Donnerstag, 07. April 2011
Ein Weckruf zu neuem Leben
Worauf es beim Aufbruch entscheidend ankommt. Gedanken von Professor i.R. Hans Kirsch zum sonntäglichen Bibeltext des Johannes-Evangeliums (Verse 11, 3–7. 17. 20–27. 33b–45).
Einen kleinen, unscheinbaren, wie beiläufig eingefügten Satz benutze ich als Schlüssel zum Evangelium von der Auferweckung des Lazarus: „Jesus war im Innersten erregt und erschüttert.“ Worüber? Schon im Evangelium wird das missverstanden. Die einen hielten es für einen ehrlichen Ausdruck seiner tiefen Trauer um den verstorbenen Lazarus. „Einige aber ...“ Der Evangelist deutet nur an, dass einige diese Erregung wohl nicht für angemessen halten, schließlich hätte doch Jesus mit seiner Wundermacht verhindern können, dass Lazarus stirbt. Johannes benutzt in seinem Evangelium häufig solche Zweideutigkeiten – ein Stilmittel, um die Leser zum Nachdenken zu bringen und ganz klar zu machen, worum es wirklich geht.
Sicher trauert Jesus um den toten Lazarus – wer auch immer im Laufe der Kirchengeschichte damit gemeint sein mag. Aber letztlich geht es nicht um diese Trauer; seine Erschütterung bezieht sich auf etwas anderes: Selbst seine nächsten Vertrauten hatten Jesus so kurz vor seinem Tod immer noch nicht verstanden. Das erregte ihn im Innersten, deswegen „schnaubte er im Geist jäh auf und geriet durcheinander“, wie es in einer urtextnahen Übersetzung heißt.
„Ich bin die Auferstehung und das Leben, wer an mich glaubt, wird leben“, lautet die Kernbotschaft. Ob wir heute dies hinreichend begriffen haben? Jesus klärt schon bei Marta das Missverständnis auf, damit sei nur „die Auferstehung am Letzten Tag“ gemeint. Bei der Auferweckung des Lazarus geht um das Jetzt, um das Auferstehen zum Leben schon in dieser Welt.
Mit „großer Stimme“, wie es im griechischen Urtext heißt, ruft Jesus ins Grab: „Lazarus, komm heraus!“ Es ist eine große, eine wirkmächtige Stimme, die so ruft. „Da kam der Verstorbene heraus.“ Jesus ordnet an, ihm die Binden lösen und ihn weggehen zu lassen. Wohin? Ins tägliche, unauffällige Leben. Der Evangelist erwähnt ihn später noch zweimal.
Diese Lazaruserzählung ruft dazu auf, nachzufragen, was bei uns krank ist, was im argen liegt, schläft oder schon abgestorben ist und nach Verwesung riecht. Ihr Weckruf lautet: Kommt heraus aus euren Gräbern! Nehmt die Binden von den Augen und die Bretter von der Stirn, die kein neues Denken zulassen! Nehmt die Fesseln von den Händen und Füßen, die das Gehen in die Aufgaben unserer Zeit erschweren! Werft den hinderlichen Ballast der Jahrhunderte ab! Kommt heraus aus den vermeintlichen Sicherheiten, aus Ritualen, die nicht mehr verstanden werden, aus Befehls- und Gehorsamsstrukturen, die kreatives Engagement töten. Nur eines ist wirklich wichtig: der Glaube an Jesus.
Dieser Glaube besteht aber darin, eigenes Denken und Tun am Denken und Tun des historischen Jesus auszurichten, in und mit seinem Geist zu leben. „Ich hauche euch meinen Geist ein, dann werdet ihr lebendig. Ich öffne eure Gräber und hole euch herauf. Ich bringe euch zurück in das Land Israel“, lässt der Herr durch Ezechiel den in babylonischer Gefangenschaft Sitzenden verkünden. Diese Zusage gilt auch für unsere „babylonischen Gefangenschaften“, für unsere Zeit, in der das Überleben der gesamten Menschheit bedroht ist.
E-Mail: hans.kirsch@gmx.net