Donnerstag, 05. August 2010
Warten – auf was?
Wach und mutig in die Zukunft sehen. Ein Beitrag von Diakon Hartmut von Ehr zum Lukas-Evangelium, Kapitel 12,35-40.
Am 5. Januar 1953 wurde in einem Theater in Paris das Stück von Samuel Beckett „Warten auf Godot“ uraufgeführt. Estragon und Wladimir, zwei Landstreicher, sind die Hauptfiguren des Stückes. Später kommen noch Pozzo und sein Diener Lucky hinzu. Alle treffen sich an einem unbestimmten Ort und verbringen ihre Zeit damit, auf eine Person namens Godot zu warten, die sie aber nicht kennen und von der sie überhaupt nichts Genaues wissen. Nicht einmal, ob es sie überhaupt gibt. Godot taucht tatsächlich im ganzen Stück nicht auf, das Warten auf ihn ist offensichtlich vergebens. Lediglich am Schluss eines jeden Aktes erscheint ein Junge, der mitteilt, dass sich Godots Ankunft weiter verzögern wird.
Bis zum Schluss weiß der Zuschauer nicht, wer Godot ist und warum man auf ihn wartet. Die Schauspieler verkörpern den menschlichen Drang, auf einen heilsbringenden Erlöser zu warten, der alles auf dieser Erde zum Guten richten soll.
Beckett problematisiert und karikiert diesen Hang, indem er seine Figuren als eher lächerlich erscheinen lässt. Sie verbringen ihre Zeit mit absurden Diskussionen und belanglosen Aktionen. Als „metaphysische Clowns“ könnte man Estragon und Wladimir bezeichnen und den Namen Godot durchaus als eine andere Bezeichnung für Gott deuten.
Ist also unser Leben und unsere Zeit, die wir hier auf dieser Erde verbringen, eine leere Handlung, die keinen großen Optimismus zulässt? Schlagen wir die Zeit unseres Lebens tot mit allen möglichen und unmöglichen Aktivitäten?
So könnte man die Philosophie des Existenzialismus und das französischen Theaters des Absurden der Jahre um 1950 verstehen. Alles Leben ist sinnlos und eine Spanne von Geburt bis zum Tod ohne Wert.
Eine ganz andere Geschichte, die Legende von Martyn, erzählt uns der berühmte russische Schriftsteller Leo Tolstoi. Martyn, ein Schuster, ist seit einiger Zeit ein eifriger Leser des Evangeliums. Eines Nachts hört er die Stimme Jesu: „Martyn, morgen werde ich zu dir kommen.“
Verwundert, aber hoffnungsfroh nimmt er am Morgen seine Arbeit auf, schaut dabei immer wieder aus dem Fenster. Wie mag er aussehen, Jesus, der ihn heute besuchen will. Wird er ihn erkennen? Bei allem Nachdenken und Nähen sieht er einen Nachbarn. Der ist arm und alleine. Frierend kehrt er vor seinem Haus Schnee. Den bittet er zu sich hinein, gibt ihm heißen Tee und redet so mit ihm, dass der sich endlich wieder einmal geachtet fühlt.
Wenig später sieht er eine fremde Frau mit einem Säugling auf dem Arm, zitternd und müde. Der gibt er zu essen, hört sich ihren Kummer an, hilft ihr mit Kleidung und einem Paar Schuhen, so dass sie ihren Weg fortsetzen kann.
Schließlich sieht er eine Marktfrau, die einen Jungen beim Apfel-Diebstahl erwischt hat und ihn nun gerade zur Polizei zerren will. Er tritt dazwischen und kann es erreichen, dass sie von ihrem Zorn ablässt. Dem Jungen ringt er das Versprechen ab, nicht wieder zu stehlen. Schließlich sieht er beide einträchtig von dannen gehen, der Junge die vollen Säcke der Alten auf seinen Schultern tragend.
So vergeht der Tag. Und Martyn wartet. Der Herr wollte doch zu ihm kommen!
Aber das war wohl nur ein Traum. Schließlich geht er schlafen. Da hört er erneut die Stimme Jesu: „In diesen Menschen bin ich heute zu dir gekommen.“
Tolstoi spricht in seiner Legende anders als Beckett. Tolstoi ermutigt und zeigt, dass das Leben vor allem dann Sinn macht, wenn es nicht nur auf sich gerichtet ist, wenn man mit wachen Augen die Umwelt und seine Mitmenschen betrachtet.
Im heutigen Evangelium lobt Jesus die, die bereit sind, wenn er erscheint. Und er preist die selig, die wach sind, wenn er kommt. Wach sein heißt aber nicht, wie das Kaninchen mit offenen Augen auf das Gewehrrohr des Jägers zu starren. Wach sein heißt, aus dem Glauben heraus die Zeichen der Zeit zu deuten und das Handeln daran auszurichten. Beispielsweise nicht gleich über jede Krisenmeldung in wilde Aufregung zu geraten.
Die Welt braucht wache Menschen, die bereit sind, sich herausfordern und rufen zu lassen, wenn Veränderungen erforderlich sind. Die sich die innere Freiheit erworben haben, um Überholtes loszulassen, und die insbesondere nicht an eigenen Privilegien kleben.
Die Welt braucht wache Menschen, die eigene Fehler einsehen und eingestehen können – weil sie auf die Vergebung vertrauen dürfen. Die bereit sind, für ihr Tun und Lassen die Verantwortung zu übernehmen. Und sie braucht Menschen, die nicht in den „Alles-sinnlos-Chor“ mit einstimmen, sondern bewusst sich für das Evangelium, für das Leben in und mit Gott einsetzen.
Gott braucht uns im Alltag an den Orten, wo wir leben und arbeiten. Hier erwartet er von uns die wache Bereitschaft, die damit rechnet, dass er uns mitten in diesem Alltag begegnen kann: in einem Ereignis oder in einem Menschen. Er begegnet uns. Er ruft uns auf, die Arbeit zu unterbrechen. Er ruft uns heraus. (Von Diakon Hartmut von Ehr)