Platz schaffen für letzte Erinnerungen und Begegnungen auf der Intensivstation

Von der Not-Wendigkeit eines Abschiedsraums

Mit der Seelsorge im Krankenhaus verbinden viele Menschen die Vorstellung von 1:1–Seelsorge mit Patientinnen und Patienten. Das ist nach wie vor die zentrale Aufgabe der Krankenhausseelsorge und soll es auch bleiben! Doch die Tatsache, dass Seelsorge im Krankenhaus heute stattfindet „unter den sehr spezifischen Bedingungen einer hochkomplexen, medizinisch-naturwissenschaftlich ausgerichteten und nach wirtschaftlichen Effizienzkriterien arbeitenden Großinstitution“ (Michael Klessmann) erfordert eine Ausweitung der Aufgaben auf das System hin. Hier ist die kritisch-konstruktive Kooperation mit anderen Berufsgruppen in Gremien, aber auch in Einzelprojekten gefragt, wobei Seelsorge immer die Sonderstellung hat, in diese – teils schwierigen – Prozesse, die christliche „Option für die Armen“ einzubringen. Hier muss sie mit ihrer Perspektive im interdisziplinären Dialog überzeugen.

Ich möchte hier ein konkretes Projekt vorstellen, das im St. Nikolaus-Stiftshospital Andernach realisiert wurde: die Gestaltung eines Abschiedsraums auf der Intensivstation.

Wer einmal hilflos zusehen musste, wie auf der Intensivstation um das Leben eines geliebten Menschen gekämpft wird, weiß, wie ohnmächtig man sich fühlen kann angesichts der Hochleistungsmedizin. Der ursprünglich helfende und heilende Charakter der Medizin hat sich in der Hochleistungsmedizin teilweise umgekehrt – dann, wenn sie sich verselbständigt und nicht mehr dem Menschen dient. Was für viele Menschen unbestritten ein Segen ist, kann für manchen schwerkranken, oft alten Menschen auch zum Fluch werden. Intensivmedizin rettet manches Leben – aber sie verdammt auch Menschen dazu, auf äußerst reduziertem Niveau leben zu müssen. Oft geht es über längere Zeit nur noch um die maschinelle Erhaltung von Körperfunktionen.

  • Stille tritt ein Switch

    Wenn ein Mensch auf der Intensivstation stirbt, endet plötzlich der Kampf um dieses „Zipfelchen Leben“. Die Angehörigen (und auch oft das Personal) treten plötzlich in einen ganz anderen Erfahrungsraum ein: Auf einmal endet der Glaube an die Machbarkeit, eine vielleicht lähmende Situation des „Nichts mehr tun Könnens“ entsteht, Stille tritt ein. Viele Angehörige stehen unter Schock, manche mögen sich auch befreit fühlen. Hier braucht die Seele einen geschützten Raum, wo all das sein darf: Schmerz! Trauer! Loslassen! Nicht loslassen können! Aufatmen! Hadern! Weinen! Berühren! Begreifen! Erinnern! Manche Angehörige haben vielleicht das Bedürfnis zu beten, manchen hilft das Geländer eines Segens-Rituals, an dem sie sich festhalten können.

  • Abgeschoben? Switch

    Lange Zeit gab es in Krankenhäusern keine Abschiedsräume. Die Mehrzweckräume, die zur Verabschiedung herhalten mussten, hatten eher den Charakter von Abstellkammern. Oder die Verstorbenen wurden sofort ins Kühlhaus gefahren.

    Unsere Toten ins Dunkel, in die Kälte zu schieben: Welche Hilflosigkeit, welche Beziehungslosigkeit, welche Kälte zeigt sich in diesem Umgang mit Menschen, die gerade ihr Leben beendet haben! Ein Leben, in dem sie Kinder waren, Mütter, Väter, Liebende, Freunde und Freundinnen …

    Gott sei Dank gibt es solche Entgleisungen heute nur noch selten.

  • Einen Raum der Hoffnung planen Switch

    In unserem Krankenhaus, dem St. Nikolaus-Stiftshospital in Andernach, war es der Geistesgegenwart unseres ehemaligen Krankenhauspfarrers zu verdanken, dass beim Erweiterungsumbau der Intensivstation ein Raum für diesen „Zweck“ freigehalten wurde: eine ehemalige Intensiv-Box.

    Einen solchen „Raum der Hoffnung“ zu planen und frei zu halten von Verzweckungen, das war ein Ziel, dem ich mich als Krankenhausseelsorgerin verpflichtet fühlte. Verwirklicht werden konnte dieses Ziel aber nur durch die Kooperation mit anderen Berufsgruppen, der Geschäftsführung und Geldgebern wie dem Förderverein. Das brachte die Schwierigkeit mit sich, die verschiedenen Vorstellungen, wie so ein Raum gestaltet werden sollte, unter einen Hut zu bringen: Sollte er gemütlich sein oder nüchtern? Sollte er religiösen Charakter haben oder weltanschaulich neutral sein? Sollte er ein künstlerisches Element enthalten, und wenn ja, welches?

  • Ein Abschiedsraum mit "Charakter" Switch

    In diesem Entstehensprozess war mir wichtig, Sensibilität und Verständnis dafür zu wecken, welche „Charaktereigenschaften“ ein Abschiedsraum auf der Intensivstation aus seelsorglicher Perspektive haben sollte:

    • Er sollte sich unaufdringlich abheben von der optischen und akustischen Reizüberflutung der Intensivstation, der Patientinnen und Patienten, Angehörige und Pflegende ständig ausgesetzt sind. Hier darf man eintreten in die Stille des Todes.
    • Hier sollten Angehörige spüren können, dass sie nicht mehr fremdbestimmt sind; er sollte ihnen den Raum geben, vom Objekt des medizinischen Geschehens zum Subjekt des Trauerns zu werden.
    • Er sollte ein Ort sein, an dem eine andere Dimension spürbar oder ein „Raum dahinter“ erahnt werden kann; von daher darf er sakralen, sich vom Alltag abhebenden Charakter haben.
    • Er sollte ein Ort sein, wo innere Verwandlung und Befreiung geschehen kann.
    • Er sollte nicht religiös einengen, um Trauernden verschiedener Glaubens- und Weltanschauungen zu ermöglichen, sich auf ihre Weise zu verabschieden.
    • Im Hintergrund sollten aber christlich-religiöse Symbole vorhanden sein wie Kreuz, Bibel, (brandsichere) Kerzen, Weihwasser …
    • Der Raum sollte die Angehörigen durch seine Gestaltung nicht festlegen auf bestimmte Gedanken und Gefühle: Er sollte ein „Leerraum“ sein, wo die Menschen ihren Gedanken, Gefühlen, Erinnerungen … nachgehen können.
    • Er sollte der Andersartigkeit und Fremdheit des Todes Raum lassen.
    • Er sollte einen Wechsel zwischen Nähe und Distanz zum Verstorbenen ermöglichen.
    • Er sollte einen geschützten Rahmen geben für eine letzte Begegnung und Berührung mit dem Toten, um das Unbegreifliche „be-greifen“ zu können.
    • Er sollte den unterschiedlichsten Emotionen einen bergenden Raum geben.
    • Er sollte die Möglichkeit geben, einen Toten mehrere Stunden aufzubahren, damit Angehörige, die z.B. eine weite Anreise haben, auch später noch kommen können. 
  • Licht & Transparenz lassen Hoffnung durchscheinen Switch

    Aus seelsorglicher Sicht geht es also um einen Raum, in dem die Beziehung, die Menschen im Leben hatten und über den Tod hinaus haben werden, sich im Angesicht des Todes auf jeweils spezifische Weise ausdrücken und verwandeln darf.

    Es stellte für alle Beteiligten eine Herausforderung dar, dieser ehemaligen Intensiv-Box trotz der räumlichen Enge eine „lichte“ Atmosphäre und Weite zu geben, in der im Angesicht des Todes unaufdringlich und leise Hoffnung spürbar werden kann. Es sollte nicht darum gehen, dass ein Künstler oder eine Künstlerin sich austobt, sondern das künstlerische Gestaltungselement sollte im Hintergrund dazu beitragen, dass trauernde, leidende Menschen sich aufgehoben fühlen können.

    Deshalb wählte die Projektgruppe schließlich ein Glasmosaik aus, das durch seine Transparenz Licht und so vielleicht Hoffnung durchscheinen lassen kann. Ein Mosaik kann auch verbildlichen, wie sich die vielen Facetten und Fragmente eines Lebens im Tod zu einem Ganzen zusammenfügen: Dieses Leben ist nicht nur be-endet, es wird voll-endet im Licht Gottes. Eine Innenarchitektin wurde mit der Gestaltung beauftragt. Sie entwarf ein farbenfrohes Mosaik, bezog aber auch den ganzen Raum mit ein (natürliche und künstliche Beleuchtung, Schalldämmung, Sitzmöglichkeiten …).

Abschiedsraum: Unterbrechung auch für den Klinikalltag

Mit dem Abschiedsraum verbinden die Angehörigen die letzte Erinnerung an ihren geliebten Menschen. Wir sollten nicht unterschätzen, wie prägend diese letzten Bilder für den Trauerprozess sind! Nicht unterschätzt werden sollte aber auch, welche Bedeutung ein solcher Raum für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eines Krankenhauses hat. Auch sie sind ja plötzlich damit konfrontiert, nichts mehr tun zu können, wenn der Tod eintritt. Im Abschiedsraum darf Unterbrechung und Verlangsamung sein. Das kann eine entlastende, tröstende Wirkung auf die Pflegenden haben, die sich ja oft selber in den medizinisch-funktionalen Abläufen gefangen fühlen. Der Abschiedsraum bietet ihnen die Möglichkeit, sich mal kurz auszuklinken und auf ihre Weise selbst Abschied zu nehmen von Menschen, zu denen ja auch sie – nicht zuletzt durch die Intimität der Körperpflege – eine Beziehung aufgebaut haben.

Ich vermute, dass ein Abschiedsraum auf Dauer auch Wirkung zeigen wird ins Krankenhaus hinein – und darüber hinaus. Er ist ein Signal, dass in einem „Gesundheitszentrum“ (wie sich heute manche Krankenhäuser gerne bezeichnen) auch der Tod vorkommen darf. Gerade ein Krankenhaus in kirchlicher Trägerschaft sollte sich durch eine gute Abschieds- und Erinnerungskultur auszeichnen. Eine wichtige Form, diese Aufgabe zu erfüllen, besteht darin, im Zusammenwirken mit Vertreterinnen und Vertretern der anderen Berufsgruppen und der Krankenhausleitung Orte zu etablieren, an denen sich das im Krankenhausalltag festmachen lässt. Die Einrichtung des Abschiedsraums hat gezeigt, dass das möglich ist.

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