Redaktion der pilger

Mittwoch, 04. September 2024

„Alle wissen: Sie müssen standhalten“

Thomas Schwartz (60) ist Hauptgeschäftsführer von Renovabis, dem Osteuropa-Hilfswerk der deutschen Katholiken. (Foto: Renovabis/Michael Kunz)

Renovabis-Chef Thomas Schwartz über Perspektiven für die Ukraine im russischen Angriffskrieg

Das Osteuropa-Hilfswerk Renovabis gibt den Menschen in der Ukraine Hoffnung. Hauptgeschäftsführer Thomas Schwartz sagt, warum dafür mehr Spenden nötig sind und wie die Nato effektiver helfen könnte.

Was berichten Ihnen die lokalen Partnerorganisationen von Renovabis über die Stimmung in der Ukraine?
Bei vielen Menschen dort macht sich eine unglaubliche Müdigkeit und Erschöpfung breit. Die gezielten russischen Angriffe auf die Energie- und Wasserversorgung machen ihnen das Leben schwer. Zudem hat mittlerweile fast jede Familie in der Verwandtschaft Kriegstote und Verletzte zu beklagen. Die zehntausenden Kriegsversehrten haben Angst: Kann ich nach dem Krieg wieder neu anfangen – oder werde ich mein Leben lang Opfer sein? Und alle wissen: Trotz ihrer Müdigkeit und ihrer Trauer müssen sie dem Aggressor Russland standhalten. Denn die Alternative sind Sklaverei und Unterdrückung.

Was tut Renovabis gegen diese Probleme?
Wir unterstützen unsere Partnerorganisationen zum Beispiel dabei, Resilienzzentren aufzubauen – dort können Menschen Traumata bewältigen, Trauer verarbeiten und lernen, an ihre Zukunft zu glauben und sie zu gestalten. Jungen Menschen aus bedürftigen Familien, die wegen einer möglichen Einberufung zum Militär nicht ausreisen dürfen, helfen wir durch Stipendien an der Katholischen Universität in Lwiw – so können sie weiterstudieren bis zum Einzug in die Armee und haben eine Basis für die Zeit nach dem Krieg. Das ist für uns ein wichtiges Zeichen dafür, dass wir an die Zukunft dieser Menschen in der Ukraine glauben. Leider sind unsere Mittel begrenzt.

Fehlen Ihnen Spenden?
Ja, denn die Spendenmüdigkeit in Deutschland ist gewachsen. Die Menschen wollen die Bilder vom Krieg nicht mehr sehen und unterstützen unsere Initiativen nicht mehr so offenherzig wie in den ersten beiden Kriegsjahren. Manchmal würde ich am liebsten losheulen, wenn ich sehe, was alles gebraucht wird und was wir nur leisten können. Da klafft eine riesige Lücke.

Manche Menschen in Deutschland glauben, man müsse nur mit Putin verhandeln, dann gebe es Frieden. Was sagen Sie dazu?
Diese Haltung ist nachvollziehbar, aber auch sehr bequem. Natürlich sind die Bilder vom Krieg erschütternd. Aber sie verschwinden nicht, nur weil wir sie nicht sehen wollen. Klar ist: Putin und Russland würden einen gerechten Frieden nie akzeptieren. Sie wollen die nationale Identität und Kultur der Ukraine zerstören. Ich glaube, es ist wichtig, den Menschen aufzuzeigen, was das bedeutet.

Wie könnte das gehen?
Etwa, indem ich einen Bayern frage: „Willst du, dass man dir verbietet, Bayerisch zu reden? Willst du, dass du deine liebsten Wallfahrtsorte nicht mehr besuchen und die Stücke deines Heimatdichters Ludwig Thoma im Theater nicht mehr schauen darfst? Kannst du dir vorstellen, dass man dir einen Teil deiner bayerischen Seele raubt?“ Natürlich sehnt sich jeder nach Frieden, die Menschen in der Ukraine erst recht. Die wollen nicht kämpfen. Die wollen ihr Leben, wie sie es vor dem Krieg hatten, einfach zurückhaben und weiterleben. Aber sie wissen, wie schrecklich die Folgen wären, wenn sie Putin gäben, was er will.

Dennoch fragen viele: Wie kann ein Weg zum Frieden aussehen? Haben Sie da eine Idee?
Tja, wenn ich die hätte! Ich kann nur sagen: Das Nato-Bündnis hat uns in Europa über Jahrzehnte vor Krieg geschützt. Deshalb wäre es durchaus eine Überlegung wert, die Ukraine in die Nato aufzunehmen. Man könnte den Bündnisschutz zunächst auf die Gebiete beschränken, die die Ukraine kontrolliert.

Was wäre mit den von Russland besetzten Gebieten?
Den Anspruch auf die besetzten Gebiete müsste die Ukraine natürlich nicht aufgeben. Aber sie erst einmal aus dem Bündnisschutz herauszunehmen, würde Putin helfen, nicht das Gesicht zu verlieren. Der Aggressor müsste dann überlegen, ob er sich wirklich traut, die Nato anzugreifen.

Jeder weitere russische Angriff auf die Ukraine würde in diesem Szenario den Nato-Bündnisfall auslösen. Wäre das nicht ein gewaltiges Risiko?
Ja, das wäre ein gewaltiges Risiko – aber nicht für die Nato, sondern für Russland. Denn die Nato ist deutlich stärker als Russland. Putin fürchtet sich vor einer Auseinandersetzung mit der Nato, deshalb droht er ständig mit einem Atomkrieg. Dieses Narrativ macht vielen Angst. Aber jeder Militärstratege, der Ahnung hat, sagt: So weit geht Putin nicht. Denn er braucht China, und China ist gegen eine Eskalation. Außerdem gäbe es bei einem Atomkrieg kein Russland mehr, und das will Putin nicht – er will ja ein Imperium aufbauen. Aber: Sich über all dies Gedanken zu machen, ist nicht Aufgabe von Renovabis. Wir sind genug gefordert, den Menschen in der Ukraine über unser Partner-Netz zu helfen.

Was gibt Ihnen Hoffnung für die Ukraine?
Die Menschen dort, mit ihrer Standfestigkeit und ihrem Mut. Einmal habe ich eine 24-jährige Witwe getroffen, ihren kleinen Sohn auf dem Schoß. Sie hat mir gesagt: „Oleskandr hat seinen Vater nie kennengelernt. Aber ich erzählte ihm: Dein Vater ist dafür gestorben, dass du hier in diesem Land groß und stark werden kannst – und dass du hier eine Zukunft hast.“ Da bekam ich Gänsehaut, mir kamen die Tränen. Und da wusste ich, warum ich das alles mache.

Das Gespräch führte Andreas Lesch.

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