garten des Gedenkens" - Abschluss im November 2012
geplant |
Artikel in der "Gießener Allgemeinen" vom 21. September 2011 (Artikel):
"'Garten des Gedenkens' auf Synagogengrundstück
Marburg (pm). Die Arbeiten am 'Garten des Gedenkens' auf dem ehemaligen Synagogengrundstück in der Universitätsstraße haben begonnen. Das teilte die Stadt mit. Im September 2008 wurden archäologische Untersuchungen auf dem Gelände der ehemaligen Synagoge in der Universitätsstraße durchgeführt. Dabei wurde festgestellt, dass nach der Zerstörung 1938, dem Abbruch der Baureste 1938/39 und der Umgestaltung im Jahr 1963 noch Original-Bausubstanz im Boden erhalten geblieben ist..."
Jüdisches Leben würdigen. Die Universitätsstadt und die Jüdische Gemeinde haben sich
darauf verständigt, auf dem Grundstück eine neue Gedenkstätte zu errichten, mit der über die Architektur des Synagogenbauwerks und die geschichtlichen Geschehnisse an diesem Ort informiert werden soll. Sie soll den Platz als früheren Ort jüdischen religiösen Lebens würdigen und als einladende Aufenthaltsfläche für die Öffentlichkeit dienen.
In diesen Tagen wurde mit den Arbeiten an dem »Garten des Gedenkens«, wie dieser Platz heißen wird, begonnen. Zunächst wird unterhalb der aus der Zeit zwischen 1180 und 1200 stammenden Stadtmauer eine Hangsicherung in Form einer Stützmauer vorgenommen. Danach sollen die bisher noch nicht archäologisch erkundeten Flächen auf dem Areal untersucht werden. Identisch mit den Grundrissen der ehemaligen Synagoge soll anschließend eine Rasenfläche den Standort andeuten.
Die Gesamtarbeiten des auf 900 000 Euro veranschlagten Projektes sollen nach der Bauplanung rechtzeitig zum Gedenktag am 9. November im kommenden Jahr abgeschlossen sein, heißt es in der Pressemitteilung. 1892 erwarb die Jüdische Gemeinde das Grundstück, auf dem nach Plänen des Architekten Wilhelm Spahr in der Zeit von 1895 bis 1897 die Synagoge errichtet wurde. In der Reichspogromnacht vom 9. November 1938 wurde sie vernichtet. Das Gebäude wurde bis etwa 50 Zentimeter unter der Bodenplatte abgetragen und als einfache Grünfläche hergerichtet. 1963 erfolgte erstmalig eine öffentliche Diskussion um die Geschichte dieses Platzes, woraufhin
ein Gedenkstein aufgestellt und Grünflächen neu angelegt wurden,
informierte die Stadt." |
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September
2011: Weitere
"Stolpersteine"-Verlegungen in Marburg |
Artikel von Heiko
Krause in der "Oberhessischen Presse" vom 29. September 2011:
"Zehn 'Stolpersteine' im Nordviertel. Seit 1998 hat der
Künstler Gunter Demnig mehrere tausend 'Stolpersteine' vor ehemaligen Wohnsitzen
von Opfern des Nationalsozialismus gesetzt. In Marburg waren es bisher 49,
am Donnerstag kamen im Nordviertel weitere zehn Steine dazu..."
Link
zum Artikel. |
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August
2013: Weitere "Stolpersteine"-Verlegungen
in Marburg - inzwischen liegen in der Stadt 69
"Stolpersteine" |
Artikel von
Matthias Weber in der "Oberhessischen Presse" vom 25. August
2013: "Steine gegen das Vergessen
Neue Stolpersteine sind in Gedenken an ermordete Juden in der Stadt verlegt worden.
Marburg. Insgesamt gibt es in der Stadt 69 Stolpersteine, welche die Erinnerung an getötete Marburger Juden aufrecht erhalten sollen. Die Geschichtswerkstatt verlegt diese - um auch rund 70 Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus und der Konzentrationslager Zeichen zu setzen..."
Link
zum Artikel |
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November 2018:
Zur Aufarbeitung des
Synagogen-Brandes beim Novemberpogrom 1938 |
Artikel von Michael
Agricola in der "Oberhessischen Presse" vom 15. November 2018: "Marburg.
Synagogen-Brand 1938 Polizei war treibende Kraft bei Aufklärung
Der Synagogenbrand in Marburg vor 80 Jahren ist bis heute nicht völlig
aufgeklärt. Nach Kriegsende war die Polizei die treibende Kraft für die
juristische Aufarbeitung. Mehrere Männer wurden verurteilt. Als sich in der
Nacht zum 10. November 1938 einige Männer des SA-Reservesturms III in Zivil
gekleidet aufmachen, den Befehl später nicht mehr ausfindig zu machender
SS-Funktionäre aus Kassel auszuführen, können sie sich sicher sein, dass
ihnen daraus kein Nachteil entstehen wird. Es ist die Reichspogromnacht, in
der sich im ganzen Deutschen Reich angeblich spontan der 'Volkszorn' gegen
die Juden entfesselt. Synagogen brennen, Geschäfte werden geplündert und
zerstört, tausende Juden angegriffen, verhaftet, ermordet. Offizieller
Anlass für die Pogrome war das Attentat an einem Diplomaten, dem
Gesandtschaftsrat Ernst Eduard vom Rath in Paris durch den Juden Herschel
Grynszpan am 7. November 1938.
Doch der 'Volkszorn' in den folgenden Nächten ist generalstabsmäßig geplant,
vorbereitet und gesteuert, inklusive der Hinweise an Polizei, nur
Plünderungen zu verhindern, sich sonst aber zurückzuhalten. Auch in der
Marburger Universitätsstraße war die Brandstiftung keine spontane Tat –
selbst wenn die gleichgeschaltete Oberhessische Zeitung, ein Vorläufer der
OP, damals die Mär vom spontanen Wutausbruch der Bürger bereitwillig
weiterverbreitete (siehe unten kursiver Text).
Aufklärung erst nach Kriegsende. Die Ermittlungen gegen Unbekannt
direkt nach der Tat wurden schnell eingestellt. Die Nazijustiz hatte aus
naheliegenden Gründen kein Interesse an der Bestrafung der Täter. Wie es
wirklich war, haben Gerichte erst nach dem Ende des '1000-jährigen Reichs'
festzustellen versucht. Doch sie konnten nach Kriegsende nur mit dem
arbeiten, was noch zu ermitteln war. Weitreichende Geständnisse von
Beschuldigten waren Fehlanzeige. Viele Zeugen und Beschuldigte erinnerten
sich viele Jahre nach der Nacht nicht mehr, stritten ihre Beteiligung ab
oder belasteten andere. Das lässt sich heute aus den Akten herauslesen, die
im Hessischen Staatsarchiv in Marburg lagern. Erschwert wurde die
juristische Arbeit dadurch, dass einige der möglichen Täter oder Mittäter
noch in Kriegsgefangenschaft waren und bei den ersten Prozessen noch nicht
zur Sache befragt werden konnten. Und so ergeben die Ermittlungsunterlagen
und Prozessprotokolle bis heute kein ganz klares Bild über Tat und Täter.
Mehrere Strafkammern des Marburger Landgerichts beschäftigten sich zwischen
1947 und 1952 mit der Frage nach den Brandstiftern.
Einer der Täter hatte sich durch seine Prahlerei verraten. Die
Ergebnisse wirken aus heutiger Sicht nicht zufriedenstellend. Von den fünf
Angeklagten im ersten Prozess wurden im November 1947 zwei Männer
freigesprochen. Der SA-Sturmführer Hans Steih als Rädelsführer wurde
zunächst wegen vorsätzlicher Brandstiftung in Tateinheit mit Land- und
Hausfriedensbruch zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt, die Mitangeklagten
Friedrich Groos und Paul Piscator als Mittäter zu einem Jahr und sechs
Monaten beziehungsweise einem Jahr. Steih hatte als Führer seines
Reservesturms den Befehl seines Vorgesetzten Stollberg angenommen und mit
seinen Männern das Vorgehen in der Nacht zum 10. November geplant und
schließlich umgesetzt. Außerdem belastete ihn seine spätere Prahlerei
gegenüber Zeugen darüber, dass er die Streichholzschachtel noch bei sich
führe, mit der er die Synagoge angezündet habe. Andere Zeugenaussagen legten
nahe, dass er zu diesem Zeitpunkt vor allem die Lorbeeren für die Tat selbst
einsammeln wollte. Er behauptete später, dass er erst auf das Gelände der
Synagoge gelangt sei, als das Gebäude schon brannte.
Was geschah in dieser Nacht? Bereits im Laufe des 8. November 1938
waren von unbekannten Tätern die Fenster der Marburger Synagoge eingeworfen
worden. Am Morgen des 9. November 1938 bekam der damalige Standartenführer
Stollberg von SS-Leuten aus Kassel den Befehl, die Synagoge in Brand zu
setzen. Sie ließen demnach erkennen, dass die Synagoge in jedem Fall, also
auch ohne seine Mitwirkung, zerstört werden würde. Am Abend des 9. November
fand zunächst eine Gedenkfeier zum Hitlerputsch im Jahr 1923 statt,
anschließend versammelte sich der SA-Reservesturm III mit dem Sturmführer
Steih im Fronhof, es kamen auch noch Angehörige anderer SA-Stürme dazu. Nach
Mitternacht erschien Stollberg im Fronhof und beauftragte Steih mit der Tat.
Der beriet sich mit Freiwilligen in einem Nebenzimmer der Gaststätte, es
soll auch Fußbodenöl aus dem benachbarten Landgrafenhaus als
Brandbeschleuniger herbeigeschafft worden sein. Steih und Groos erkundeten,
wie man am besten an die Synagoge herankommen könnte. Die Täter drangen
schließlich in Zivil von der Westseite her in die Synagoge ein. Die Synagoge
brannte gegen 4 Uhr, SA-Leute und Polizei sicherten im Anschluss den
Brandort ab, die Feuerwehr wurde erst gegen 6 Uhr alarmiert und beschränkte
sich darauf, die Nachbarhäuser zu schützen, während die Synagoge völlig
ausbrannte.
Steih und Piscator griffen das Urteil an – anders als Groos, der so
letztlich als einziger wegen aktiven Inbrandsetzens rechtskräftig verurteilt
wurde. Piscator wurde in der Berufungsinstanz vom Vorwurf der schweren
Brandstiftung freigesprochen, ihm blieben sechs Monate Haftstrafe. Steih
erwirkte 1952 in einem Wiederaufnahmeverfahren eine Verringerung der Strafe
auf ein Jahr und neun Monate wegen Aufforderung zur schweren Brandstiftung,
Land- und Hausfriedensbruchs. Nach Ansicht des Gerichts war ihm – auch im
Lichte neuer Zeugenaussagen – die aktive Brandstiftung nicht nachzuweisen.
Der in der Hierarchie über Steih stehende Befehlsgeber, SA-Brigadeführer
Stollberg, wurde nach seiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft wegen
Anstiftung zum schweren Landfriedensbruch in Tateinheit mit Aufforderung zur
schweren Brandstiftung zu einem Jahr und sechs Monaten Gefängnis verurteilt.
Die beiden namentlich unbekannten Befehlsgeber in SS-Uniform aus Kassel, von
denen Stollberg den Auftrag erhalten haben wollte, blieben unbehelligt.
Ungeklärt blieb auch die Rolle von Mitgliedern des SA-Sturms IV, der sich am
Abend und zur Tatzeit ebenfalls in der Nähe aufhielt.
Ermittlungen wurden schnell aufgenommen. Doch es gibt auch offene
Fragen abseits der eigentlichen Tat. Denn nur wenige Tage nach der
kampflosen Übergabe der Stadt an die amerikanischen Truppen am 28. März 1945
wurden bei der Marburger Kriminalpolizei erstaunlicherweise die 1938 – eilig
mit dem Bemerken 'Täter nicht zu ermitteln' – ad acta gelegten Ermittlungen
gegen Unbekannt wieder aufgenommen. Wer oder was trieb die Beamten dazu? In
einer chaotischen Zeit, als es noch eher darum ging, die Ordnung
wiederherzustellen, die Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen und die
Kraft in den Neuaufbau einer unbelasteten Polizei und Verwaltung fließen zu
lassen, kümmerte sich die Polizei um ein sieben Jahre zurückliegendes
Verbrechen. Irgendwen in der Marburger Polizei ließ das ungesühnte
Verbrechen offenbar nicht ruhen. In den Akten der Strafprozesse in dieser
Sache findet sich keine Erklärung für diesen Befund, wohl aber der Beweis
für die wiederaufgenommenen Ermittlungen – deutlich bevor ein halbes Jahr
später der Auftrag vonseiten der Staatsanwaltschaft erteilt wurde. So gaben
die Zeugen Paul Penzler und Hans Schneider bereits mit Datum 15. April 1945
– also gut zwei Wochen nach der Besetzung Marburgs – gegenüber einem
Kripo-Beamten namens Zeckey Aussagen zu Protokoll, die den damaligen
Sturmführer Steih belasteten.
Viele offene Fragen bleiben. Auch für den Marburger Rechtshistoriker
Dr. Georg Falk war dies eine Überraschung. Er sei zuvor davon ausgegangen,
dass es der erste Leiter der Staatsanwaltschaft Marburg nach dem Krieg, der
später berühmte Adolf Arndt gewesen war, der die Ermittlungen vorangetrieben
hatte. Dieses Detail wird möglicherweise ebenso wenig aufzuklären sein wie
die noch offenen Fragen, was die Brandstiftung selbst angeht. Das Wissen
darum, wer genau das Feuer in Marburg entzündet hat, ist 80 Jahre danach
aber auch nicht mehr so wichtig wie kurz nach dem Krieg. Für Nachgeborene
taugt es gleichwohl als Mahnung – als anschaulich gewordener Baustein im
dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte – der staatlich organisierten
systematischenVernichtung jüdischen Lebens in Europa.
Im Wortlaut: 'Ein Fanal der Vergeltung'. So berichtete die
Oberhessische Zeitung am Tag nach dem Brand vom 10. November 1938 über die
Vorkommnisse: 'Als gestern in den Abendstunden die Nachricht von dem Ableben
des Gesandtschaftsrats 1. Klasse vom Rath infolge des Anschlages des
jüdischen Meuchelmörders Grünspan bekannt wurde, bemächtigte sich in unserer
Stadt aller Volksgenossen eine gewaltige Erregung. Wo man hinhörte war eine
ungeheure Empörung über den Mord festzustellen. Zumal es gerade der
Totengedenktag der Bewegung war, an dem dieser letzte Blutzeuge des
Großdeutschen Reiches sein Leben beschloss.
Da kann man verstehen, dass die erregten Volksgenossen ihrer Wut in irgend
einer Form Ausdruck geben mussten. Die Synagoge war das Opfer. Dieser Bau,
der den Mittelpunkt des jüdischen Ungeistes vorstellt, ging heute in den
frühen Morgenstunden in Flammen auf. Die Feuerwehr war in eifriger
Pflichterfüllung bemüht, das Feuer von den umliegenden Häusern fernzuhalten,
was ihr auch vollkommen gelang. Die SA, die schnell alarmiert wurde, sorgte
in Gemeinschaft mit Polizeibeamten für die Sicherheit der die
Universitätsstraße benutzenden Bevölkerung durch Absperrung der Brandstätte.
Auch bemühte sie sich, das Eigentum des in dem Kellergeschoß des
Judentempels wohnenden Volksgenossen in der gegenüberliegenden Schule in
Sicherheit zu bringen. Selbstverständlich hatte sich an der Brandstelle eine
größere Menschenmasse eingefunden, die ihrer Entrüstung über den feigen
jüdischen Mord und ihre Befriedigung über diese – verhältnismäßig
geringfügige – Vergeltungsmaßnahme zum Ausdruck brachte, sich dabei aber
vorbildlich diszipliniert verhielt. ,,Der Bau ist vollkommen ausgebrannt, so
dass nur noch die Umfassungsmauern stehen. Damit ist gleichzeitig ein
Gebäude verschwunden, das infolge seines asiatischen Stils und seiner
klobigen Gestalt unser schönes Stadtbild empfindlich verschandelte.'
zitiert nach: Günter Rehme/Konstantin Haase, 'Mit Rumpf und Stumpf
ausrotten... – Zur Geschichte der Juden in Marburg und Umgebung nach 1933'
(Marburger Stadtschriften zur Geschichte und Kultur 6), Marburg 1982."
Link zum Artikel |
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Links und Literatur
Links:
Quellen:
Literatur:
| Paul Arnsberg: Die jüdischen Gemeinden in Hessen.
Anfang - Untergang - Neubeginn. 1971 Bd. 2 S. 48-60. |
| ders.: Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Bilder -
Dokumente. |
| Germania Judaica II,2 S. 522f; III,2 S. 846-848. |
| Ole Harck: Die mittelalterliche Synagoge in Marburg.
Zur Tradition und archäologischen Überlieferung des frühen Judentums in
Mitteleuropa. Trautvetter & Fischer. Marburger Reihe 20. 2002. 40 S. mit
14 Abb. ISBN 3-87822-116-9. Euro 5,- Buchbesprechung |
| Günther Rehme/Konstantin
Haase: "... mit Rumpf und Stumpf ausrotten ..." Zur Geschichte
der Juden in Marburg und Umgebung nach 1933. (= Marburger Stadtschriften zu
Geschichte und Kultur) Marburg 1982.
|
| Harold Hammer-Schenk: Synagogen in Deutschland.
Geschichte einer Baugattung im 19. und 20. Jahrhundert. In 2 Bänden.
Hamburg 1981. |
| Hans-Peter Schwarz (Hrsg.): Die Architektur der
Synagoge. Stuttgart 1988. |
| Barbara Händler-Lachmann / Ulrich Schütt:
"unbekannt verzogen" oder "weggemacht". Schicksale der
Juden im alten Landkreis Marburg 1933-1945. Marburg 1992. |
| Barbara Händler-Lachmann / Harald Händler
/Ulrich Schütt: 'Purim, Purim, ihr liebe Leut, wißt ihr was Purim
bedeut?' - Jüdisches Leben im Landkreis Marburg im 20. Jahrhundert. Marburg
1995. |
| Barbara Händler-Lachmann/ Thomas Werther: Vergessene Geschäfte - verlorene Geschichte.
Jüdisches Wirtschaftsleben in Marburg und seine Vernichtung im Nationalsozialismus.
Marburg 1992. |
| Gudrun Westphal: Die jüdischen
Schülerinnen der ehemaligen Höheren Töchterschule, heute Elisabethschule
(1878-1938) sowie weitere Beiträge von Regina Neumann und Benno Keßler
in: Experiment
-Sonderheft 1992 (online zugänglich).
|
| Zur Geschichte der Synagoge und der jüdischen Gemeinde in
Marburg. Marburg 1992 (Marburger Stadtschriften zur Geschichte und
Kultur. Nr. 39). |
| Die Synagoge in der Universitätsstraße. Von Elmar
Brohl, Geschichtswerkstatt Marburg, Martin Kraatz, Sabine Naomi Pistor,
Katrin Rübenstrunk. Marburg 2003 (Marburger Stadtschriften zur Geschichte
und Kultur. Nr. 78). 192 S., 10.50 €. Nähere
Informationen |
|
Mein Haus solle in Bethaus für alle
Völker genannt werden. Die neue Synagoge in der Liebigstrasse. Mit
Beiträgen von Elmar Brohl, Monika Bunk, Klaus Dorn, E. Jakobus Klonk,
Adelheid Kümmel, Amnon Orbach, Jürgen Rausch und Wolfgang Schulze.
Marburger Stadtschriften Nr. 82. Marburg 2005. ISBN 3-923820-82.8. 95 S.
zahlr. Abbildungen. Nähere
Informationen |
| Wolfgang Schulze: Der Schritt vom Wege, Glashülle für die Ausgrabungsstätte der mittelalterlichen Synagoge in Marburg. Kassel 2002. |
| Die mittelalterliche Synagoge in Marburg. Von Ulrich
Klein und Cornelia Süßmuth. Marburg 2009 (Marburger Stadtschriften zur
Geschichte und Kultur. Nr. 92). ISBN 978-3-923820-92-4. 515 S., 11
Faltpläne, zahlr. Abbildungen, 25.50 €. Nähere
Informationen. |
| Monica Kingreen: Die Deportationen aus Stadt und Landkreis Marburg im September 1942 in das Ghetto Theresienstadt, in: Transport XV/1
Marburg - Theresienstadt. Reader zur Ausstellung des Instituts für europäische Ethnologie/Kulturwissenschaft der Philipps-Universität Marburg, Marburg 2003,
S. 84-93. |
Article from "The Encyclopedia of Jewish life Before and During the
Holocaust".
First published in 2001 by NEW
YORK UNIVERSITY PRESS; Copyright © 2001 by Yad
Vashem Jerusalem, Israel.
Marburg,
Hesse-Nassau. Jews had a community there in 1317, but fell victim to the Black
Death massacres of 1348-49 and were expelled before 1452. Descendants of theirs
in Italy adopted the surname Morpurgo. Readmitted in 1532, the Jews founded a
small community (numbering 80 in 1827) with a districte rabbinate (1824) and an
elementary school (1867-1940). Under Leo Munk (1876-1918), an exponent of
Neo-Orthodoxy, they dedicated a new synagogue of Byzantine design in 1897 and
numbered 512 (2 % of the total) in 1905. By that time Otto Boeckel,
founder of the antisemitic People's Party (1890), had turned Marburg and its
Lutheran university into a hotbed of racial prejudice and agitation. The
university conferred a medical degree on a Jew as early as 1758, but professing
Jews - both students and teachers - were not welcome there. Although Hermann
Cohen (1842-1918), who founded the Marburg School of neo-Kantian philosophy,
became dean of the philosophy faculty in 1886, the rectorship was denied him. In
the face of anti-Jewish hooliganism, Central Union (C.V.) and Zionist groups
increased their activities during the Weimar Republic, when the community
numbered 370 (in 1925). Avraham Halevi Fraenkel, who occupied the chair of
mathematics at the university, emigrated to Palestine and served as rector of
the Hebrew University (1938-1940). Moshe Silberg, a law graduate, settled in Tel
Aviv and became a justice of the Israel Supreme Court (1950-1970). Nazi
persecution forced leading Jewish intellectuals to emigrate and reduced the
community from 341 in 1933 to 149 in November 1938. On Kristallnacht
(9-10 November 1938), the synagogue was burned down in a pogrom. Of the
remaining Jews, 23 were deported to the Riga ghetto in 1941 and 54 to
Theresienstadt and other camps in 1942; 18 Jews housed in a local psychiatric
hospital were murdered in the Nazi "euthanasia" program in October
1940. Jewish Displaced Persons organized a postwar community, numbering 234 in
1946, and young pioneers trained at a farm established nearby. Most of the Jews
left for Israel and by 1961 the community had dwindled to 15.
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