Freitag, 24. März 2023
Leid und Lebenswirklichkeit des Einzelnen in den Blick nehmen
Fastenpredigt von Bischof Dr. Karl-Heinz Wiesemann im Speyerer Dom
Speyer. „Was ist der Mensch, dass du an ihn denkst?“ (Psalm 8, 5) unter dieses Leitwort hatte das Domkapitel die dreiteilige Fastenpredigtreihe „Im Puls“ im Speyerer Dom gestellt. In der dritten und letzten Predigt in dieser Fastenzeit sprach Bischof Dr. Karl-Heinz Wiesemann über den biblischen und den kirchlichen Blick auf den Menschen. Er fand dabei auch kritische Worte, die sich sowohl ihn selbst als auch an die Institution der katholischen Kirche richteten: „Die Kirche hat den konkreten Menschen zu wenig im Blick gehabt“, war eine seiner Schlussfolgerungen.
Seine Predigt begann der Speyerer Bischof mit einer Betrachtung des genannten Psalmwortes, das als Überschrift über der Predigtreihe stand. In dieser Betrachtung des Psalmisten werde der Mensch als „wenig geringer gemacht als Gott“, zugleich aber auch in seiner Armseligkeit beschrieben. Deutlich werde dies in der Übersetzung von Martin Buber: „Was ist das Menschlein, dass du seiner gedenkst?“. Auch der von Wiesemann ausgewählte Lesungstext aus dem Johannesevangelium beinhaltete den Blick auf den Menschen: „Ecce homo – seht, der Mensch“. Mit diesen Worten stellt Pilatus den gefolterten Jesus vor die Menge. Diese lässt sich von dem Anblick des Geschundenen jedoch nicht anrühren, sondern fordert schreiend dessen Kreuzigung. In den Worten Jesu an Pilatus zeige sich jedoch, dass Jesus kein wehrloser Spielball gewesen sei. So entgegnete dieser dem römischen Statthalter: „Du hättest keine Macht über mich, wenn sie dir nicht von oben gegeben wäre“. Damit zeige Jesu uns „unsere eigene gottgeschenkte Würde“, sagte der Bischof.
Für uns gelte es, bei allen Bildern von leidenden Menschen den konkreten Mensch in den Blick zu nehmen und uns von dessen Schicksal anrühren zu lassen. Stellvertretend nannte er den geflüchteten syrischen Jungen Alan Kurdi, der im Alter von zwei Jahren im Mittelmeer ertrank und dessen Bild, tot am Strand, um die Welt gegangen war. Die Aufforderung “Seht, der Mensch“ ergehe daher immer wieder an uns selbst. Bei den Fluchtbewegungen über das Mittelmeer oder ausgehend von der Ukraine aber auch bei den Folgen des Klimawandels würden Zahlen erst greifbar, wenn nach dem Personalitätsprinzip der Einzelne in den Blick genommen werde. Diese Personalität sei die erste Säule der christlichen Soziallehre. Immer dort, wo dieses Prinzip nicht gewahrt werde, „gerät unsere Gesellschaft aus den Fugen“, beklagte Wiesemann. Gerade in autoritären politischen Systemen, aber auch beim freien Spiel des Marktes geriete der Einzelne aus dem Blick. Aufgabe der Kirche sei es daher, das Augenmerk auf das Einzelschicksal zu lenken. Dies sei auch den politischen Funktionsträgern aufgetragen. „Lassen wir uns ergreifen von der Menschenfreundlichkeit Gottes, der auf jeden einzelnen sieht“, schloss der Bischof den ersten Teil seiner Predigt.
In einem zweiten Predigtteil warf Bischof Wiesemann einen selbstkritischen Blick auf die Kirche: „Das Ziel einer Fastenpredigt ist ja der Ruf zur Umkehr, nicht zuerst an andere, sondern an sich selbst“, erläuterte er die Zielrichtung seiner Ansprache. Wie mehrfach zuvor und danach zitierte er das Bibelwort „Seht, der Mensch“ und stellte an dieser Stelle die Frage: „Hatten wir den Einzelnen in seiner Würde immer im Blick?“. Allzu lange habe man weggesehen, wenn innerhalb der Kirche sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen oder schutzbefohlenen Erwachsenen verübt worden sei. Die Sorge habe vorrangig oder ausschließlich dem Ansehen der Kirche und ihren Amtsträgern und nicht den Betroffenen gegolten. Erst nach und nach, durch die Veröffentlichung verschiedener Studien habe man die eigene Blindheit erkannt. Auch er selbst habe die Gespräche mit vom Missbrauch Betroffenen gebraucht, um dies zu verstehen, und auch, um zu erkennen, dass systemische Gründe den Missbrauch in der katholischen Kirche begünstigt hätten. Daher habe er sich von Anfang an beim synodalen Weg eingebracht, dessen Anliegen einer grundlegenden Erneuerung auch nach dem vorläufigen Abschluss Auftrag bleibe.
Auch bei der Morallehre habe die Kirche den Einzelnen zu wenig im Blick gehabt. Eine platonische Ideallehre habe den konkreten Menschen in seiner Lebenswirklichkeit nicht mehr wirklich wahrgenommen. Zwar brauche der Mensch Ideale und auch die biblischen Gebote seien weiterhin gültig aber leider sei ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber dem Menschen zum dominierenden Element für rigide Begrenzung der Freiheit des Einzelnen geworden. Dies gelte insbesondere bei der menschlichen Sexualität, wo nicht mehr das erfüllende Schöpferische sondern das Gefährliche, potentiell Sündhafte gesehen wurde. Einem grundsätzlich von Misstrauen geprägten Menschenbild sei die Annahme entstiegen, nur enge Beschränkungen ermöglichten eine Beherrschung menschlicher Triebe. In der Kirche habe der Umgang mit wiederverheiratet Geschiedenen oder Homosexuellen dazu geführt, dass diese sich in schmerzhafter Weise ausgeschlossen fühlten. „Wie anders war der Umgang Jesu mit den Menschen“, so der Bischof. Dieser habe sich bewusst den Ausgestoßenen zugewandt, diese angesehen und ihnen dadurch zu neuem Ansehen verholfen. „Ihm ging es um den einzelnen Menschen in seiner konkreten Situation“, sagte Wiesemann: „So hat er sie von Objekten der Ohnmacht zu Subjekten des Heiles gemacht“. Diesem Vorbild gelte es zu folgen.
Wenn in den Evangelien in der Leidens- und Auferstehungsgeschichte die Rede vom Sehen sei, sie dies immer ein Sehen aus tiefer Liebe zum Menschen. „Ohne diese Liebe kann man nichts sehen, schon gar nicht den Auferstandenen“, sagte Bischof Wiesemann. Daher gelte es sich, „in Ursolidarität zu verhalten“ und der Menschenverachtung, von der es nach wie vor zu viel in der Welt gebe, den liebenden Blick auf den Einzelnen entgegenzusetzen. Zum Ende seiner Predigt zitierte er das Jesuswort: „Was ihr dem geringsten unter euch getan habt, das habt ihr mir getan“ und folgerte daraus: „Seht, das ist der Mensch in den Augen Gottes“.
Foto © Domkapitel Speyer, Foto: Klaus Landry
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