Donnerstag, 03. August 2023
Wie Perlen an einer Schnur
Ein Netz von Pilgerwegen mit dem Ziel Santiago de Compostela durchzog vom Mittelalter an den europäischen Kontinent. Die heutigen Jakobswege, die sich teils an spirituellen und touristischen Orten sowie teils an ursprünglichen Routen orientieren, haben feste Wegmarkierungen. Meist lotst heute das Zeichen der Jakobsmuschel die Pilgerinnen und Pilger durch den Kontinent.
Im Mittelalter gab es keine festen Markierungen. Die Pilger mussten sich ihren Weg suchen. Grob orientierten sie sich dabei am Sternenhimmel, an der Milchstraße, die an klaren Abenden über ihnen aufleuchtete. Haltepunkt und Führung boten den mittelalterlichen Pilgern zusätzlich die vielen Stationen an ihrem langen Weg bis Nordspanien: Kirchen und Kapellen, Klöster und Klosterhöfe als Unterkunft und Verpflegungsort sowie Hospitäler, die Aufnahme und Pflege bei Krankheit boten. Die Orte waren wie Perlen am Pilgerweg hingestreut. Jahrhunderte sind seither vergangen. Manches aus dieser fernen Zeit blieb erhalten, steinerne Zeugen – und seien es nur Reste einstiger Gebäude – die immer noch mal mehr, mal weniger vom Geist dieser Zeit erzählen.
Wie Perlen auf einer Schnur, kleine Edelsteine am Wegesrand, so sind diese steinernen Zeugen auch heute, greift Peter Michael Lupp, Kulturreferent beim Regionalverband Saarbrücken, das Bild auf. Lupp ist seit Jahren über seine saarländische Heimat hinaus in Sachen mittelalterlicher Baudenkmäler unterwegs. In der Großregion Pfalz-Elsass-Saar-Lothringen setzt er sich ein, dass die Zeugen des Mittelalters neu ins Bewusstsein rücken. „Dieses Bewusstsein ist wichtig zum Erhalt dieser Baudenkmäler für die Zukunft.“
Vielerorts hat Peter Lupp Sternenwegprojekte initiiert, die Verantwortlichen dort beraten und die Entstehungsprozesse der örtlichen Wege begleitet. So etwa im Raum Landau, in Klingenmünster oder Bad Dürkheim. „Wir knüpfen stets an die offiziellen Routen des Jakobsweges und seiner Nebenwege an, wollen aber keine Konkurrenz dazu sein.“ Die Sternenwege in den jeweiligen Städten und Dörfern stellten für Jakobspilger kleine, reizvolle Umwege dar, die an schönen Orten zu einem Kurzaufenthalt oder Entdeckungstouren einladen. „Unsere Idee richtet sich aber nicht nur an Pilgerinnen und Pilger“, betont der Neustadter Stadtführer Dr. Erich Bien. „Wir wollen unsere historischen Schätze den Gästen unserer Stadt zeigen.“ Lupp ergänzt: „Auch Einheimische sind eingeladen, auf Entdeckungsreise zu gehen.“
Erich Bien und Peter Lupp haben sich am 21. Juli mit anderen Engagierten und Verantwortlichen in Neustadt getroffen. Denn dort gibt es Interesse, ebenfalls Teil des Sternenwege-projektes zu werden. Die beiden Männer knüpfen an eine zurückliegende Zusammenkunft mit Pfarrern beider Kirchen, Tourismusexperten und Gemeindeverantwortlichen an. „Von der Idee waren alle begeistert“, sagt Lupp. „Mal sehen, was daraus wird. Wir geben Anregungen und unterstützen, aber es muss sich vor Ort entwickeln. So ein Projekt ist ein Prozess.“
Am 21. Juli ist zum Beispiel Hans Peter Michel aus Neustadt-Haardt dazugestoßen. Er möchte Lupp die bei Sanierungsarbeiten gefundenen historischen Gewölbesteine im Ortsteil Haardt zeigen. „Ich finde es eine schöne Idee, die besonderen Schätze unseres Ortes neu in Erinnerung zu bringen. Dabei hilft uns der Sternenweg.“ Als kunsthistorisch und heimatkundlich Interessierter ist der in seiner protestantischen Gemeinde engagierte Christ aber gerne auch in den Ortsteil Duttweiler gekommen, um die mittelalterliche Emmauskapelle aus dem 13. Jahrhundert erstmals zu besuchen, der älteste Teil der deutlich jüngeren katholischen Kirche. Dort beginnt am Morgen das Arbeitstreffen. Lupp, Bien und Michel sind mit Dekan Michael Paul verabredet, dem Pfarrer der Geinsheimer Heilig-Geist-Pfarrei. Paul zeigt gerne den Gästen den ältesten Gottesdienstraum seiner Großpfarrei. „Das war früher ein Abstellraum. Heute ist die Kapelle besonders bei Taufen sehr beliebt.“ Bei diesen Taufen stellen die Geistlichen der Pfarrei einen Bezug zum Jakobsweg her: „Jeder Täufling erhält eine Jakobsmuschel.“ Der Sinn: „Wir sind alle Pilger, mit unterschiedlichen Wegen und Stationen im Leben – aber alle mit einem Ziel.“
Ein lohnendes Ziel, greift Peter Lupp den Faden auf, werde die Emmauskapelle auch am Neustadter Sternenweg sein: „Der Raum strahlt eine besondere Kraft aus – und er verbindet Vergangenheit und Gegenwart.“ Dekan Paul erläutert die moderne Gestaltung, die vom ortsansässigen Bildhauer Bernhard Mathäss geschaffen wurde: die Worte der Emmauser-
zählung des Evangelisten Lukas als Wandrelief, die schiefe Säule als Symbol des Weges und der Lebensdynamik, darin ein Kreuz vor einem Buntglasfenster in österlichen Farben. „Das ist eine gelungene Weiterführung der alten Baukunst“, zeigt sich Lupp begeistert.
Ortswechsel. Uralte Kunst, gelungen restauriert für die Zukunft und verbunden mit Gegenwartskunst – das ist auch in der Alten Kirche Winzingen zu finden. Sie markiert den ältesten Siedlungskern, aus dem die Stadt Neustadt entstand. Die Kirche stammt aus dem 13. Jahrhundert, die erhaltenen Wandfresken belegen es: Szenen aus dem Leben Jesu sowie vom heiligen Ulrich, dem das heute protestantische Gotteshaus einst geweiht war. Noch mehr Pracht ist an der Chorwand zu sehen: Zwei Wandfresken erzählen die Verkündigung des Herrn. Bei sieben Umbauten des einst gotischen Kirchleins zur barocken Saalkirche hat man sie übertüncht, übersehen, vergessen. Zum Glück, denn dadurch zeigen sie unter einem eindrücklichen Luther-Fenster den Erzengel Gabriel mit der Gottesmutter Maria. Das Werk mittelalterlicher Freskenmaler wurde 2023 ergänzt: In den Seitenwänden strahlen zwei Kunstglasfenster in Rot und Blau, von Künstler Thomas Kuzio geschaffen. Kuzio zitiert in seinen Fenstern die mittelalterlichen Fresken mit moderner Technik.
Olaf Kleinschmidt, Vorsitzender der Fördergemeinschaft Alte Winzinger Kirche, ist stolz auf Fresken und Fenster, auf die Kirche überhaupt. „Manchmal sitze ich eine Stunde oder mehr hier und schaue einfach. Das tut mir gut.“ Wandern und Pilgern mit den Augen, so nennt der frühere Bäcker diese Momente. Es geht nicht nur ihm, der in schönem Kurpfälzisch die Schätze und die Geschichte der Kirche spannend erzählt, so: „Diese Kirche ist für viele ein Schatz. Viele kommen zum Gottesdienst oder in Konzerte.“ Dass die Alte Kirche nun ein Höhepunkt am Sternenweg wird, freut Kleinschmidt natürlich. Als Teil des entstehenden Weges erhält die Kirche einen Stein mit Muschel und Sternen, einen Bildband und eine Fahne. „Das bekommt einen Ehrenplatz“, sagt er.
Ortswechsel: Einen Ehrenplatz in ihrer barocken Kirche haben auch die protestantischen Christen im Ortsteil Haardt für die mittelalterlichen Artefakte vorgesehen, die bei Sanierungsarbeiten entdeckt wurden. Die beiden Gewölbesteine zeigen das Wappen der Stifter der Wolfgangskapelle aus dem 15. Jahrhundert, wie Kirchenführer Hans Peter Michel vermutet. Die Kapelle stand da, wo heute die große Kirche von 1781 ihren Platz hat. Der andere Stein zeigt einen Rabenvogel. „Das ist sehr wahrscheinlich das Wappentier des Speyerer Fürstbischofs Ludwig von Helmstatt, ebenfalls aus dem 15. Jahrhundert“, so Michel. Er macht auf weitere mittelalterliche Zeitzeugen im Ortsteil aufmerksam: In der Gewanne „Im Kreuzmorgen“ ist ein altes, schlichtes Kreuz in einer Weinbergsmauer zu sehen, ein paar Schritte weiter erhebt sich am Haardtrand das „Haardter Schlössel“, daneben sind Teile der früheren Nikolauskapelle der Haardter Burg erhalten. Gemeinsam mit Dr. Erich Bien und Peter Lupp überlegt Hans Peter Michel, wo Beschriftungen für diese Stationen am Sternenweg angebracht werden könnten. Die Schautafeln sollen Pilger und Gäste auf die Perlen am Wegesrand hinweisen.Lupp betont: „Es gibt keine markierten Wege zu den Stationen. Ein bisschen ist das wie im Mittelalter: Die Leute sollen sich selbst auf die Wegsuche machen. Der Sternenweg ist bewusst kein Premiumwanderweg.“ Nichtsdestotrotz überlegen Lupp und Stadtführer Bien, wo günstige Fußwege abseits der großen Straßen verlaufen. „Zu den Hinweisen auf die Ziele gibt es auch Tipps, wie man gut dorthin kommt.“
Für Neustadts entstehenden Sternenweg haben Erich Bien und Peter Lupp eine weitere Idee. Hier steht mit dem Hambacher Schloss nicht nur eine der Wiegen deutscher Demokratie. Es findet sich auch eine historische Wurzel der europäischen Idee: Robert Schuman, einer der Väter Europas, war hier. Diese Tatsache solle mit dem Sternenweg verbunden werden, sagt Lupp und zitiert den französischen Christ mit den Worten: „Europa soll sich eine Seele schaffen.“ Zur Seele des Kontinents aber zählen die gemeinsamen Werte, vielfach aus dem jüdisch-christlichen Kontext stammend: Menschlichkeit, Toleranz, Offenheit, Fremdenfreundlichkeit, Mitgefühl, Freundschaft und Frieden. Auf diese Werte mussten auch die mittelalterlichen Pilger bauen, wenn sie loszogen in die Fremde. „Und heute sind wir in Europa mehr denn je auf solche Werte angewiesen“, sagt Peter Lupp. „Es ist traurig, dass viele Menschen denken, ,Europa nimmt uns etwas weg‘“, hatte Dekan Michael Paul am Morgen beim Ortstermin in Duttweiler gesagt: „Das Gegenteil ist doch der Fall! Wir sollen stolz sein auf Europa, auf die gemeinsamen Werte unserer Völker.“
Stolz sein, die europäischen Werte im Bewusstsein halten, das wollen die einzelnen Sternenwege tun. „Wir wollen den europäischen Gedanken in die Regionen tragen – und anknüpfen an die große Tradition des Pilgerns.“ (Hubert Mathes)