Mittwoch, 10. Mai 2023
Über den Wolken
Wenn man mit dem Flugzeug die Wolkendecke durchstoßen hat, sieht man nur noch einen endlos weiten Raum: keine Wolken mehr. Keine großen Vögel. Schon gar keine Engel. Kann das der Himmel sein?
Wenn man mit dem Flugzeug die Wolkendecke durchstoßen hat, sieht man nur noch einen endlos weiten Raum: keine Wolken mehr. Keine großen Vögel. Schon gar keine Engel. Kann das der Himmel sein?
„Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein. Alle Ängste, alle Sorgen, sagt man, blieben darunter verborgen.“
// Reinhard Mey
Der Himmel, der physikalische Raum zwischen Erde und All, hat immer schon als Bild gedient für das Unbeschreibliche, für all das, was wir hinter unseren eigenen Grenzen und Beschränkungen erhoffen. Gibt es den Himmel, „die Fülle des Lebens“, von der in alten liturgischen Texten die Rede ist, überhaupt? Ist er mehr als ein frommes Märchen – zu schön, um wahr zu sein?
Und kann man ohne den Himmel überhaupt leben? Muss es nicht das wahre Glück geben – auch später einmal, ein Zuhause, in dem wir immer bleiben dürfen? Oder ist das alles nur eine große Illusion? Solange die Welt sich dreht, werden Geschichten vom Himmel erzählt. Hoffnungsgeschichten, die sagen, dass es weitergeht. Wunderschöne Geschichten und komische. Eigenartigerweise reden manche Leute besonders gern vom Himmel, wenn es ihnen an den Kragen geht.
Im Gottesdienst – im katholischen regelmäßig am zweiten Weihnachtsfeiertag – ist der Bericht über Stephanus zu hören, einen der allerersten Christen, der seinen Mitbürgern eine gesalzene Predigt hielt und seine Zuhörer damit so in Wut versetzte, dass sie ihn umbrachten:
„Als sie das hörten, waren sie aufs Äußerste über ihn empört und knirschten mit den Zähnen. Er aber, erfüllt vom Heiligen Geist, blickte zum Himmel empor,
sah die Herrlichkeit Gottes und Jesus zur Rechten Gottes stehen und rief: ‚Ich sehe den Himmel offen und den Menschensohn zur Rechten Gottes stehen. und rief: ‚Ich sehe den Himmel offen und den Menschensohn zur Rechten Gottes stehen.‘ Da erhoben sie ein lautes Geschrei, hielten sich die Ohren zu, stürmten gemeinsam auf ihn los, trieben ihn zur Stadt hinaus und steinigten ihn.“ (Apostelgeschichte 7, 54-58)
Es sind die Tapfersten, die so sterben können. Die Überzeugung, dass dort im Himmel etwas Wunderbares wartet, kann mächtig viel Kraft zum Leben geben. Wer an den Himmel glaubt, lässt sich offenbar hier auf der Erde nicht so leicht die Courage abkaufen.
Was nicht nur für Stephanus vor bald zweitausend Jahren gilt. Vor fast siebzig Jahren lebte in Warschau die kleine Janina David in einem engen, dunklen Zimmer, das sie niemals verlassen durfte. Die Familie David musste sich vor den Nazis verstecken. In dem Buch, das sie später über ihre Erlebnisse schrieb, erinnert sich Janina David an ein winziges Fenster, durch das sie ein Stück vom blauen Himmel sehen konnte. Dieser Blick auf den Himmel war es, der ihr Mut gab und sie die lange, böse Zeit am Leben hielt.
Für das jüdische Mädchen Janina bedeutete der Himmel Freiheit, Hoffnung, Zukunft. Der Himmel ist ein Bild für so vieles, was uns glücklich macht. Und weil aus der anderen Welt noch keiner zurückgekommen ist, gibt es unter den Menschen keine einheitliche Vorstellung. Sie sagen „Himmel“ oder „Paradies“, „Jenseits“ oder „die ewigen Jagdgründe“ und meinen doch alle etwas Ähnliches. Früher hat man den Himmel gern als Wohnung der Götter oder der großen Helden beschrieben.
Inzwischen ist der Himmel für viele „nicht mehr Zeichen für die Frage, wohin wir gehören, sondern Chiffre für eine heruntergekommene Romantik, die uns nichts mehr kostet“, sagt der Theologe Hermann Häring skeptisch. Oft stellt man sich den Himmel als eine schrecklich langweilige Sonderwelt vor. Keine lebendigen Menschen, die lachen, komische Dinge treiben, sich verlieben. Stattdessen luftige Geister, die vornehm umherschweben und auf weichen Wolkenpolstern rasten. Ludwig Thoma greift diese freudlose Vorstellung mit grimmigem Sarkasmus auf und lässt seinen „Münchner im Himmel“ verdrossen auf die Erde und auf die gute Zeit im Hofbräuhaus blicken.
Menschen, die den Himmel so sehen, pflegen sich auf der Erde möglichst gut einzurichten und von keiner besseren Welt mehr zu träumen. Wie schade. Denn so verpassen sie die Chance, die Erde ein wenig freundlicher, menschlicher, glücklicher zu machen. Dazu aber sollen die Bilder vom Himmel doch eigentlich anstiften!
Die heiligen Schriften der Juden und Christen reden nicht von so einem blutleeren, faden Paradies. Die Bibel schildert den Himmel gern als großes Fest, vorzugsweise als Hochzeitsfeier. Da wird ausgelassen gefeiert, fröhlich gegessen und getrunken. In der bekannten Geschichte von der Hochzeit zu Kana geht dem Hausherrn der Wein aus, Jesus muss für Nachschub sorgen. Der Himmel: ein gewaltiges, prunkvolles Fest, bei dem sich alle rundum freuen.
Die Bibel erzählt von diesem Fest nicht so, als müssten wir bis zum Sankt-Nimmerleinstag warten, bis es losgeht. Die Feier hat schon längst begonnen. Jesus verknüpft das unverrückbar mit seiner Person: „Wo zwei oder drei in meinem Namen zusammen sind, da bin ich mitten unter ihnen.“ Sein Himmel beginnt überall dort, wo Menschen wie er ganz Menschen sind, sich aneinander freuen, richtige Freunde werden, miteinander teilen und sich als Partner fühlen, nicht als Rivalen.
Schon der in der hebräischen Bibel dokumentierte Glaube Israels bricht die enge Vorstellung eines über den Wolken lokalisierbaren Himmels auf: Der Himmel ist kein Ort auf der Landkarte des Universums, sondern eine Beziehung. Der Himmel ist die Erfahrung der glücklich machenden – aber auch herausfordernden – Nähe Gottes. Viel später entsteht die treffsichere Geschichte von dem Rabbi, der einem Kind einen Taler verspricht, wenn es ihm sagen kann, wo Gott wohnt. Der Dreikäsehoch antwortet: „Und du bekommst einen Taler, wenn du mir sagst, wo er nicht wohnt!“
Ist der Himmel ein Paradiesgarten für die Frommen, eine Ruhmeshalle für die toten Helden, ein Forschungsobjekt für Astrophysiker oder ein Tummelplatz für Raumfahrer? Oder ist er eine Art zu leben, miteinander umzugehen? Natürlich muss jetzt der musikalische Ohrwurm aus zahllosen zeitgenössischen Jugendgottesdiensten zitiert werden, von Wolfgang Poeplau getextet und von Ludger Edelkötter vertont:
„Wenn ein Sommer
Rosen blühen lässt
und die Liebe
Menschen glühen lässt,
wenn es Frieden gibt
auf Erden
und die Waffen
verschrottet werden:
Dann gehen wir
dem Himmel entgegen
und alle, alle gehen mit.
Wenn die Wüsten
Gärten tragen
und die Toten
zu tanzen wagen,
wenn der Himmel
uns auf den Kopf fällt
und ein Mensch
mehr als alles Geld zählt:
Dann gehen wir
dem Himmel entgegen
und alle, alle gehen mit.“
Das Fest des Himmels hat begonnen. Zwar hat es noch nicht seinen Höhepunkt erreicht, aber wir sind zum Tanz aufgerufen: uns zum Reigen des Lebens einander bei den Armen und Händen zu fassen.
Aber wie geht das? Vielleicht gibt ein kleines Gebet Aufschluss, das in einem Gesangbuch zu finden war, in zierlicher Handschrift auf einen Zettel geschrieben: „Herr, gib mir ein Herz, das die Freude sucht und sie doch nicht festhalten will, das verzichten und teilen kann und das sein Glück in der Freude der anderen findet.“
Wenn wir so zu leben versuchen, leuchten schon jetzt viele kleine Stückchen Himmel wie Mosaiksteine auf, oft noch unverbunden nebeneinanderliegend wie bei einem unfertigen Puzzle. Die Bibel ist überzeugt: Gott wird am Ende der Tage diese vielen Mosaiksteinchen Himmel zu einem vollendeten Bild zusammenfügen und zu „seiner neuen Erde und seinem neuen Himmel machen“, wie es am Schluss der Heiligen Schrift heißt. Vielleicht lohnt es sich ja, bei dem Fest schon jetzt dabei zu sein. (pil)