Donnerstag, 14. Oktober 2010
Da hat sich etwas hochgeschaukelt
„Stuttgart 21“ verlangt eine offene Auseinandersetzung und keinen Glaubenskrieg.
Man möge sich bitte erinnern: Es geht um einen Bahnhof. Nicht im ein Kernkraftwerk, nicht um ein Giftmüll-Lager. Nicht um eine neues Bergbauprojekt, für das ganze Landstriche verändert und womöglich Ortschaften versetzt werden müssen. Nein – es geht um einen Bahnhof. Und dazu noch um einen, der unter der Erde verschwinden soll. Es ist ganz gut, sich das klar zu machen, wenn man sich die inzwischen allabendlichen Berichte aus Stuttgart ansieht, wo um und gegen eben diesen Bahnhof gekämpft wird, als ginge es um eine Gefahr für den Weltfrieden.
Da hat sich – zumindest aus der Ferne betrachtet – eine Sache gegenseitig hoch geschaukelt, bei der Anlass und Wirkung scheinbar meilenweit auseinander liegen, deren Dynamik aber dennoch mit den alltäglichen Mitteln der Politik nicht mehr zu beruhigen ist. Ein Schlichter – wie das nur aus hoch emotionalen Arbeitskämpfen bekannt ist – muss bei. Und obwohl man sich dafür einen Fuchs wie Heiner Geißler geholt hat, stand auch der zunächst mal irritiert zwischen Fronten, deren Unerbittlichkeit auch wohl ihn überrascht hat. Denn auch daran muss man erinnern: „Stuttgart 21“ – das Projekt, das inzwischen in Deutschland jeder zu kennen glaubt – ist seit mehr als 17 Jahren auf der Planungsschiene. Es gab lange Planungsverfahren, lange parlamentarische Verfahren, lange Gerichtsverfahren, lange Ausschreibungsverfahren. Es gibt bei „Stuttgart 21“ so ziemlich nichts, was es nicht gab. Und trotzdem erhält man sowohl bei den explodierenden Emotionen, als auch bei den von den Kritikern vorgebrachten Sachargumenten den Eindruck, als habe es gar nichts gegeben. Die Auseinandersetzung um „Stuttgart 21“, so der Anschein, den die Gegner erwecken, ist eigentlich auf dem Nullpunkt. Eine Protestbewegung vermittelt den Eindruck, als sei eine ganze Stadt praktisch über Nacht von einem Mammut-Projekt überfahren worden.
Und was noch zum Gesamtbild gehört: Offensichtlich sieht sich die Politik von dem schwäbischen Volksaufstand ebenfalls völlig überrascht. Die Kommunikation für das Bahnhofsprojekt dringt nirgendwo durch, scheint nicht existent zu sein. Die Reaktionen auf die Kritik erscheinen hilf- und planlos. Mehr als der Verweis auf das lange und formal korrekte Planungs- und Genehmigungsverfahren fällt niemandem ein. Offensive und erfolgreiche Öffentlichkeitsarbeit sieht anders aus. Und wenn dazu noch ein Polizeieinsatz kommt, der – warum auch immer – die Eskalation auf die Spitze treibt, dann steht man eben vor einem Trümmerhaufen, noch ehe überhaupt damit begonnen wurde, irgendwas zu bauen. Es ist alles in allem ein jämmerliches Bild, das Politik hier abgibt.
Das berühmte Ohr am Bürger, auf das man gerade bei der in Baden-Württemberg schon ewig regierenden CDU immer so stolz war, scheint völlig versagt zu haben. Man hat weder die Entschlossenheit des Widerstandes gegen das Bahnhofsprojekt registriert, noch die Kreise, aus denen dieser Widerstand ganz wesentlich gespeist wird. Das Wort vom „bürgerlichen Protest“ macht die Runde, also von der Gegnerschaft jener Kreise, die gerade sowohl die Union als auch die FDP als ihre Wählerschaft sieht. Deren Skepsis hat man offenbar nur wenig ernst genommen. Oder man hat darauf vertraut, dass der Verweis auf ein sowohl parlamentarisch als auch juristisch einwandfreies Verfahren die Gemüter im Zaum hält.
Aber man darf nicht naiv sein. In knapp sechs Monaten sind in Baden-Württemberg Landtagswahlen. Und da kommt es gerade recht, wenn man einen Lokalkonflikt auf Übergröße aufblasen kann. Die Umfragewerte für die Grünen, die sich als die parlamentarische Spitze der Protestes gegen „Stuttgart 21“ sehen, sprechen hier eine deutliche Sprache. Und die Angst der etablierten Parteien, ihre Wählerinnen und Wähler könnten zumindest zu Hause bleiben, auch. Und was die Bundeskanzlerin geritten hat, die Landtagwahl zur Volksabstimmung über den Stuttgarter Bahnhof zu erklären, wird wohl ihr Geheimnis bleiben.
Aber es nützt jetzt alles nichts. Da müssen die Politiker nun durch. Und das kann man auch erwarten. Denn wie gesagt – es geht nicht um den Weltfrieden. Es geht um einen Bahnhof. Dafür konstruktive Lösungen zu finden ist das Mindeste, was man von Leuten verlangen kann, die den Anspruch haben, Bundesländer zu regieren – oder mehr.