Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg
Die Darstellung dieses Gleichnisses, die sich wie die Darstellung aller vier Gleichnisse im Codex aureus über jeweils drei Bildstreifen erstreckt, zeugt auf Seiten des Malers von vielen praktischen Kenntnissen, den Weinbau betreffend. Historische Quellen belegen, dass die Praxis der Lohnarbeit in Weinbaugebieten in der Herbstsaison gang und gäbe war und auch, dass Echternach seit dem 10. Jahrhundert in der Talsenke einen Markt hatte, wo die Arbeiter gedungen werden konnten. Das Wissen um diese Praxis sowie der anschauliche Evangelientext machen es dem mittelalterlichen Maler leicht, eine wahrheitsgetreue Wiedergabe der Arbeit im Weinberg im Allgemeinen und der Arbeiter des Weinberggleichnisses im Besonderen wiederzugeben.
Ein erstes Mal geht der Besitzer des Weinbergs hinaus, um Arbeiter für seinen Weinberg zu dingen. Mit beredt gestikulierenden Händen setzt er den Tageslohn fest. Dass der Lohn hoch genug ist, sieht man an der erfreuten Miene des Arbeiters, der hinter dem Turm hervorlugt und mit auf seine Brust gerichtetem Zeigefinger zu fragen scheint: „Ist es so, dass auch ich kommen darf?“ (In dieser frühen Morgenstunde, wo man noch müde ist, darf man sich wohl noch auf die Hacken stützen!)
Dann sieht man rechts im Bild noch einmal, wie der Besitzer Arbeiter dingt. Der Maler hat diese Szene allerdings nicht viermal dargestellt, wie es das Evangelium berichtete. Auch hat er die breiten Bänder, die den Himmel darstellen sollen, fortlaufend in den selben Farben gemalt als sei es die gleiche Tageszeit. Dies und das Reduzieren von vier Szenen auf zwei bedeutet wohl, dass diese zwei Szenen, in denen der Gutsbesitzer Arbeiter dingt, stellvertretend dargestellt wurden für alle vier.
Gut beobachtet und meisterhaft wiedergeben: die mühevolle Arbeit im Wingert: die ermüdende gebückte Haltung beim Hacken, die Werkzeuge: schwere Hacken und krumme Winzermesser.
Dort, wo die Arbeiter in regelmäßigen Abständen mit ihren Hacken in die Erde hauen, um den Boden aufzulockern, ist ein gewisser Rhythmus zu erkennen. Wahrscheinlich hat da einer schreiend den Takt angegeben oder alle Arbeiter haben zusammen jeden Schlag mit einem Laut akzentuiert. Eins ist klar: während die Hackenschläge links im Bild auf die Erde niedersausen, erheben sich die Werkzeuge rechts im Bild wieder rhythmisch-synchron über die Köpfe der Männer. So ist es ja üblich, wenn mehrere Männer zusammen arbeiten! Einer - links im Bild - scheint aus dem Takt geraten zu sein: Seine Hacke ist noch auf halber Höhe, während die anderen Arbeiter seiner Gruppe ihren Schlag schon zu Ende geführt haben.
Die gleichen mit pilzartigen Blätterschöpfen geschmückten kuriosen Bäume, die uns überall sowohl im Codex aureus als auch im Codex Egberti begegnen, dienen den zarten Reben als Halt. Ganz links im Bild beschneiden einige Arbeiter die Reben, in der Mitte scheint einer eine Rebe (VINEA) zu leiten; das Winzermesser hat der Mann frei im Gürtel stecken. Der Himmel spannt sich in grauen, weißen, violetten, blauen Bändern über die Szene; uniform, obwohl das Ganze in einer Zeitspanne von einigen Stunden geschieht, von der morgendlichen Kühle, über die sengende Mittagshitze bis in die Frische der Abenddämmerung. Ganz rechts im Bild werden wir durch den Arbeiter, der sich an einer Quelle abkühlt, auf die Hitze des Tages hingewiesen.
Da fließt viel Schweiß, und die Darstellung ist richtig so: denn dadurch, dass die mühevolle Arbeit so fachgerecht und korrekt dargestellt ist, kann man später die Verärgerung der Arbeiter der ersten Stunden besser verstehen, die sich um ihren gerechten Lohn geprellt fühlen.
Grünlich und dicht wie englischer Smog („Erbsensuppe“) bricht die Abenddämmerung herein, und mit ihr kommt auch der Augenblick der Lohnauszahlung. In der linken Bildhälfte sehen wir, wie sowohl der rotgekleidete Arbeiter als auch der Herr des Weinbergs auf die einbrechende Dunkelheit hinweisen.
In der linken Bildhälfte zahlt der vom Besitzer des Weinbergs herbeigerufene Verwalter den Arbeitern den abgemachten Lohn aus: einen Denar - „angefangen bei den Letzten bis zu den Ersten“ (Mt 20, 1-16).
Verdutzt schauen die Tagelöhner drein. Wer hier wohl einer der „ersten Stunde“ war, ist leicht herauszufinden: der Mann mit dem vor lauter Wut blutrot angelaufenen Kopf! Golden glänzt in seiner demonstrativ hingehaltenen Hand der einzige Denar, den er bekommen hat. Der sich betrogen fühlende Tagelöhner, der „die Last des ganzen Tages getragen hat“ (Mt 20, 12) will schier „von der Bildfläche verschwinden“, so sehr hat der Maler ihn dicht an den äußeren rechten Rand des Bildes gerückt.
Dieses Gleichnis mag bei Jesu Zuhörern damals, wie auch bei Menschen in heutigen Bibelkreisen und –besprechungen eine Flut von Entrüstungschreien ausgelöst haben. Es geht hier eben nicht um soziale Gerechtigkeit, sondern darum, dass der „Hausherr“ (Gott) jedem, der sich ehrlich bemüht, nicht weniger geben kann als seine Liebe, und zwar seine Liebe voll und ganz