Jesus als Hörer und - ja: als Lehrer der weisen Männer und seiner eigenen Eltern: Mit zwölf Jahren im Jerusalemer Tempel

Er hörte ihnen zu und stellte Fragen

"Ihr sollt euch auch nicht Lehrmeister nennen lassen, denn auch Lehrmeister ist bei euch nur einer: Christus, der versprochene Retter," sagt Jesus im Evangelium vom 31. Sonntag im Jahreskreis (30. Oktober 2005). Der Codex Egberti stellt Jesus im Gespräch mit den "Lehrern" seiner Zeit vor - und zwar schon mit zwölf Jahren, im Tempel zu Jerusalem.

Jesus unter den Gesetzeslehrern

Mit zwölf Jahren ist Jesus religionsmündig; deswegen nimmt er mit seinen Eltern an der alljährlichen Wallfahrt nach Jerusalem aus Anlass des Passahfestes teil (vgl. Dtn 16,16f). Ohne dass Josef und Maria es merken, tritt er nicht mit ihnen die Heimreise nach Nazaret an, sondern bleibt im Tempel zurück. Dort finden ihn seine tiefbesorgten Eltern nach drei Tagen: „Er saß mitten unter den Lehrern, hörte ihnen zu und stellte Fragen“ (V. 46). Diese Begebenheit stellt der Maler-Mönch mit großer Begeisterung dar, kennt er doch den Lehrbetrieb der Klosterschule seiner Zeit bestens. Auch damals war es nicht typisch, dass die Alten („seniores“) auf die Jungen hören. Das ist erst für die Endzeit verheißen (vgl. Joel 3,1).

Auf einer prächtigen Bank sitzen vier Schriftgelehrte, Jesus zugewandt, der – kleiner als sie (12jährig!) auf einem Thron mit grünem Kissen sitzt, ganz vertieft in die Schriftrolle. Einer der Gesetzeslehrer hilft ihm dabei, die Rolle zu entfalten. Die beiden, die ihm am nächsten sitzen, tragen ein weißes Obergewand (wie Maria), die beiden anderen ein grünes (wie das Sitzkissen). Ihre beredten Hände und Jesu „Redegestus“ (zwei ausgestreckte, drei gekrümmte Finger) verdeutlichen das intensive Lehrgespräch: „Alle, die ihn hörten, waren erstaunt über sein Verständnis und über seine Antworten“ (V47). Die Art, wie Jesus das Wort Gottes auslegt, erregt das Staunen der Schriftgelehrten (vgl. Joh 7,46: „Noch nie hat ein Mensch so gesprochen“), später aber auch ihre todbringende Ablehnung (im weiteren Verlauf der Bildergeschichte tragen sie nicht mehr die langen Gewänder der „Seniores“, sondern die kurze Tracht der Zeitgenossen des Malers). Die verdrehte Sitzhaltung des links von Jesus sitzenden Schriftgelehrten deutet das schon an. Von links betreten die besorgten Eltern mit Gebärden der Trauer und des Vorwurfs die Szene: Josefs Umhang und Marias Schleier sind vom gleichen Rot wie das Obergewand von Jesus. Ihre Hände nehmen die Bewegung der Hände der Schriftgelehrten auf, hingeordnet auf Jesus. Das Ganze spielt vor einem lilafarbenen Hintergrund: Zusammen mit dem dreitägigen Suchen seiner Eltern klingt dezent das Sterben und Auferstehen Jesu an.

„Als seine Eltern ihn sahen, waren sie sehr betroffen, und seine Mutter sagte zu ihm: Kind, wie konntest du uns das antun?“ (V. 48). Jesus entschuldigt sich nicht bei seinen Eltern; das erste Wort, das uns von ihm überliefert ist, ist eine (überraschte, vorwurfsvolle?) Frage: „Warum habt ihr mich gesucht. Wusstet ihr nicht, das ich in dem sein muss, was meinem Vater gehört?“ (V49). Zum ersten Mal im Tempel des Herrn, erkennt Jesus, woher er kommt. Sein Vater ist nicht Josef, der hier zum letzten Mal im Bild erscheint; sein Vater ist Gott, der im Tempel von Jerusalem verehrt wird. Eine Offenbarungsgeschichte, mit zwei ausgestreckten Fingern symbolisiert Jesus seine Gottheit und Menschheit. Später wird Jesus in den Jubelruf ausbrechen: „Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, weil du all das den Weisen und Klugen verborgen, den Unmündigen aber offenbart hast“ (Lk 10,21).

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