Schatten und Abgründe
Die Sonne zeigt sich als fahle Scheibe. Sie strahlt nicht und vermag schon gar nicht, die Landschaft in helles Licht zu setzen. Aber warum wollen wir stets das Helle und Strahlende? Die Dämmerung und das Verschwimmende gehören zum Leben wie Glanz und Klarheit. Sie sind vielleicht nicht vordergründig schön.
Aber sie zeigen dem hingebungsvoll betrachtenden Auge dennoch ihren Reiz: Gerade im Gegenlicht offenbaren sich die Konturen der Pflanzen und Büsche als besonders filigran. Sie wecken das Schauen zu besonderer Intensität. Die Abstufungen in Grau. Die Linien der Horizonte. Und der Eindruck, den Nebel aus dem Wasser nach oben steigen zu sehen. Ein solcher Anblick vermag tief in die Seele einzudringen.
In diesem Dunkel-Gespenstigen liegt etwas Schönes. Etwas Beseeltes, etwas von Harmonie und Frieden. Ähnlich ist es mit der Innenwelt von uns Menschen: Wenn wir tief hineinblicken in uns selbst und dabei Schatten und Abgründe anschauen, vermag solch bewusstes Erleben zu helfen, uns mit unseren dunklen Seiten zu versöhnen und inneren Frieden zu finden.
Gerade der Herbst verlangt von uns, mit Nebel und Dunkel vertraut zu werden. Und uns damit anzufreunden. Und dies als natürlichen Teil des Ablaufs eines Jahres zu empfinden. Darum wollen Düsternis und Nebel und Kälte nicht dauerhaft von der Sehnsucht nach heiteren Tagen überlagert werden. Düsternis und Nebel und Kälte haben ein Recht, so zu sein, wie sie sind, und von uns als solche akzeptiert zu werden – so wie auch Wehmut und Melancholie und Todesahnung als Äußerungen unseres Gemüts zu ihrer Zeit ihr Recht haben.
Dies vermag letztlich in uns zu bewirken, auch Sterben und Tod zu akzeptieren und damit verbundene Angst zu überwinden. Denn der alles umfassende Gott hält auch die dunklen Aspekte von Mensch und Welt in seiner Hand. Darum dürfen wir ihm auch die düsteren Erfahrungen unseres Daseins anvertrauen. Dieter Leppla/Foto: Kunz
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des "Evangelischen Kirchenboten"