Montag, 11. März 2024
Erwarte das Unerwartete
Wir können uns jederzeit auf Gott verlassen
Vom griechischen Philosophen Heraklit (550 bis 480 v. Chr.) stammt das Wort: „Erwarte das Unerwartete“. Wo im Leben ganzer Völker oder einzelner Personen Unerwartetes, Überraschendes geschieht; wo sich plötzlich neue Lebensumstände erschließen; Türen sich öffnen, wo vorher alles verschlossen war; neue Wege sich zeigen, wo vorher nur Sackgassen waren – da ist Gottes Hand im Spiel. So kann man es deuten. Der Verfasser der alttestamentlichen Chronik-Bücher ist davon überzeugt, dass Gott genau in solchen Momenten für uns spürbar und erfahrbar wird.
Mit den beiden Chronik-Büchern liegt ein kunstvoll gestaltetes Erzählwerk vor, dass in seinem Verlauf einen weiten Bogen über die Geschichte des Volkes Israel schlägt: von Adam bis zum Ende des Babylonischen Exils (538 v. Chr.). Der Verfasser ist unbekannt. Das Werk entstand wohl zwischen 400 und 300 vor Christus.
Die Chronik-Bücher tragen in der hebräischen Bibel die Überschrift „Ereignisse der Tage“. Die spätere Bezeichnung „Chronik“ stammt vom Kirchenvater Hieronymus (420 n. Chr.), der die Bibel übersetzte und kommentierte. Er bezeichnete die Bücher als „Chronik der gesamten göttlichen Geschichte“. Doch der alttestamentliche Verfasser wollte nicht in erster Linie Daten chronologisch geordnet festhalten, er wollte Gründe für den Geschichtsverlauf finden – warum es so gekommen ist, wie es kam mit seinem Volk. Im Mittelpunkt seines Interesses steht das von Gott auserwählte Herrschergeschlecht Davids und der Tem-pel, das auf Gottes Weisung hin errichtete Heiligtum in Jerusalem.
Der Chronist wirft einen sehr kritischen Blick zurück auf die Geschichte seines Volkes. Er ist überzeugt: Jerusalem wurde zerstört und Israel musste ins Babylonische Exil, weil die Menschen den Tempelkult verfälscht und sich dem Wort Gottes verschlossen hatten.
Doch in den allerletzten Versen des zweiten Buches der Chronik keimt Hoffnung auf. Rettung kündigt sich an, wie einst zur Zeit des Auszugs aus Ägypten. Diesmal kommt Befreiung von unerwarteter Seite. Gott rettet sein Volk durch den Perserkönig Kyrus. Dabei bedient er sich überraschenderweise eines Menschen, der nicht zu seinem auserwählten Volk gehört: Kyrus ist es, der Repräsentant einer Großmacht, der, als er an die Macht kommt, mit einem Edikt die Rückkehr des Volkes Israel in die Heimat erlaubt und den Wiederaufbau des Tempels in Jerusalem ermöglicht. Als die Bücher der Chronik verfasst werden, ist der neue Tempel schon längst Wirklichkeit geworden. Die Verheißung des Propheten Jeremia ist also in Erfüllung gegangen.
Gott hat seine Hand im Spiel. Auch in unserer Zeit? Dass ein Wandel in der Geschichte als Gabe Gottes verstanden werden kann, zeigen die Ereignisse in unserem Land vor fast 35 Jahren: Am 9. November 1989 fällt die Berliner Mauer – plötzlich und unerwartet, und am 3. Oktober 1990 wird die Wiedervereinigung Deutschlands vollendet mit dem Wirksamwerden des Beitritts der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland. Der frühere Erfurter Theologieprofessor und heutige Bischof von Magdeburg, Gerhard Feige, hat in einer Predigt Ende 1989 zum Ausdruck gebracht, dass der Neubeginn auch Frucht göttlichen Handelns war: „Es bedarf keines großen Glaubens, um zu erkennen, dass die friedliche Revolution in unserem Land nicht ausschließlich unser eigenes Werk ist. Die Zeit war reif, so kann man sagen. Als gläubige Menschen sind wir aber davon überzeugt, dass Gott unser Tun mit seiner Hilfe begleitet hat. Und das macht uns Mut.“
Wenn wir aktuell in unsere Welt hineinschauen: eine gerade überstandene Pandemie, Klimakrise, Arbeitskräftemangel, Terroranschläge, Kriege nah und fern, Missbrauchsfälle auch in den Kirchen, Kirchenkrise … Man kann nur wünschen und bitten, Gott möge auch heute unser Denken und Tun mit seiner Hilfe begleiten.
„Erwarte das Unerwartete …“. Das Wort des Heraklit geht weiter: „Erwarte das Unerwartete, sonst wirst du es nicht finden.“ Erwarten wir immer von Neuem das Unerwartete – und entdecken dabei vielleicht Gott in unserem Leben und in unserer Welt. (Regina Mettlach)