Gefangennahme in Getsemani
Das Bild ist im Egbert-Codex eingefügt in die Johannespassion nach dem Wort „Ego sum - ich bin es“. Es illustriert in seiner Vielfalt aber eher das Matthäusevangelium als das des Johannes. Es ist ein Bild vielfacher Gewalt. Von rechts und von links dringen bewaffnete „Juden“, von den Hohenpriestern und Ältesten geschickt (V. 47) auf Jesus ein. Sie sind in teuere Gewänder des 10. Jahrhunderts gekleidet; damit wird die bis in die Gegenwart fortwirkende Gewalt (Sünde) erinnert. Jeweils vier Männer packen Jesus an den kreuzförmig ausgebreiteten Armen.
Links im Bild ist Petrus mit einem Messer dargestellt (der Bibeltext spricht von einem Schwert – will der Maler an Abraham erinnern, den Gott daran hindert, den Sohn zu opfern?). Er will dem Knecht des Hohenpriesters ein Ohr abschneiden. Jesu Blick und sein Wort und seine Hand verhindern das: „Stecke dein Schwert in die Scheide, denn alle, die zum Schwert greifen, werden durch das Schwert umkommen“ (V. 52). Ganz links fliehen die entsetzten Jünger aus dem Bild. Zwei weiße Bäume erinnern, dass die Verhaftung Jesu in einem Ölgarten stattfand; da die Bäume in den Miniaturen bis hin zur Grablegung in einem Garten immer wieder erscheinen, rufen sie die Bäume im Paradies in Erinnerung, die Ursünde und die Verheißung dauernden Lebens.
Am beeindruckendsten ist die Darstellung des Ringens zwischen Jesus und Judas in der Bildmitte. Die beiden scheinen zu einem Leib zusammengewachsen zu sein. Im roten Kleid der Freundschaft will Judas Jesus küssen – das verabredete Zeichen für die Männer, die Jesus festnehmen sollen. Mit dieser Verzweiflungstat will er Jesus zwingen, endlich zu tun, was man sich vom Messias erhofft: die Römer aus dem Land zu jagen. Man könnte meinen, er will Jesus umdrehen. Alles an ihm ist verkehrt, seine Körperhaltung verdreht. Die Zeichen der Liebe stimmen nicht. Oder doch? Sein Ringen um Jesus beantwortet Jesus mit seinem Ringen um Judas. Als wolle er ihn unter seinen Mantel nehmen, so breitet er seinen linken Arm um ihn aus. Obwohl gewaltsam gekreuzigt, bezeugt Jesus die Macht der Gewaltlosigkeit: Er nimmt Judas auf und hindert Petrus, vom Schwert Gebrauch zu machen.
Seine Ohnmacht bei der Gefangennahme – „Wen sucht ihr?“, „Jesus von Nazaret“. “Ich bin es“ – gibt Jesus die Gelegenheit zur Selbstoffenbarung (und der Maler-Mönch nutzt dies Wort als Bildüberschrift!). Dreimal wird dieses Wort „Ich bin es“ im Johannesevangelium in diesem Zusammenhang gebraucht (vgl. Joh 18, 4-8). „Ich bin, der ich bin“, mit diesem Namen hat Gott sich dem Mose am brennenden Dornbusch vorgestellt (vgl. Ex 3,14). Im Johannesevangelium nimmt Jesus diesen Gottesnamen in vielen Varianten auf und bezieht ihn auf sich (Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben, Ich bin das Licht, Ich bin das Brot ...). Der „Ich bin“ überlieferte sich der Gewalt der Menschen schon als er Mensch wurde, jetzt wird es offenkundig. „Das alles ist geschehen, damit die Schriften der Propheten in Erfüllung gehen“ (V. 56)