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Geroldshausen (Kreis
Würzburg)
Jüdische Geschichte / Synagoge
Übersicht:
Zur Geschichte der jüdischen Gemeinde (english
version)
In Geroldshausen bestand eine jüdische Gemeinde bis
1938/41. Ihre Entstehung geht in die Zeit des 17./18. Jahrhunderts
zurück. Doch gibt es Hinweise auf jüdisches Leben am Ort bereits in der
Mitte des 14. Jahrhunderts: als 1345 Kraft von Hohenlohe und seine Frau Anna dem
Hochstift Würzburg u.a. das Dorf Gerolfshausen verkauften, werden bezüglich
Geroldshausen ihre "Schulen bei Christen und Juden" genannt, die aus dem
Verkaufserlös beglichen wurden.
Bei der Erstellung der Matrikellisten 1817 werden in Geroldshausen auf den insgesamt
10
Matrikelstellen die folgenden jüdischen Familienvorstände
genannt (mit
bereits neuem Familiennamen): Isack Neumann (Judenvorsteher), Herz Straus, Moses
Adler, Joseph Mayer, Joel Hirsch, Isak Weinberg, Zibore Mayer (Witwe von
Samuel), Anna Blum (Witwe von Löb), Hipfe Hermann (Witwe von Moses) und Salomon
Hermann.
Im 19. Jahrhundert entwickelte sich die Zahl der jüdischen Einwohner
wie folgt: 1814 50 jüdische Einwohner (in 11 Familien, 21,5 % von insgesamt 233 Einwohnern),
1867 35 (11,2 % von insgesamt 313), 1890 28 (8,4 % von 335), 1899 21 (in fünf
Haushaltungen), 1900 17 (5,0 % von
337). Nach dem unten zitierten Dokument von 1843 bildeten den "Israelitische
Kultusvorstand" die Herren Moses Mayer, Samuel Strauß, Benjamin Strauß, Moses
Strauß, Joseph Maier, Jacob Adler, Isak Weinberg, Joseph Adler, Salomon
Herrmann, Jacob Neumann, Isak Maier, Moses Neumann. Vermutlich setzte sich
der Gemeindevorstand damals aus allen Familienvorständen zusammen.
An Einrichtungen waren eine Synagoge (s.u.), eine Religionsschule und ein
rituelles Bad (Mikwe) vorhanden. Die Toten der Gemeinde wurden auf
dem jüdischen Friedhof in Allersheim
(teilweise möglicherweise auch in Wenkheim)
beigesetzt. Zeitweise hatte die jüdische Gemeinde gemeinsam mit der
Nachbargemeinde Kirchheim einen jüdischen Lehrer angestellt, der zugleich als
Vorbeter und Schochet tätig war. 1878 bis 1895 war für die beiden Orte Lehrer
Julius Sommer zuständig. 1896 wird als Lehrer in Geroldshausen Herr Kahn
genannt. 1897/98 Lehrer Strauß. Um 1899 wurden die jüdischen Kinder in Kirchheim
und Geroldshausen durch Lehrer E. Schloss aus Giebelstadt unterrichtet (1898/1903
vier Kinder aus Geroldshausen). Die Gemeinde gehörte zum Bezirksrabbinat in Kitzingen, seit
1937 zum Bezirksrabbinat Würzburg.
Als Gemeindevorsteher werden genannt: um 1896/1897 Herr Strauß, um 1899 S. Neumann, um 1903 H.
Strauß, 1932 Jakob Maier.
1933 und 1939 lebten noch jeweils neun jüdische Personen in
Geroldshausen (1,9 % von insgesamt 484). Durch die zunehmenden Repressalien und
die Folgen des wirtschaftlichen Boykotts verarmten die hier noch lebenden Juden:
1937 waren vier unterstützungsbedürftig geworden. Über Ausschreitungen gegen
die jüdischen Einwohner beim Novemberpogrom 1938 ist nichts bekannt. 1940/41
konnten noch fünf der jüdischen Einwohner in die USA emigrieren, einer verzog
1940 nach Würzburg, von wo aus er im September 1942 in das Ghetto
Theresienstadt verbracht wurde. Die letzten beiden jüdischen Einwohner von
Geroldshausen (Schuhhändler Salomon Bierig und seine Frau Therese geb. Mayer) wurden am 24. April 1942 über Würzburg nach Izbica bei Lublin
(Polen) deportiert.
Von den in Geroldshausen geborenen und/oder längere Zeit am Ort
wohnhaften jüdischen Personen sind in der NS-Zeit
umgekommen (Angaben nach den Listen von Yad
Vashem, Jerusalem und den Angaben des "Gedenkbuches
- Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen
Gewaltherrschaft in Deutschland 1933-1945"): Jakob Ackermann (1866), Salomon Bierig (1886), Therese Bierig geb. Mayer
(1888), Regina Eisemann (1859), Regina Fisch geb. Main (1872), Siegfried Friedlein (1875), Theresia Friedlein (1885),
Emma Maier
(1866), Hermann Maier (1879), Abraham (Alfred) Neumann (1876), Bella (Isabella) Neumann geb. Hahn
(1879), Felix Neumann (1872), Moritz (Moses) Neumann (1876), Sofie Solinger geb. Strauss
(1867), Regina Strauß geb. Strauss (1872).
Hinweis: drei der in einigen Opferlisten genannten Personen sind nicht
umgekommen. Dies betrifft Jakob Maier (1882; vgl.
https://de.findagrave.com/memorial/208947787/jacob-maier) und seine Frau
Mina Maier geb. Strauss (1891; vgl.
https://de.findagrave.com/memorial/208947788/mina-maier). Beide konnten 1941
in die USA emigrieren. Ihr Sohn Heinz Salo Maier (1924) ist 1939 nach
England emigriert und von dort 1947 in die USA ausgewandert (vgl.
https://de.findagrave.com/memorial/109392086/heinz-salo_israel-maier). Tochter Bella
konnte bereits 1938 mit Onkel und Tante (Schwester der Mutter) Deutschland in
Richtung USA verlassen. Der in die USA emigrierte Heinz Maier kehrte nach dem
Krieg noch einmal kurzzeitig mit der US-Armee nach Geroldshausen zurück. Er hatte mit seinem Vater vor der Flucht die Unterlagen der
jüdischen Gemeinde versteckt. Sie blieben erhalten und sind wichtige Dokumente
für die jüdische Geschichte der Region.
Berichte aus der Geschichte der jüdischen Gemeinde
Aus dem jüdischen Gemeindeleben
Rückblick: Esrogim-Mangel (1810) - Geroldshausen und Kirchheim kaufen gemeinsam
ein Esrog (Etrog)
Anm.: bei einem Esrog (beziehungsweise Etrog) handelt es sich um eine
Zitrusfrucht, die beim Sukkotfest (Laubhüttenfest) Verwendung findet;
siehe Wikipedia-Artikel
"Etrog"
Artikel
in der Zeitschrift "Der Israelit": Esrogim-Mangel in alter Zeit.
In dem mir vorliegenden Memorbuch der Gemeinde Giebelstadt in Unterfranken
(hier aus dem Hebräischen übersetzt) berichtet ein Chronist: 'Zur
Erinnerung! Im Jahre 571 der kleinen Zeitrechnung (d.i. 1810) hat die
hiesige Gemeinde ihr Esrog, das einzige am Ort, für 20 Gulden rheinisch
kaufen müssen. Die beiden Gemeinden Geroldshausen und Kirchheim kauften
eines gemeinsam für zwei Karlin, ebenso Allersheim und
Bütthard. Solche
Esrogim wurden in wohlfeilen Zeiten leicht für 24 Kreuzer (= 72
Reichspfennig) gekauft. Vorbeter Lämmle b. Mhhr* Benjamin'.
Was der Grund der Teuerung gewesen, wird nicht angegeben. Möglich, dass
politische Hinderungsgründe in der damaligen Napoleonischen Zeit die
Einfuhr erschwerten."
*Mhhr Abkürzung für: "unser Lehrer, der Chawer, Herr...",
Bezeichnung für einen Gelehrten. |
Aus der Geschichte der jüdischen Lehrer
Zum Tod von Julius Sommer - Lehrer in der Gemeinde von
1878 bis 1895, gestorben 1927 in
Wittelshofen
Anmerkung: der Artikel erschien auch in
den "Mitteilungen des Israelitischen Lehrervereins für Bayern" Jahrgang 1927 S.
2.
Artikel
in der "Bayerischen Israelitischen Gemeindezeitung" vom 7.
Januar 1927: "Am Montag, dem 27. Dezember, wurde ein treuer Kollege,
Lehrer Julius Sommer von Wittelshofen, zu Grabe getragen. Sommer, der am
16. Oktober 1858 in Höchheim geboren war, wirkte von 1878 bis 1895 in den
Gemeinden Geroldshausen-Kirchheim bei Würzburg, und seit dieser Zeit,
also über 31 Jahre, in Wittelshofen. Viele Jahre hindurch betreute er
auch die Nachbargemeinde Wassertrüdingen.
Fast vollzählig gab ihm seine Gemeinde das letzte Geleit zum weit
entfernten Begräbnisplatz in Schopfloch
und zeigte damit, wie sehr sie ihren Beamten schätzte. Vor dem
Trauerhause würdigte Bezirksrabbiner Dr. Munk (Ansbach)
in einem ehrenden Nachrufe die verdienstvolle Tätigkeit wie das
anspruchslos und bescheidene Wesen des Dahingeschiedenen, worauf die
Kultusvorstände von Wittelshofen und Wassertrüdingen dem geliebten
Lehrer und langjährigen geistigen Führer Worte warmer Anerkennung und
herzlichen Dankes widmeten. Am Grabe sprachen Lehrer Rosenstein
(Schopfloch) für den israelitischen Lehrehrverein, Hauptlehrer Levite
(Gunzenhausen) für die Bezirkskonferenz Ansbach und Lehrer Erlebacher (Mönchsrot)
als Nachbarkollege. Tov schem mischemem tov! Der gute Name, den der
wackere Kollege hinterlassen hat, gereicht mit der trauernden Familie auch
dem Lehrerstande zur Ehre. Max Levite (Gunzenhausen). |
Berichte
zu einzelnen Personen aus der jüdischen Gemeinde
Über den aus Geroldshausen
stammenden Rabbiner Dr. Abraham Neumann und sein Wirken in Riga (1854)
Dazu: Tobias Grill: Abraham Neumann als Beamter für besondere Aufgaben
in jüdischen Angelegenheiten beim General-Gouverneur Liv-, Est- und Kurlands.
In: Aschkenas. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden. 15. Jg., Heft 1,
2005. S. 55-109.
Online eingestellt (pdf-Datei).
Abraham Neumann ist 1809 in Geroldshausen geboren, studierte ab 1822 in der
Fürther Jeschiva, seit 1827 an der Würzburger Universität. Promotion in Gießen
1833. Danach war er Lehrer bei Baron von Hirsch in Würzburg; rabbinische
Ausbildung in Bayreuth. 1843 Anstellung als Prediger und Schuldirektor (siehe
Predigt unten vor seiner Abreise nach Riga in der Synagoge Geroldshausen), ab
1854 als Rabbiner in Riga. 1863 erster offizieller Rabbiner von St. Petersburg.
Dr. Abraham Neumann starb am 22. August 1875 in St. Petersburg.
Artikel
in der "Allgemeinen Zeitung des Judentums" vom 16. Januar 1854: "Russland.
Riga, im Dezember. (Privatmitteilung). Nach längeren Wahlkämpfen ist
soeben Dr. Abraham Neumann aus Geroldshausen bei Würzburg, seit 10
Jahren Prediger der hiesigen israelitischen Gemeinde und Oberlehrer der
Ebräer-Schule, von seiner Durchlaucht dem Herrn General-Gouverneur der
Ostsee-Gouverneurnements Fürsten Suworow als Rabbiner bestätigt
worden.
Wenn jemals ein wahres Verdienst durch Verleihung einer höheren Amtswürde
eine gerechte Anerkennung gefunden hat, so ist es diesmal geschehen. Seit 10
Jahren wirkt Dr. Neumann hier fern von der Heimat, gar manchmal verkannt von
einem Teil derjenigen, denen seine besten Geistes- und Lebenskräfte gewidmet
sind, unter vielfach hemmenden Verhältnissen für die Veredlung seiner
Glaubensbrüder. Seine Lebensstellung war bis jetzt durch Entbehrungen aller
Art bedingt und durch Opfer bezeichnet, die an anderen Orten hingereicht
hätten, den größten Teil seiner Lebensexistenz zu begründen. Selten ist ein
Mann in seinem Wirkungskreise so anspruchslos und bescheiden aufgetreten wie
er. Jede Kundgabe an die größere Öffentlichkeit durch Schriftwerke hat er
teils aus zu großer Bescheidenheit vermieden, teils die dafür erforderliche
Zeit nicht seinen unmittelbaren vielseitigen Berufsgeschäften zu entziehen
gewagt.
Dr. Neumanns Tätigkeit umfasst zuerst die Leitung der aus drei Klassen
bestehen den hiesigen Ebräer-Schule, an der außer ihm noch zwei
israelitische und ein russischer Lehrer angestellt sind. Ein großer Teil der
meist in der entlegenen moskauer Vorstadt wohnenden Schüler lebt in
drückender Armut, die bisweilen so groß ist, dass durch Kleidungsmangel der
Schulbesuch verhindert wird. Wie schwer bei solchen Zuständen Bücher und
Schulbedürfnisse zu beschaffen sind, ist selbstverständlich. Da gilt es erst
zu helfen, bevor gelehrt werden kann. Mit welchen Vorkenntnissen die Kinder
zur Schule kommen, welche häusliche Anregung zum Lernen Ihnen wird, wenn
jeder Tag der Familie ein Kampf um die ersten Bedürfnisse des Lebens bringt,
darf nicht erörtert werden. Trotz dem sprosst, wenn auch langsam, die
jüngere Generation immer gedeihlicher auf, nimmt an der allgemeinen Bildung
der Zeit je nach Stand und Fähigkeit einen immer lebendigeren Anteil,
wodurch ihr Glück in der Zukunft immer mehr begründet wird. Gilt das von
denen, die aus der Schule unmittelbar ins bürgerliche Leben übergehen, so
stellt sich Dr. Neumann's Wirken noch erfreulicher heraus und ist noch
bestimmter zu erkennen bei den Schülern, die von der ebräischen Schule aus
das Gymnasium besuchen. Diese werden nach Quarta und Tertia aufgenommen,
wobei bemerkt werden muss, dass der Unterricht im Lateinischen und
Griechischen nicht Schulgegenstand ist, sondern den Fähigern
unentgeltlich privatim von Dr. Neumann erteilt wird.
Durch mehrere ehrende Schreiben seiner Exzellenz des Herrn Kurators der
dorpater Universität und des dorpater Lehrbezirks, General von Craffström,
sind die Verdienste Neumanns um die Schule anerkannt worden und auf
Vorstellung des Herrn Kurators wurde Dr. Neumann vom Herrn Minister der
Volksaufklärung im vorigen Jahre die Inspektion und Revision der ebräischen
Schulen im Kurland übertragen, woran seine Durchlaucht der Herr
Generalgouverneur, Fürst Suchowow, den Auftrag anschloss, die
kurländischen Ebräergemeinden in Hinsicht ihres ökonomischen und südlichen
Zustandes zu inspizieren. Von Seiner Durchlaucht wurde Dr. Neumann außerdem
zum Beamten für besondere Aufträge bezüglich jüdischer Angelegenheiten in
den Ostsee-Gouvernements gewählt und durch Reskript des Herrn Ministers des
Innern vom August 1851 bestätigt. - Ein solches ehrendes Vertrauen wird hier
nicht so leicht errungen, man gibt es nur erprobter geistiger und
Charaktertüchtigkeit.
Wenden wir uns zu dem religiösen und geistlichen Wirken Neumann's, zunächst
zu seinen Predigten. In unseren Zeiten sind gute Predigten nichts Seltenes,
aber die allgemeine Bildung hat alle Schichten |
der
Gesellschaft so umfassend durchdrungen, der Einfluss des gedruckten,
belehrenden und erbauenden Wortes ist ein so allgemeiner geworden, dass auch
die besten religiösen Reden trotz der lebendigen Macht ihrer Unmittelbarkeit
Gefahr leiden, nur einen gewöhnlichen vorübergehenden Eindruck zu machen,
wenn sie nicht lebendige Taten des Glaubens, bibelgeborene Zeugnisse der
göttlichen Wahrheiten sind. Das oratorische Kunstwerk allein tut es nicht,
und ebensowenig tun es die Wort-Blumengirlanden, die so manchen geistlichen
Redner zum Modeprediger seines Ortes oder seiner Gegend machen. Nicht der
augenblickliche Eindruck gibt einer Predigt ihren wahren Wert, sondern die
Wirkung, die sie nach Tagen, Wochen oder Jahren in der Seele der Hörer
zurückgelassen hat, denn sie soll nicht nur ein Schmuck des Feiertags,
sondern weit mehr ein geistiges Kleid für das Werktagsleben sein. Mit
solchen Gewändern dürfen wir Neumann's Predigten vergleichen. Im Bau
derselben der Homilie genährt, ohne der thematischen Gliederung zu
entbehren, zeichnen sie sich durch Klarheit, Einfachheit und die
eindringlichste Lebendigkeit aus. In ruhiger Gedankenplastik baut er, aus
dem göttlichen Wort Stein für Stein entnehmend, der Feier des Tages einen
Tempel, und weil er den geheiligten Kreis nie verlässt, so erhält auch die
Form seiner Reden unwillkürlich die lebendige Kraft, den unmittelbaren
Gehalt, die ergreifende Wirkung, welche niemals alleiniges Menschenwerk ist.
Es ist darum kein Wunder, dass Neumann's Predigten und namentlich seine
Festreden, noch nach Jahren in der Erinnerung der Hörer bleiben. Er gibt
weder abstrakte Dogmatik, noch nüchterne Nützlichkeitsmoral, sondern führt
unmittelbar mit wenigen Worten in die rechte Stimmung des Festes und des
Themas und lässt dieses mit seinem Ursprung, seinem tatsächlichen Gehalt und
seiner geistigen Bedeutung selbst sprechen. Aber so kann auch nur ein Mann
predigen, der in Gegenwart der höchsten Landesautorität nicht nach irdischem
Beifall hascht, sondern nur für Glauben und Glaubenstreue seine Stimme
erhebt.
Wir haben zum Schluss noch einer Seite von Neumanns segensreichem Wirken zu
denken, der unscheinbarsten und schwierigsten. Es ist seine
gesellschaftliche Stellung zu einem großen Teile der einzelnen
Gemeindeglieder. Sein Einfluss, sein Rat, sein Beispiel und Umgang sind für
sie zu allen Zeiten belehrend, fördernd erhebend gewesen, und sein Haus
steht allen, dem Bedeutendsten wie dem Geringsten offen, der ihn suchen
will. Diese Hingebung, so ausgedehnt, wie sie Dr. Neumann ausübt, verlangt
manches Zeitopfer, aber es ist wohl auch die schönste Pflicht eines
Seelsorgers, wenn er auch außer dem Gotteshause für das Wohl seiner Gemeinde
lebt, Freude und Leid mit ihren Genossen teilt, und für alle
Lebensverhältnisse zu Ermunterung, Belehrung, Rat und Trost sich Ihnen
hingibt. Zu diesen Kreisen kommt die große Zahl Armer und Unglücklicher, für
die es gilt, unmittelbar tätige Hilfe zu geben, oder zu verschaffen. Bald
ist es die Not des Lebens, die augenblicklich gelindert werden muss, bald
ist es eine Lebenssorge, die eine Verwendung bei einer Behörde erheischt;
bald gilt es einem Ratlosen eine neue Lebensbahn zu eröffnen, oder
unerwartete Hindernisse auf der gewohnten zu beseitigen. Überall wirkt und
schafft Neumann, hilft den Bedürftigen, tröstet die Traurigen, gibt Rat den
Ungewissen, fördert die Schwachen. Und das alles geschieht so anspruchslos
und im Verborgenen, dass oft nur die Beteiligten selbst etwas davon wissen,
es geschieht durch Antriebe, die nicht von außen kommen. Wir dürfen es nicht
verschweigen, dass es ganz der geistigen Stärke bedarf, die nur ein edler
Charakter gibt, um Berufs- und Menschenpflichten so auszuüben wie Dr.
Neumann es tut, denn gar manche Hindernisse sind ihm von der Partei derer
unter seinen Glaubensgenossen entgegengestellt worden, die sich mit dem
wahren Geist des Judentums noch immer nicht befreunden wollen. Aber Geduld,
Nachsicht und Liebe überwindet alles; sie wird auch Neumann über seine
Gegner siegen und jetzt noch ihm Abgewendete ihm zuwenden helfen."
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Zur Geschichte der Synagoge
Die Synagoge wurde in der
ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erbaut. In der Synagoge wurden zwei
wertvolle Toraschrein-Vorhänge von 1843/44 aufbewahrt, möglicherweise
aus der Zeit nach der Einweihung der Synagoge. Bei der Synagoge handelte es
sich um einen Sandsteinbau. Im Gebäude befand sich auch die
Lehrer-/Vorbeterwohnung.
Die nachstehende, in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 21. August 1843
geschilderte Begebenheit fand in der Synagoge Geroldshausen statt. Die Gemeinde
hatte den aus Geroldshausen stammenden Lehrer Dr. Neumann vor seiner Abreise nach Riga auf
den Schabbat, 29. Juli 1843 zu einer Predigt in der Synagoge geladen:
Unser
Landsmann, der als Prediger und Schuldirektor nach Riga berufene Herr Dr.
Neumann hat uns vor seiner Abreise an seinen Bestimmungsort einen so hohen
geistigen Genuss bereitet, dass wir uns gedrungen fühlen, ihm hierfür
den tiefgefühltesten Dank der hiesigen Kultus-Gemeinde öffentlich
auszusprechen. Derselbe erfreute uns nämlich auf unseren dringenden
Wunsch am Schabbat Paraschat Matot uMase (4. Mose 30,2-32,4 und
33,1-Ende, Datum: 29. Juli 1843) mit einer dreiviertelstündigen Predigt,
worin er sich unter Zugrundelegung der Wochenabschnitte mit lichtvoller
Klarheit und eindringlicher Beredsamkeit über die rechte Art und Weise
verbreitete, wie wir vor Gott einher ziehen müssen, um das gelobte Land (Olam
haba, die kommende Welt) in Besitz zu nehmen. Sämtlich jüdische, wie
nichtjüdische Zuhörer waren von dem hinreißenden Vortrage aufs tiefste
ergriffen und wussten nicht, ob sie mehr den sich darin entfaltenden
Reichtum an schönen, kernhaften, mitunter überraschend neuen Gedanken,
oder die von hoher Begeisterung zeugende ausgezeichnete Diktion bewundern
sollten. Man hatte hier die schönste Gelegenheit, die unwiderstehliche
Macht der aus dem innersten Herzen strömenden Überzeugung wahrzunehmen;
denn kein Herz blieb ungerührt, kein Auge trocken. Wohl der Gemeinde, der
es gelungen, einen solchen Prediger und Jugendbildner zu akquirieren! Wohl
ihr, die aus solchem Munde Gottes heiliges Wort verkünden hört!
Herrn Dr. Neumann begleiten unsere heißesten Segenswünsche in seine neue
Heimat. Seine schönen Abschiedsworte werden wir als teures Andenken in
unserem Herzen bewahren und danach handeln. Möge er in Riga fruchtbaren
Boden für seine Wirksamkeit finden, und ihm dort die Anerkennung zuteil
werden, deren ihn sein biederer Charakter, seine vorzüglichen Kenntnisse
und sein Feuereifer für Israels Heil so würdig machen!
Geroldshausen in Unterfranken im August 1843. Der israelitische
Kultusvorstand: Moses Mayer, Samuel Strauß, Benjamin Strauß, Moses
Strauß, Joseph Maier, Jacob Adler, Isak Weinberg, Joseph Adler, Salomon
Herrmann, Jacob Neumann, Isak Maier, Moses Neumann. |
Wie lange die Synagoge auf Grund der klein gewordenen Zahl der
jüdischen Einwohner (bereits um 1900 dürfte es große Schwierigkeiten beim
Zustandekommen des Minjan gegeben haben) zu regelmäßigen Gottesdiensten
genutzt wurde, ist nicht bekannt.
Über Ausschreitungen gegen die jüdischen Familien oder gegen die Synagoge beim
Novemberpogrom 1938 liegen keine Informationen vor (nach Ophir/Wiesemann
und Schwierz). Die ehemalige Synagoge blieb nach 1945 erhalten, kam in
Privatbesitz und wurde zu einem bis heute bestehenden Wohnhaus umgebaut. Die
Bausubstanz ist noch fast vollständig erhalten.
Adresse/Standort der Synagoge: Hauptstraße 12
(früher "Im Judenhof")
Fotos
(Quelle: Schwierz, s.Lit. S. 59)
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Die ehemalige Synagoge als
Wohnhaus (1987) |
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Weitere Fotos
werden noch ergänzt; über Zusendungen freut sich der
Webmaster von
Alemannia Judaica, Adresse siehe Eingangsseite |
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Literaturhinweis:
zu Ulrich Völkleins "Judenacker"
2001/2002 sorgte das Buch des Autors und Journalisten Ulrich Völklein (geboren
1949 in Geroldshausen) für Unruhe und Gesprächsstoff im Ort. Unten sei die
Buchbesprechung von Peter Roos aus DIE Zeit Nr. 51/2002 - ein Jahr nach
Erscheinen des Buches und mit einem Rückblick auf den Umgang mit dem Buch -
wiedergegeben:
Aus der Zeitschrift: "DIE ZEIT"
"Nix mehr wiss!" Wie ein Dorf in Franken mit seinem "Judenacker" lebt –
und einem Buch darüber
Von Peter Roos
Geroldshausen, ein kleines Dorf im Fränkischen bei Würzburg an der Bahnlinie Stuttgart–Berlin. Landwirtschaft, mittelständische Betriebe, 870 Seelen, Schlafstatt der Städte drum herum – Idylle, Runkelrüben, Pferdekoppel, Kühe auf der Weide. Wenn nur dieses Buch nicht wäre!
Da erbt ein Hamburger Autor 5200 Quadratmeter Ackerland aus örtlichem Familienbesitz und freut sich. Aber ganz so einfach ist ein deutsches Erbe nicht. Denn das unschuldige Fleckchen Mutterboden trägt den Flurnamen "Judenacker". Arisierter Besitz? Der Bedachte wird misstrauisch. Nicht umsonst hat er fünf Abhandlungen zum Nationalsozialismus geschrieben. Der Vater war bei der Leibstandarte Adolf Hitler, der Großvater Parteigenosse erster Stunde, als Ingenieur am Bau des Führerbunkers Wolfsschanze beteiligt. Judenacker? Geroldshausen? Den Flecken kennt der Publizist Ulrich Völklein nicht nur aus seiner Kindheit bei der Omi. Der in Würzburg Geborene hat die erste Biografie des KZ-Arztes Mengele verfasst und weiß deshalb, dass der Auschwitz-Arzt und Mengele-Chef, der 1909 in Würzburg geborene Dr. med. Eduard Wirths, aus diesem Dorfe stammt.
Ein Acker von Juden? Judenacker? Ein Jahr lang recherchierte sich Völklein durch die lokalen Schweigemauern hindurch in die Archive bis nach Amerika hinüber, und am Ende der Reise heißt sein "Tatsachenroman" dann Der Judenacker. Eine Erbschaft, erschienen 2001. Völklein erzählt die 600-jährige Geschichte der Geroldshauser Juden. Am Einzelfall einer kleinen Kommune entfaltet er das ganze antisemitische Drama unserer Geschichte, berichtet von mittelalterlichen Massakern, Plünderungen und Pogromen; eine Horror- und Terrorgeschichte wird ausgebreitet von Berufsverbot, Ausgrenzung, Mordbrennerei, Niederlassungsbeschränkung, Namenszuweisung, Heiratsverbot und Schutzgelderpressung. Eine so plastisch komponierte Chronik, dass der Leser mühelos nachvollziehen kann, welch leichtes Spiel die Nazis ab 1933 hatten. Auch in Geroldshausen.
Der "Tatsachenroman" stellt griffig in das Geflecht um die Dorfjuden drei lokale Helden, die als Einzelschicksale den allgemeinen Lauf von Lebensgeschichte in brauner Zeit vertreten. Völklein lässt den KZ-Standortarzt Wirths auftreten, der sich nach 1945 das Leben nimmt; er lässt den Sohn des "Viehjuden" fiktiv berichten von Ausgrenzung, Vernichtung bis zur so genannten "Entschädigung" nach dem Krieg, und vor allem schont der Autor nicht sich und seine Familie: Der SS-Vater will sich der Verhaftung durch Flucht in den Gemeindewald entziehen, und zuvor lässt er sich vom Dorfdoktor Mühlhäuser die SS-Nummer aus dem Oberarm schneiden. Wie "entjudet" und arisiert wird, was aus Synagoge und Badehaus wird – alles erwähnt mit vollen Namen. Und als die einst wohlhabenden jüdischen Mitbürger mit dem erlaubten 20-Kilo-Koffer und dem zulässigen Restbesitz von 400 Mark zum letzten Mal morgens um sechs mitten durchs Dorf zum Bahnhof gehen müssen, zum Transport ins KZ via Würzburg, da, rapportiert die Erbschaft, hätten die Dörfler alle ihnen nachgesehen, und keine einzige Seele habe sich verabschiedet. Und? Jetzt? Geroldshausen? Wie gehen Leute und Leser dort mit diesen Enthüllungen und Entblößungen ihrer nächsten Heimat um?
Ein Riss geht durch die Bevölkerung. Er trennt kantenscharf die Einheimischen von den Zugereisten. Gelesen hat, das sagen alle, das halbe Dorf die 250 Seiten. Zumindest weiß ein jeder, dass es "so was" gibt. Dafür sorgte nicht das Buchgeschäft, sondern die lokale Main Post. Auf einer Zeitungsseite wurde Völkleins Untersuchung vorgestellt und war sofort in aller Munde. Wirbel gab’s, die Aufregung war groß, die erste Unruhe seit 1975, als ein holländisches Fernsehteam die Idylle mit der Suche nach dem Standortarzt von Auschwitz schon einmal störte. Da wollten die Dörfler sich kaum den Fragen der Fremden stellen, vor allem wollten sie "ihr Ruh". "Nur Stunk hat der Schmöker gemacht", sagt der Bürgermeister.
Mit Sicherheit ist dieser Judenacker tief in die Seele des Gemeindekörpers eingedrungen. Zu heftig reagiert das Pro und Contra heute noch, wenn nach dem Buch gefragt wird, obwohl es vor einem Jahr erschienen ist – das öffentliche Reden und die familiäre Diskussion sind längst versandet. Aber der Schwelbrand ist sofort entfacht, auch wenn es aus dem Friseursalon ertönt: "Es ist vorbei!" Was ist vorbei? "Die Zeit des Buches und die Zeit der Juden." Die Alten hätten schon einmal ein Wort dazu verlauten lassen, "zu den", Pause, "Juden", aber die junge Kundschaft wäre für "so ein Thema" nicht alt genug. Und weil es keine Wartezeiten, sondern heutzutage nur Termine gäbe für Messerschnitt und Dauerwelle, würde nun "nicht mehr geratscht". Auch im Kleintierzuchtverein "ist irgendwo mal drüber gesprochen worden und so Juden, die ham hier auch halt mal gewohnt". Der Ton? Gereizt. Ein alter Handwerksmann, der den Nazis trotzte, sie verspottet haben soll – wütend schleudert er den Hörer auf die Gabel; zuvor schreit er ins Telefon, er wolle davon "nix mehr wiss", der Anrufer sei "komisch" und "ein Heini". Auch der Kindergarten ist "der falsche Ansprechpartner", weil die Eltern, die die Kinder bringen, "20 Jahre alt bis 40" sind, die haben "nie nich drüber gredt"; aber "ghört hat man" natürlich, dass "es so ein Buch" gegeben haben sollte. "So ein Buch."
Geroldshausen? Das offizielle Dorf, die Gemeinde und ihre Verwaltung – beide mauern. Der Bürgermeister hat "schon mal darin gelesen", aber viel von seiner Ortschaft weiß er eh nicht, "was da defensiv gelaufen ist", sagt er und meint definitiv, denn erst seit 1976 wohnt er hier. Jedenfalls hat ihm "der Schmöker ganz schön viel Stunk gemacht, die einen sagen ,einseitig‘, die andern sagen ,richtig‘ – was soll man dazu sagen?" Und sein Administrator sekundiert: "Wie soll man mediengerecht damit umgehen?" Der zweite Meister seiner Bürger "möchte momentan dazu überhaupt nichts sagen. Wir haben aktuell brennendere Probleme, der Radweg, unsre Sporthalle. Aber", tröstet er, "die Nazizeit ist nicht aus der Welt!" Einen Tagesordnungspunkt ist der Judenacker der Ratsversammlung nicht wert. Im offiziellen Gemeindeboten kommt das Buch nicht vor, die Legenden des lokalen Bildkalenders schweigen. Gedenktafel? "Warum?" "Wieso?" "Wohin?" In der Schule sind die Kinder "dafür" noch zu klein, der Lehrplan sieht die Römer vor. Sagt die Lehrerin, die in der umgebauten Synagoge aufgewachsen ist. Der Vorschlag, den Judenacker von Völklein zu erwerben, von der Familie Wirths, die ein Steinwerk führt, eine Felsspende zu erbitten, einen der Bildhauer aus der Gegend mit einem Nach-Denkmal zu beauftragen – Unverständnis, Schweigen und Entsetzen: "So was wurde nicht mal angedacht!" Und den Verfasser Völklein zu Lesung und Gespräch zu laden? "Kein Handlungsbedarf!"
Also lädt er sich selber ein zur Buchpräsentation vor 50 Besuchern im Wirtshaus Anfang November. Niemand begrüßt ihn offiziell, kein Bürgermeister, kein Gemeinderat, kein Pfarrer oder Lehrer leitet die Diskussion. Harscher Widerstand der Dörfler gegen die Moralkeule: "Sie brauchen über unsere Juden nicht zu schreiben!" Dafür bittet man den Autor zweimal in der Universitätsstadt Würzburg zur Lesung, einmal in der Alten Synagoge Kitzingen, und in Ochsenfurt empfängt ihn ein beschmiertes Plakat: das Foto ausgeixt, der Name ersetzt mit Filzstift – "Ich Arschloch".
Im Publikum gibt’s Wut und Tränen und manch fahl gewordenes Gesicht, es kommt aus Geroldshausen. Meist sind es sowieso die so genannten Neubürger, die "ihre" Gemeinde ins Flutlicht gestellt sehen. Kein Wort in der Diskussion. Danach steht man zusammen, stumm. Einige wollen "es" nicht wahrhaben, andere begreifen nicht, die Dritte fährt täglich mit Gänsehaut im Zug die Strecke, auf der die letzten Juden deportiert wurden. "So sind die Dörfler, ganz genau beschrieben!", sagt sie halblaut; laut will sie nichts gesagt haben, sie sei nur angestellt und alleinerziehend.
Die "Neigschneitn", "Zugreisten", die "Fremden", "Künschdler" oder "die WG" – das sind die, die "das alles" immer wieder "vorzerren", "auffrischen" und "sich einmischen", "wo die doch erschd seit 20 Jahren hier wohnen!"
Das stimmt natürlich nicht, denn es gibt auch Eingeborene, die nicht abwehren und aufrechnen, herumrechten und beckmessern am Einzelfall: Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Der Vater des Exbürgermeisters beispielsweise, einer vom "weißen Jahrgang", der findet "das Buch in Ordnung, wichtig und nicht schlecht". Es entspräche der Wahrheit bis auf zwei, drei Fakten; vor allem hat ihn sehr beeindruckt, dass "die Familie von dem Verfasser nicht geschont wird".
Von alldem will man in den Kneipen "rein gar nichts gehört" haben, und was in der Silver-Ranch oder in der Krone gesprochen worden sei, "geht niemand etwas an". "Flaute" und "totale Stille" herrsche um das Buch, wo vorher "zu viel Wind war", bilanzieren zwei Geschäftsleute, die hier nur wohnen. Man sei "empört gewesen und enttäuscht, weil das Buch so voller Fehler" sei, aber mehr darüber wolle man nicht sagen: "Die Geschichte ist zu heiß!" Denn wenn jemand erführe, dass man sich "positiv zum Judenacker geäußert hat, dann ist die Scheiße am Kacken". Die gute Nachbarschaft sei wichtiger als die Juden, "das gute Image der Firma darf keinen Schaden nehmen", sagt barsch der smarte Verkäufer, den seine Visitenkarte als "Sales-Manager" ausweist, und insofern, bilanziert sein Kollege, sind "die Juden heute noch ein Wirtschaftsfaktor". Der Jugend ist das Büchlein ziemlich "wurschd". Neben dem "Na und?" wird nur registriert, dass sich "Mama tierisch aufregt". Höchstens Mädchen merken, dass es um "ihre" Heimat geht. Die eine liest mit großen Augen, weil sie von alldem direkt in der Nachbarschaft gar nichts gewusst hat; sie wird "wütend, weil und dass so was überhaupt geschehen konnte". Die andere quält der Zwiespalt zwischen Zweifeln, wie sie sich verhalten hätte und der Kritik am Umgang mit den Juden.
Es sind die Leute mit dem fremden Blick, die tief verstört aus diesem Buch auftauchen, die Pädagogen, Theologen, die Malerin und der Theatermacher beispielsweise. Alle nachgeboren, haben sie sich mit Deutschlands Nazihypothek herumgequält. Nicht einmal fällt das Modewort "Betroffenheit". Aber plötzlich geht man "mit anderen Augen durch das Dorf", schaut "fremd die Alten an und mustert ihre Häuser" – und sich selbst, auf dass das Misstrauen nicht umschlägt in Vorurteil und Verurteilung. Diese Bewohner Geroldshausens zeigen sich emotional und politisch bewegt: "Wir wollen etwas tun!" Den "historischen und den allgegenwärtigen Schrecken bannen", im Dorf "Definitionspunkte setzen und Plätze benennen", die sich stemmen "gegen den falschen Selbstschutz des Vergessens". Dabei geht es "nicht um Schuldzuweisung!" sagt die Seelsorgerin; sie war erleichtert über dieses Buch und seine Sachlichkeit, sie "will nicht ruhen lassen, was wach bleiben muss", und solange es "im Dorf ein Kriegerdenkmal gibt, muss es ein Mahnmal für die Juden geben". Denn immerhin, als wolle sie die Einheimischen trösten, die sich fast alle angegriffen fühlten, sei "unser Dorf gerecht behandelt worden und gut weggekommen".
Da allerdings stellt sich der alte Hausarzt quer, dessen Vater nicht nur im Buch die SS-Nummer von Völkleins Vater zum Verschwinden bringen wollte. Er hält’s mit Möllemann: "Die Juden überspannen ihren Bogen. Sind denn die Wiedergutmachungsgelder nicht reichlich geflossen? Warum soll an jedes Haus, wo mal ein Jude drin war, eine Tafel dran? Das deutsche Volk hat unter Adolf Hitler genauso gelitten wie die Juden!", ruft er erregt ins Telefon. "Völlig harmlos war die Nazizeit in Geroldshausen, nur dass man das heute nicht mehr sagen darf! Es gibt keinen Antisemitismus in diesem Volk. Nicht umsonst sind die Eskalationen am Dorf vorbeigegangen. Das Miteinander mit den Juden war problemlos – was ist ihnen nicht alles heimlich zugesteckt worden! Schließlich sind die Juden freiwillig zum Bahnhof hinmarschiert", bramarbasiert der Landarzt Mühlhäuser, er führt den gemeinnützigen Soldatenkameradschaftsverein. Eine Lesung bei den alten Kämpen? "Steht nicht zur Debatte, der Judenacker ist da auch schon wieder fast vergessen, und langsam ist es an der Zeit, die alten Sachen ruhn zu lassen!" Das Buch sei "schön aufs Dorf zugeschnitten, aber Dokumentation wäre besser gewesen als Sensation". Jedenfalls habe man sich "damit befasst und drüber nachgedacht, und damit ist der Käs gegessen".
Die Söhne des Massenmörders: gekränkt, gepeinigt, bedrückt.
Bleibt noch das Schicksal der Familie Wirths. Das Mitleid der meisten Mitbürger ist ihnen sicher. Keiner möchte die Bürde einer solchen Vater-Biografie tragen, schon gar nicht in so einem kleinen Flecken, wo jeder über den anderen alles zu wissen glaubt. Man wusste bei den Wirths durch Gespräche mit Völklein, dass das Buch erscheinen würde. Und doch platzt die Publikation in ein mühevoll normalisiertes Alltagsleben. Dünnhäutig reagiert man auch auf die verhalten gestellten, vorsichtigen Fragen. Die Söhne sind gekränkt, gepeinigt und bedrückt. Der eine Arzt und Sammler aller Vater-Fakten, der andere führt die Firma, ist Gemeinderat und "versucht, ‚es‘ sachlich zu sehen". Aber der Vater ist der Vater, und es ist schwer, die Funktion von diesem Bild zu trennen: "Mein Vater war nicht Mengele, er hat, wenn er von Auschwitz in die Ferien kam, im Dorf auch jüdische Frauen behandelt, obwohl das streng verboten war." Das Gespräch über den Judenacker und wie der Band "hier eingeschlagen hat", verläuft in Ruhe, aber in jedem Ton durchs Telefon vibriert die Seelenpein, die Peter Wirths zeitlebens in Geroldshausen tief bedrückt. "Schamgefühle" quälen ihn und "Mitschuld", obwohl der 1937 geborene den Vater im KZ immer nur besucht hat. Wirths Witwe, seine Mutter, war "entsetzt", muss, was jetzt so aufgerührt da steht, "erst noch verarbeiten". Indes, ihr Sohn Peter ist sich sicher: "Mein Vater hat Gutes getan!" Sagt er wie zu sich selbst. "Auch in Auschwitz", sagt er, "obwohl er amtlich und offiziell gearbeitet hat: Womöglich hat er einem viel größeren Teil helfen können, als man bisher weiß!"
Verstrickt zwischen Abwehr, Rechtfertigung, Liebe und Hoffnung klammern sich die Wirths an eine Doktorarbeit, die fast fertig ist. Der junge Arzt, der sie verfasst – was sagt er, der sich zwei Jahre lang ausschließlich mit Eduard Wirths in Auschwitz befasst hat? Der voll Lob ist über die betroffene Familie, deren Offenheit und Mut, in Geroldshausen das Archiv, Augen, Ohren und den Mund zu öffnen? Konrad Beischl zuckt die Schultern: "Mit Wirths Rehabilitation kann ich leider nicht dienen. Für eine seriöse Medizingeschichte führt kein Weg vorbei am Begriff des Massenmörders." |
Links und Literatur
Links:
Literatur:
| Baruch Z. Ophir/Falk Wiesemann: Die
jüdischen Gemeinden in Bayern 1918-1945. Geschichte und Zerstörung. 1979
S. 209. |
| Israel Schwierz: Steinerne Zeugnisse jüdischen Lebens in
Bayern. Eine Dokumentation der Bayerischen Landeszentrale für politische
Bildungsarbeit. A 85. 1988 S. 59. |
| Pinkas Hakehillot: Encyclopedia of Jewish
Communities from their foundation till after the Holocaust. Germany -
Bavaria. Hg. von Yad Vashem 1972 (hebräisch) S. 445.
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| Ulrich Völklein: Der Judenacker - eine Erbschaft.
Eine familien- und ortsgeschichtliche Untersuchung. Bleicher-Verlag
Gerlingen 2001. dtv München 2004. (Buch des aus
Geroldshausen stammenden Autors und Journalisten) Buchbesprechung
in den Fränkischen Nachrichten Buchbesprechung
in "Die Zeit" 51/2002) (siehe unten) Buchbesprechung
beim Fritz-Bauer-Institut
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| Jutta Sporck-Pfitzer: Die ehemaligen jüdischen
Gemeinden im Landkreis Würzburg. Hrsg. vom Landkreis Würzburg. Würzburg
1988. S. 61.
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| Dirk Rosenstock (Bearbeiter): Die unterfränkischen
Judenmatrikeln von 1817. Veröffentlichungen des Stadtarchivs Würzburg.
Band 13. Würzburg 2008. S. 225. |
Article from "The Encyclopedia of Jewish life Before and During the
Holocaust".
First published in 2001 by NEW
YORK UNIVERSITY PRESS; Copyright © 2001 by Yad
Vashem Jerusalem, Israel.
Geroldshausen Lower
Franconia. Jews numbered 50 in 1814 (total 233) and nine in 1933. Four emigrated
to the United States in 1940-41 and the last two were deported to Izbica in the
Lublin district (Poland) via Wuerzburg on 25 April 1942.
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