Redaktion der pilger

Donnerstag, 19. Dezember 2024

„Aus Isais Baumstumpf wächst ein Reis hervor“

Detail des Fensters „Wurzel Jesse“ von Valentin Feuerstein (1917 bis 1999) in der Nardini-Kapelle des Pastoralseminars St. German Speyer. Foto: der pilger/Thorsten Wolff

Der Speyerer Bischof Dr. Karl-Heinz Wiesemann zum Weihnachtsfest 2024

Vor 425 Jahren wurde im „Speyerer Gesangbuch“ erstmals das Weihnachtslied „Es ist ein Ros entsprungen“ abgedruckt. Angesichts der Verunsicherungen und Ängste der Menschen im 16. Jahrhundert, ausgelöst durch gravierende Umbrüche in Kirche und Gesellschaft, erinnerte sich ein unbekannter Dichter aufs Neue an die berührende und Trost schenkende Vision des Propheten Jesaja: „Doch aus dem Baumstumpf Isais wächst ein Reis hervor“ (Jes 11,1) und übertrug sie in die Sprache seiner Zeit.
Auch Jesaja hat seine Vision niedergeschrieben in einer Zeit, in der das Volk Israel aufgrund der Exilserfahrung in Babylon in seinen Grundüberzeugungen zutiefst erschüttert war. Seither gehört sein Bild des neuen Triebs an einem toten Baumstumpf zu den großen Hoffnungsbildern der Menschheit. Bis heute schenken seine Worte Zuversicht, weil sie durchdrungen sind vom unerschütterlichen Glauben, dass Gott „an jenem Tag“ (Jes 11,10) alles neu und heil machen wird.

In Krisenzeiten: Nach vorne hoffen oder nach hinten denken?
Auch unsere Welt ist von gewaltigen Krisen und Umbrüchen geprägt – von Kriegen und Gewalt; von himmelschreienden sozialen Ungerechtigkeiten; vom Klimawandel und seinen immer sichtbareren Konsequenzen. Doch anders als Jesaja reagieren heute viele Menschen darauf nicht mit der Hoffnung auf eine bessere, von Gott her offene Zukunft. Sondern mit dem Rückzug in eine nostalgisch verklärte Vergangenheit. Der bekannte polnisch-britische Soziologe Zygmunt Bauman hat hierfür den Begriff „Retrotopia“ geprägt – im Gegensatz zu den „Utopien“ des 16./17. Jahrhunderts: jenen Gesellschaftsentwürfen, mit denen die großen Denker jener Zeit, z.B. Thomas Morus, ihrem Willen zur Gestaltung einer neuen, idealen Welt Ausdruck verliehen haben.
In der Tat setzen immer mehr Menschen ihre Hoffnung nicht in ein neues Morgen, sondern in die Rückkehr an das wärmende Stammesfeuer vergangener Zeiten. Wahlkampf-
slogans wie „Make America great again“ zeigen, dass sie ihre Kraft und Identität nicht aus der Idee einer besseren Zukunft nehmen, sondern aus der Flucht in eine verloren geglaubte und idealisierte Vergangenheit. Damit einher geht die Tendenz, sich nationalistisch oder wirtschaftlich abzugrenzen und eigene Interessen mit Gewalt durchzusetzen.
Dies alles zeigt sich im weltweiten Erstarken extremistischer Positionen. Mit ihrer Rückwärtsgewandtheit setzen sie in gefährlicher Weise die Errungenschaften der von Dialog und Demokratie, von Frieden und Freiheit geprägten Nachkriegsordnung Europas aufs Spiel, die aus den visionären Versöhnungsideen christlicher Politiker erwachsen ist. Hier hingegen gilt der fundamentale, unantastbare Wert der Menschenwürde nicht in gleicher Weise für alle Menschen. Durch Ausgrenzung und Spaltung der Gesellschaft schüren sie Ressentiments und bringen Unfrieden in das Zusammenleben.
All solchen „retrotopischen“ Versuchungen gegenüber ist Weihnachten das Fest des unerschütterlichen Vertrauens in die Zukunft – in Gott, der auch aus einem scheinbar toten Baumstumpf ein neues Reis hervorbrechen lässt. Der „mitten im kalten Winter“ ein „Blümlein“ als Zeichen neues Lebens zum Blühen bringt, das „mit seinem hellen Scheine“ die Finsternis vertreibt. Deshalb bleibt unser Blick an Weihnachten auch nicht beim Anblick der Krippe, bei der Erinnerung an die Geburt Jesu vor 2 000 Jahren stehen. Sondern er geht sogleich nach vorne, in die Zukunft, dem wiederkommenden Christus entgegen. Er allein „hilft uns aus allem Leide, rettet von Sünd und Tod“.
„Lasst uns dem Leben trauen, weil Gott es mit uns lebt“ – dieser Satz des von den Nazis hingerichteten Jesuiten Alfred Delp bringt für mich die Botschaft von Weihnachten auf den entscheidenden Punkt. Er schrieb dieses Wort auf im Angesicht seiner Verurteilung zum Tod. Ähnlich berührend dichtet der evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer im Wissen um seine bevorstehende Ermordung: „Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag. Gott ist bei uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag.“ Diese Christen wussten sehr genau um die dramatische Lage ihrer Zeit und um das, was ihnen bevorstand. Ihr Denken war von keinerlei Spielart von Wirklichkeitsverweigerung geprägt, wie sie heute nicht selten anzutreffen ist. Im Gegenteil: Ihre Worte zeugen von einer unglaublichen inneren Freiheit und Souveränität allen sich aufspielenden Mächten der Welt gegenüber.
Vom Lebenszeugnis dieser Freiheit ist vor 75 Jahren unser Grundgesetz zutiefst geprägt worden. Sie ist das Fundament, auf dem unser ganzes Zusammenleben gegründet ist.

Weihnachten – keine Nostalgie, sondern neue Wirklichkeit
Weil Gott an Weihnachten Mensch geworden ist, weil er sich selbst zum Anwalt des Humanen in dieser Welt gemacht hat, können Menschen Mut finden, sich gegen alle zerstörerischen, menschenverachtenden Mächte in der Welt mit ganzer Kraft zu wenden, verlieren Menschen nicht das Vertrauen in die Zukunft und in die Vision von Gerechtigkeit und Frieden, von einem menschenwürdigen Leben für alle in dieser Welt. Denn sie wissen, dass Gott in seinem endgültigen Kommen das vollenden wird, was er an Weihnachten irreversibel begonnen hat: dass ein „neuer Himmel und eine neue Erde“ (Offb 21,1) entstehen, die „Schwerter zu Pflugscharen“ umgeschmiedet werden und das Leben vom ersten Anfang an seine unantastbare Würde zurückerhält. In dieser Perspektive ist Weihnachten alles andere als ein rein nostalgisches Fest. Es ist der mögliche Beginn dieser neuen Wirklichkeit in einem jeden und einer jeden von uns.
Ihnen und Ihren Familien wünsche ich von Herzen ein friedliches, von Freude und Zuversicht erfülltes Weihnachtsfest und Gottes Segen für das neue Jahr 2025!
 + Karl-Heinz Wiesemann, Bischof von Speyer

Artikel teilen:

Weitere Nachrichten

19.03.24
Redaktion der pilger

Nicht wirklich fair

DBK-Missbrauchsbeauftragter beklagt Umgang mit katholischer Kirche
19.03.24
Redaktion der pilger

Grundlage für Evaluierung

Homburg: Haupt- und Ehrenamtliche wurden zum neuen Leitungsmodell befragt
15.03.24
Redaktion der pilger

Den Glauben wiederfinden: So ist es schrittweise möglich

Entweder glaubt man an ihn oder nicht - die Rede ist von Gott. Immer mehr Menschen...
15.03.24
Redaktion der pilger

Festlicher Auftakt ins Jubiläumsjahr

Die Katholische Vereinskapelle Enkenbach (KVK) feiert in diesem Jahr ihr...
13.03.24
Redaktion der pilger

Einblicke in die Situation Palästinas

Die Friedensaktivistin Nabila Espanioly kam auf Einladung des KDFB nach Speyer
13.03.24
Redaktion der pilger

Passionskrippe in St. Michael

Eine „Ernste Krippe“ von Krippenbaumeister Trescher ist in Maudach zu sehen
13.03.24
Redaktion der pilger
News-Feed (RSS) von der Zeitungsseite in die Webfamilie

Strampeln für Misereor und Menschenrechte

Christoph Fuhrbach, Theologe, Weltkirchereferent des Bistums Speyer und...
11.03.24
Redaktion der pilger

Durch den Bienwald

43. Hungermarsch in Hagenbach: 300 laufen zugunsten von Projekten in Indien
11.03.24
Redaktion der pilger

„Schön und traurig“

Der „Letzte Hilfe Kurs“ und das kleine Einmaleins der Sterbebegleitung
11.03.24
Redaktion der pilger
News-Feed (RSS) von der Zeitungsseite in die Webfamilie

„Menschen werden oft schwer verwundet“

Inge Tempelmann hat ein Buch über „geistlichen Missbrauch“ geschrieben – Am 20....
11.03.24
Redaktion der pilger

Nie wieder! Auch heute nicht!

Der Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora über...
11.03.24
Redaktion der pilger

Erwarte das Unerwartete

Wir können uns jederzeit auf Gott verlassen
05.03.24
Redaktion der pilger

Die Pfalz – ein Traum in Rosa

Die Mandelblüte im Frühling ist jedes Jahr wieder ein besonderes Erlebnis
05.03.24
Redaktion der pilger

Ein Raum für das Beten

Aus für Hektik und lärmende Geschäftigkeit
05.03.24
Redaktion der pilger

Auf den Spuren der Mönche

Zwölf Kilometer lange wanderung mit herrlichen ausblicken
05.03.24
Redaktion der pilger

Seine Schäfchen ins Trockene bringen

Sprichwörter aus der Heiligen Schrift
24.02.24
Redaktion der pilger

„Wir taufen mündige Menschen“

Sie selbst bezeichneten sich als Täufer. Die, die sie einst verfolgt und umgebracht...
24.02.24
Redaktion der pilger

Schokolade ist eine alte Fastenspeise

Lecker, genussreich, stimmungsaufhellend ist sie – und einst sogar von einem Papst...
24.02.24
Redaktion der pilger

Die Erde ist einfach zu langsam

Die Erde ist zu langsam. Sie schafft es einfach nicht, in 365 Tagen die Sonne zu...
22.02.24
Redaktion der pilger

Gebet für den Frieden, Wort zu zwei Jahren Krieg

Ökumenisches Wort zum zweiten Jahrestag des Ukrainekriegs von Kirchenpräsidentin...
21.02.24
Redaktion der pilger

Online-Gottesdienst zum Weltgebetstag

Aufzeichnung fand in der Kirche St. Bernhard in Neustadt statt – Ab 1. März auf...
19.02.24
Redaktion der pilger

Jazz vom Feinsten für Kenia

Am 6. März heißt es in der Stadthalle Germersheim zum 12. Mal „Jazz für Afrika“
19.02.24
Redaktion der pilger

Eine dramatische Entwicklung

Caritasverband berichtet von großen Herausforderungen bei stationärer Pflege
19.02.24
Redaktion der pilger

Der Weg der katholischen Kirche

Kolpingfamilie Pfingstweide lädt in der Fastenzeit zu einer Vortragsreihe ein
16.02.24
Redaktion der pilger

Holt euch die Fastenfreude zurück!

Die Fastenzeit scheint den wenigsten Spaß zu machen. Warum eigentlich? Und wie...
16.02.24
Redaktion der pilger

Gott ist Freund der Zukunft

Fastenhirtenwort von Bischof Wiesemann am 17. und 18. Februar
16.02.24
Redaktion der pilger

Spendenaktion für die Ukraine

Kloster Neustadt plant für März einen Hilfstransport
15.02.24
Redaktion der pilger

Weltkirchliche Perspektive gehört zur DNA der Kirche

Am Beispiel des südamerikanische Landes Kolumbien macht Misereor bei seiner...
13.02.24
Redaktion der pilger

Die Kraft des Miteinander

Ob Fußball, Job oder Familie - Alleingänge klappen selten, gemeinsam geht vieles...
07.02.24
Redaktion der pilger

"Ich kann auch anders"

Gewohnheiten sind bequem. Umso schwieriger ist es, das Gehirn wieder...
07.02.24
Redaktion der pilger

Gründe, nicht zu feiern, findet man immer

Manchmal sind wir überfordert von den Krisen der Welt. Warum lachen und feiern...
07.02.24
Redaktion der pilger

Fasten ohne religiösen Bezug

Weshalb auch glaubensferne Menschen vor Ostern bewusst verzichten
07.02.24
Redaktion der pilger
News-Feed (RSS) von der Zeitungsseite in die Webfamilie

Predigtreihe über das Leben

Grenzfragen im Blick: Pfarrei Herxheim lädt zu fünf Terminen ein
07.02.24
Redaktion der pilger

Schmerzlich, aber nicht das Ende

Pfarrei Winnweiler: Potzbacher Michaelskirche wurde am 4. Februar profaniert
07.02.24
Redaktion der pilger

Tacheles

Frei und klar unseren Glauben bekennen
07.02.24
Redaktion der pilger

Die Kirchen im Blick

Kaiserslautern: Gesprächsabend über Versäumnisse, Chancen und Perspektiven
02.02.24
Redaktion der pilger

Sein Herz schlägt für Alfred Delp

„Dem Alfred Delp hab' ich mich verschrieben“, sagt Dr. Peter Kern (Foto). Der...
02.02.24
Redaktion der pilger

Waren Frauen Nazi-Verbrecherinnen?

Wenn es um die Verbrechen während der Nazi-Diktatur geht, ist eigentlich fast immer...
29.01.24
Redaktion der pilger

Bewerben für den Nardini-Preis 2024

Ehrenamtliche Initiativen in der Pfalz und der Saarpfalz sind eingeladen, sich mit...
26.01.24
Redaktion der pilger

Missbrauchsstudie: Kritik an evangelischen Landeskirchen

Am Tag nach der Vorstellung der Missbrauchsstudie der evangelischen Kirche gibt es...