Montag, 21. Oktober 2024
Geschenk Gottes
Sich Zeit zu nehmen, ist wahre Größe
Meine erste Stelle als Kaplan war in Landau-St. Maria. Pfarrer Klaus Armbrust, ein angenehmer und gebildeter Mensch, wurde mir schon bald zum Freund. Von ihm lernte ich, dass Seelsorge mehr ist, als alles vorschriftsmäßig zu handhaben. Seelsorge braucht Herz und Verstand und lässt auch mal eine Fünf gerade sein.
Als er starb, wurde ich eingeladen, seine Bücher durchzuschauen, um vielleicht das ein oder andere mitzunehmen. Ich fuhr also zum Mörlheimer Pfarrhaus – allerdings nicht mit der Absicht, meine ohnehin vollen Bücherregale mit noch weiteren Bänden zu bestücken. Mir ging es vielmehr um eine Begegnung mit dem verstorbenen Freund in seinem alten Büro, denn ich denke: Was ein Mensch liest, zeigt, wie er die Welt sieht und in ihr lebt.
Am meisten beeindruckte mich sein Interesse an Themen, die auf den ersten Blick mit Religion oder Theologie gar nichts zu tun haben – etwa Astronomie, Kunst- und Kulturgeschichte, Musik oder Biologie. Er dachte immer in größeren Zusammenhängen und hat gerade so verstanden, was eine religiöse Weltsicht eigentlich bedeutet: nicht Rückzug und Abschottung, sondern Aufgeschlossenheit, Weitsicht – denn Gott kennt schließlich keine Grenzen.
Ein Buch nahm ich dann doch mit. Es stammt von Michael Ende und trägt den Titel MOMO. Momo ist ein kleines Mädchen, das vor allem eines gut kann: zuhören. Geld hat sie nicht, doch sie ist auf ihre Weise sehr reich, denn sie hat Zeit. Zeit ist etwas, das die Menschen um Momo herum immer weniger haben – wie die Menschen heutzutage.
Aber was hat das alles mit dem Evangelium zu tun? Auf den zweiten Blick sehr viel, denn Jesus ruft dazu auf, im Hier und Jetzt zu leben, sich Zeit zu nehmen – vor allem für die Menschen, die ihn (und uns!) brauchen. Das haben die beiden Jünger im Evangelium nicht so recht verstanden. Sie wollen für irgendwann später etwas von Jesus, während er sie, sie selbst, hier und jetzt will. Er will Beziehung mit ihnen, Gemeinschaft. Ihr Anliegen, die besten Plätze für sich reservieren zu wollen, ärgert die anderen Apostel, droht, ihre Gemeinschaft zu gefährden.
Dies ist auch Thema in MOMO, wo die Idylle des Miteinanders dadurch gestört wird, dass eines Tages die ‚grauen Herren‘ auftauchen. Sie hören nicht zu und haben keine Zeit. Stattdessen wollen sie für sich gewinnbringende Geschäfte machen – das Gegenbild zu Momo. Die Marketingstrategie dieser Herren ist, Menschen zu animieren, ihre Zeit besser zu nutzen: besser, zu arbeiten, als mit den eigenen Kindern zu spielen. Besser, an die Karriere zu denken, als die alten Eltern zu besuchen. Besser, mehr Geld zu verdienen, als sich ehrenamtlich zu engagieren. Und so überreden sie die Leute, Zeit zu sparen, ständig Termine zu planen und die Gegenwart der Zukunft zu opfern – denn Zeit ist Geld!
Bald fürchten die Menschen nichts so sehr wie Zeiten der Ruhe, der Stille, der Muße, denn das wäre ja Zeitverschwendung. So werden sie immer egoistischer und rücksichtsloser. Aber Momo gibt sich mit dieser Situation nicht zufrieden. Sie sucht ‚Meister Hora‘ auf und begegnet dort dem Geheimnis der Zeit: Die Fülle der Zeit, die Ewigkeit, liegt nicht in einer planbaren Zukunft, nicht jenseits, sondern in ihm.
Damit sind wir wieder beim Evangelium. Die beiden Jünger planen ihre ewige Zukunft nach dem Tod, während Jesus sie auf die Forderungen der Nachfolge im Hier und Jetzt verweist. Sie denken an ihre Karriere, an Auszeichnung und Macht, während Jesus zum Dienen aufruft. Wenn er sagt, die Mächtigen unterdrücken die Menschen, erinnert das stark an die ‚grauen Herren‘ in MOMO. Dem steht die Logik Jesu diametral entgegen: Sei Diener! Gib dein Leben (deine Zeit) für andere.
In MOMO und dem Evangelium prallen zwei Welten aufeinander. Wir stehen vor der Wahl und müssen uns entscheiden, welcher wir angehören wollen. Geht es darum, das Beste aus dem eigenen Leben herauszuholen, geht es um Zukunftspläne? Oder geht es darum, die jeweilige Gegenwart als Geschenk Gottes zu leben?
Mein verstorbener Freund Klaus Armbrust hat die Aussage des Buches, die jener des Evangeliums folgt, verstanden und gelebt. Vielleicht bedeutet Seelsorge im Grunde genommen nichts anderes, als Diener der Ewigkeit in der Zeit zu sein, sich Zeit zu nehmen, die ja doch nur ein Geschenk Gottes, des Ewigen ist.
In der Geschichte der Religion wurde oft angenommen, die Ewigkeit beginne erst nach dem irdischen Leben. Ein grundlegendes Missverständnis! Worum es Jesus im Evangelium eigentlich geht, ist meiner Meinung nach nicht die Kritik am Wunsch der Jünger (der auch unser Wunsch heute sein könnte), von ihm eine Auszeichnung zu bekommen, auch nicht, Opfer von ihnen (von uns heute) zu verlangen. Was er von ihnen erwartet, hat Karl May, einer meiner Lieblingsschriftsteller, einmal wie folgt auf den Punkt gebracht:„Es ist eines der größten und unverzeihlichsten Gewohnheitsirrtümer, anzunehmen, dass die Ewigkeit für uns erst nach unserem Tode beginne.“ (Stefan Seckinger)