Wir dokumentieren in leicht redigierter Form zwei Predigten von Jugend-Pfarrer Jan Lehmann - aus einer Predigtreihe im September und Oktober 2016 in Wittlich.
Bei mir zu Hause war die Küche der zentrale Ort unserer Wohnung. Hier ist die ganze Familie zusammengekommen; hier kamen alle Themen auf den Tisch. Als meine Schwester und ich klein waren, standen in der Küche unsere Schreibtische. Es war für uns normal, in der Küche Hausaufgaben zu machen, zu spielen, zu essen und Zeit miteinander zu verbringen. Auch heute ist die Küche zu Hause noch ein wichtiger Ort, in der z.B. Gäste empfangen werden. Sie sitzen dann dort, trinken Kaffee oder essen etwas und unterhalten sich. Für uns als Kinder war es selbstverständlich Freunde mit nach Hause zu bringen, die dann am Esstisch einen Platz fanden.
In unserer Küche ging es auch heiß her! Hier wurde gestritten, diskutiert und gefeiert. Bei uns war dies der Ort, bei dem es um das „Eingemachte“ ging. Da fielen Sätze wie „Solange du deine Füße unter unseren Tisch stellst, machst du, was wir sagen!“ oder „Was an diesem Tisch besprochen wird, bleibt auch hier!“ Hier kamen die meisten existentiellen Themen auf den Tisch: Wie geht’s nach der Schule weiter? Du willst ins Priesterseminar? Oma ist krank? …
Die Küche war unser gemeinsamer Raum. Ein Ort der Kommunikation; der Gastfreundschaft; der leiblichen Verpflegung und der innerlichen (seelischen) Befindlichkeit. Ein Lernort.
Als Lebensorte habe ich auch andere Orte erlebt. Während meiner Jugend in meiner Heimatpfarrei – nicht mit der ganzen Pfarrei, sondern mit der Jugendarbeit dort habe ich all das erlebt, was ich von der Küche meiner Eltern her kannte: Kommunikation, Gastfreundschaft, äußerliche und innerliche „Verpflegung“.
Eigentlich müssten unsere Pfarreien wie „Küchen“ sein. Orte an denen Menschen aus den unterschiedlichsten Milieus zusammenkommen und miteinander Leben und Glauben teilen. Doch die Wirklichkeit sieht anders aus. Das hat auch damit zu tun, dass Pfarreien nicht (mehr) so einfach genutzt und gefunden werden können, wie das früher mit unserer Küche war.
Ich durfte damals die Küche nutzen, ohne dass ich kochen konnte. Meine Eintrittskarte in die Küche war einzig und allein, dass ich zu dieser Familie gehörte. Aber wer gehört heute zur Pfarrei? Wer darf denn mitreden? Wer kann die Pfarrei nutzen oder Ansprüche stellen? Theologisch gesehen reicht es aus, getauft und gefirmt zu sein, um zur Kirche (und damit zur Pfarrei) dazuzugehören. Doch die Zugangsbedingungen zur Pfarrei können ganz schön hoch sein. Schon um die Messe mitfeiern zu können, sollten Sie die Gebete kennen, sich im Ablauf orientieren können und wissen, wann man steht, sitzt und kniet.
Wer gehört zur Pfarrei dazu? Diejenigen, die regelmäßig am Sonntagsgottesdienst teilnehmen? Die sich ehrenamtlich engagieren? Die fest zu einer Pfarreigruppe gehören? Die in einem bestimmten Gebiet leben oder arbeiten? Ich kann zu allem Ja und Nein sagen. Nein: Menschen müssen sich nicht ehrenamtlich engagieren oder regelmäßig am Gottesdienst teilnehmen, um zu einer Pfarrei dazugehören zu dürfen. Und Ja sage ich, weil ich mir wünsche, dass wir gemeinsam Gottesdienst feiern oder uns gemeinsam engagieren. So kann ich erleben und spüren, dass wir eine Gemeinschaft, eine Pfarrei sind.
Obwohl wir in Deutschland in einer Gesellschaft leben, die sehr vielfältig und unterschiedlich ist, sind die Pfarreien deutschlandweit alle ziemlich gleich aufgebaut. Sie können z.B. den Pfarrbrief ihrer Heimatpfarrei mit Pfarrbriefen aus Süddeutschland oder Norddeutschland vergleichen: keine großen Unterschiede. Alle machen das gleiche! Klar, es gibt hier und da mal eine Gruppe, die es sonstwo nicht gibt. Das wirklich Einmalige und Besondere, das es in manchen Pfarreien gibt, wird von Routine allzu oft überschattet: die Ankündigung des Elternabends für Kommunionkinder, die Begründung für die veränderte Gottesdienstordnung oder die Ankündigung des nächsten Pfarrfestes und Suche nach den Kuchenspenden...
Das alles hat aber für einen Großteil der Katholiken keine Bedeutung; sie finden in unseren Pfarreien (oder wenigstens in den Pfarrbriefen) fast nichts, was sie zum Leben bräuchten.
Diese Fragen und Überlegungen betreffen jede/n einzelne/n Katholikin/en im Bistum Trier. Stellen sie sich nur vor, sie werden krank. Was ist, wenn sie sich nicht mehr engagieren können? Wenn Sie nicht mehr so mobil sind, um zu den Gottesdiensten zu fahren? Leider werden Sie dann schnell raus sein aus dem, was Pfarrei heute ist.
Die Synode von Trier hatte den Mut, zu sagen, dass unsere heutigen Pfarreien es nicht mehr schaffen. Sie schaffen es nicht mehr, all die Gewohnheiten, die Gremien, die Angebote aufrechtzuerhalten – und gleichzeitig den Menschen so nah zu sein, wie sie es wollten. Die Pfarreien werden mehr und mehr zu einsamen Orten. Und Einsamkeit ist eine sehr schlechte Ratgeberin. Sie trennt unsere Pfarreien und die Menschen, die sich da engagieren, von anderen Menschen und von Gott. Die Einsamkeit lässt uns auf die Veränderungen der Gesellschaft so reagieren, dass wir uns mehr und mehr einigeln und isolieren. Unsere einsamen Pfarreien beschäftigen uns so, dass wir keine Zeit finden, denen nahe zu sein, mit denen wir zusammenleben könnten und sollten und wollen.
Die Synode formuliert es positiv: Sie sagt klar und deutlich, dass es weiterhin Pfarreien geben wird! Pfarreien als Orte der Begegnung zwischen Gott und uns Menschen. Orte die wirklich in Kontakt sind (vgl. Evangelii Gaudium 28) mit Familien, mit Senioren, mit Kinder und Jugendlichen, mit Alleinerziehenden, mit Kranken, mit dem Leben der Menschen. Pfarreien als
Papst Franziskus sagt, dass „die Pfarrei keine hinfällige Struktur [ist, da sie] … eine große Formbarkeit besitzt“ (vgl. EG 28). In dieser Formbarkeit sieht die Synode einen Schlüssel, um als Kirche in der heutigen Zeit Menschen wieder näher zu sein als bisher!
Wie soll das gehen? Ehrlich gesagt ich weiß es nicht – noch nicht. Zurzeit wird genau überlegt, wie die Schritte aussehen, die wir gehen und wann wir sie gehen! Es scheint mir im Moment jedoch wichtiger, zunächst alle Fragen zu kennen, als (vor)schnelle Antworten zu geben.
Drei Fragen, die mir wichtig sind:
Der Jordan ist der Schicksalsfluss des Volkes Israel. Er war die letzte Barriere, die das Volk Israel nach der Flucht aus Ägypten überqueren musste. Das ganze Volk stand am Ufer des Jordans und hatte Angst ihn zu überqueren.
Der Jordan ist ein Flüsschen – in Breite und Tiefe vergleichbar mit der Lieser hier in Wittlich. An manchen Stellen ist das Wasser so niedrig, dass es nur knapp über die Fußknöchel reicht. An diesem Flüsschen stand ängstlich das Volk Israel und kam weder vor noch zurück. Gestandene Frauen und Männer, jahrelang durch die Wüste gezogen, verloren den Mut beim dem Gedanken, ihre Füße ins Wasser zu stellen.
Das hat zu tun mit dem, was auf der anderen Seite auf sie wartet. Sie haben vor dem Unbekannten Angst, vor der Veränderung, vor dem Aufgeben ihrer Routine. Ihnen wurde bewusst, dass sie nicht alles mitnehmen könnten. Von manchem müssten sie sich verabschieden. Sie müssten Gewohnheiten und Rituale zurücklassen, die sie liebgewonnen hatten und die einmal einen Sinn gehabt hatten. Sie hätten also auch an den Ufern des Jordan lagern können, ohne ihn zu überqueren! So hätten sie noch einige Jahre mit dem gelebt, was sie kannten. Doch dann wäre die Geschichte des Volkes Israels still und leise ausgeplätschert. Sie hätten die großartigen Dinge verpasst, die Gott für sie auf der anderen Seite vorbereitet hatte. All die weiteren Erfahrungen, die Lebendigkeit und das Wachstum als Gemeinschaft mit ihrem Gott wären verloren gegangen.
Auch wir stehen am Jordan (schon einige Zeit) und haben Angst. Denn wir spüren, dass wir nicht alles mitnehmen können über unseren Jordan. Die Überquerung bedeutet Veränderung – ohne dass wir schon genau wissen, wie das Neue aussieht. Sie bedeutet, dass wir manches zurücklassen müssen. Wir werden uns von Ritualen und Gewohnheiten verabschieden müssen, liebgewonnen und irgendwann einmal sinnvoll gewesen. Wir können nicht alles mitnehmen und so weitermachen wie bisher!
Ich würde in dieser Situation verrückt werden, wenn ich nicht von einem Gott gehört hätte, der in seinem Namen die Zusage trägt „Ich-bin-da“. – Ich habe von diesem Gott gehört und einen solchen Gott feiern wir hier in diesem Gottesdienst. Einen Gott, der uns zuruft: „Ich bin bei euch alle Tage eures Lebens“ und „Brich auf“. Brich auf in eine neue Zeit, in eine unbekannte Gegend, die von der Hoffnung geprägt ist, dass wir so den Menschen näher sein können als bisher. Amen.
Jan Lehmann 8.10.2016
Ich erinnere mich noch, wie ich als Kind Rad fahren gelernt habe. Mein Vater hielt nichts davon, wenn Fahrrad-Anfänger zu lange mit Stützrädern fahren. Er hielt mein Fahrrad hinten am Sattel, lief hinter mir, hielt mich fest, gab Anweisungen – und ich fuhr. Irgendwann fühlte ich mich schon sicher und schnell; ich wollte sehen, was mein Vater macht, und drehte mich um. Da stand er in einiger Entfernung und sah sich an, was wir gemeinsam geschafft hatten: Ich fuhr meine ersten Meter alleine!
Ich hätte wohl nie als Kind Radfahren gelernt, hätte mein Vater mich nicht dazu motiviert. Für ihn gehörte es wohl dazu, dass Kinder Rad fahren und so selbstständiger werden. Radfahren hat mir geholfen, erwachsen zu werden. Heute ist mir gar nicht mehr so wichtig, wie ich es gelernt habe. Mir ist viel wichtiger, dass zu Beginn meiner ersten Versuche jemand bei mir stand, der mir zutraute, dass ich Radfahren lernen kann.
Eine ähnliche Erfahrung verbinde ich auch mit der Synode. Für mich ist der wesentliche Ertrag der Synode, dass sie sich mit der wichtigeren Frage beschäftigt hat: „Warum gibt es Kirche?“ und damit ist ganz eng die Frage verbunden „Warum soll es sie weiterhin geben?“. (Fragen nach dem „wie“ haben keinen so großen Platz eingenommen: „Wie gestalten…wir das und das? Die werden schon noch kommen.)
„Warum gibt es Kirche?“ Das hört sich irgendwie unnötig oder gefährlich an, weil wir meinen, diese Fragen wären schon lange beantwortet. Das stimmt auch in gewisser Hinsicht. Historisch gesehen kann die Katholische Kirche auf eine 2000jährige Geschichte zurückblicken. Doch damit Kirche nicht ein Museumsbetrieb wird, der aus dem Ruhm und dem Versagen der Vergangenheit lebt, muss jede Generation für sich neu die wichtigere Frage beantworten „Warum braucht es für meine Zeit die Kirche“. Kirche ist dabei mehr als Gebäude, Strukturen, Hierarchien oder der Papst in Rom. Kirche steht hier für das Evangelium Jesu Christi. Für seine Botschaft vom Reich Gottes, für Gerechtigkeit, Frieden und Hoffnung für alle Menschen.
Die Synode hat sich die Frage gestellt: „Warum braucht es für unsere Zeit die Kirche?“; dabei hat sie den Finger auf einen wunden Punkt gelegt. Denn so hat sie gefragt: „Braucht unsere Welt überhaupt noch eine organisierte Gemeinschaft wie die (katholische) Kirche, um die Botschaft vom Reich Gottes zu hören?“
Diese Frage und verschiedene Reaktionen darauf haben die Arbeit der Synode und das Abschlussdokument durchzogen. Beim genauen Hinschauen fällt auf, dass diese Frage mit zwei einzelnen weiteren Fragen verbunden ist:
Die stärksten Momente der Synode habe ich gerade dann erlebt, wenn einzelne Personen ganz persönlich und echt darüber gesprochen haben, was ihnen dieser Gott bedeutet und was sie selbst bereit sind, für ihn und seine Botschaft zu investieren.
Aus diesen persönlichen Aussagen haben sich große Richtungen entwickelt. Die Synode nennt sie „Perspektivwechsel“. Sie sprechen davon, wie Menschen sich heute vorstellen können als Christen zu leben. Es sind positive Sichtweisen, die Mut machen wollen und ehrlich gemeint sind:
Das eigentliche Ergebnis der Synode sind diese „Perspektivwechsel“. Die Bistumssynode mit all ihren Mitgliedern hat genau das formuliert, was sie formuliert haben. Die Versammlung bestand aus Menschen, die ihr Leben mitgebracht haben. Ein Leben, das aus Beruf, Familie und Ehrenamt besteht, das Niederlagen in Beziehungen kennt und Erfolge durch Neuanfänge, das Narben von Verletzungen und Krankheiten trägt und das Hoffnung und Vertrauen kennt. Es waren ganz normale Menschen zusammen, die sich selbst eingebracht haben und ihre Geschichte mit unserem Gott.
Das ausformulierte Ergebnis findet sich im Abschlussdokument. Wir halten damit ein persönliches Glaubens-Bekenntnis der Menschen in der Hand, die daran mitgearbeitet haben. Wir begegnen darin Menschen, die den Mut hatten sich öffentlich zu äußern. Sie haben klar und deutlich ihr „Ja“ zu einer Kirche gesprochen, die einen lebendigen Gott verkündigt. Und haben sich dazu verpflichtet, so zu leben, dass dieser lebendige Gott in ihrem Tun und Machen spürbar wird.
Zur Synode gehört auch, dass einige Synodale sich nicht in diesen Haltungen und Perspektivwechseln wiederfanden. Sie stimmten entweder gegen das Abschlussdokument oder hatten den Synodenprozess schon vorher verlassen und waren von ihrem Mandat zurückgetreten.
Als ich Rad fahren lernte, war das ein prägendes Erlebnis: ich sah, wie mein Vater mir von weitem zuschaute, während ich meine ersten Meter alleine fuhr! Er traute es mir zu, selbstständig zu werden. Dabei hat er einiges unternommen, dass mir dies gelingen konnte. Er hat mich zum Radfahren motiviert, er hat mit mir geübt, er hat zum richtigen Zeitpunkt losgelassen und sich mit mir gefreut, als ich es konnte.
Wenn wir uns nun mit der Synode auf den Weg machen, dann braucht das Mut und Vertrauen. Es geht darum, dass die Botschaft des Evangeliums in unserer Zeit eigenständig und selbstständig bleibt. Ich glaube fest an einen Gott, der uns Mut machen möchte, unseren Weg mit ihm zu gehen. Gott geht mit uns unseren persönlichen Weg und den Weg mit uns als Kirche. Er vertraut uns seine Botschaft an und traut uns zu, dass wir in unserer Zeit seine Botschaft lebendig halten. Vielleicht schickt er uns deshalb ganz bewusst in diese Veränderungen unserer Zeit hinein. In eine Zeit, die davon geprägt ist, dass es nicht so weiter gehen kann wie bisher.
Vielleicht werden wir auf diesem Weg mal auf die Nase fallen, wie viele Kinder, die mit dem Radfahren anfangen. Dann hilft nur noch: aufstehen und weiter radeln. Manchmal werden wir Wege einschlagen, die nicht weiterführen. Dann hilft nur stehen bleiben und einen anderen Weg wählen.
Thomas A. Edison hat ca. 2000 Versuche gebraucht, bis er wusste, wie genau eine Glühbirne zu bauen ist. Gefragt, ob ihn die vielen Fehl-Versuche nicht mutlos gemacht hätten, hat er gesagte: „Nein, denn jetzt kenne ich 1999 Wege, wie es nicht geht.“
Es geht um einiges in dieser Zeit. Es geht darum, ob die Botschaft des Evangeliums für uns eine Wirkung hat und ob Menschen sie sich zu eigen machen. Eine schwierige Aufgabe, die viel Vertrauen verlangt. Doch es ist zu schaffen, wenn wir selbst in Gottes Botschaft vertrauen. Das kann z.B. wachsen, wenn Menschen anfangen davon zu erzählen, was ihnen an unserem Gott und an der Kirche gefällt. Wenn sie von ihrem Zweifel berichten und ihren Schwierigkeiten. Wenn sie sich ehrlich und echt dem eigenen Leben zuwenden.
Die Synode von Trier hat versucht, Räume und Gelegenheiten zu eröffnen, in und zu denen das möglich wird. Damit Gottes Botschaft für Menschen unserer Zeit zu finden und zu hören ist. Die Synode mutet uns zu, Fahrrad zu fahren. Amen.
JL 5.11.2016