Schriftlesung: 1 Kor 9,16-19.22-23
Liebe Mitbrüder im geistlichen Amt,
liebe Schwestern und Brüder im Glauben!
Wozu sind wir auf Erden? Diese klassische Katechismusfrage hat Sie als Leitwort durch die diesjährige St. Ansgar-Woche begleitet. In einer Vielfalt von Veranstaltungen wurde diese Frage in den letzten Tagen bedacht und durchbuchstabiert. Wozu sind wir auf Erden? Diese Frage ist alt und zugleich immer wieder aktuell. Denn sie fragt nach nichts weniger als dem Sinn unseres Lebens. Mag sich uns die Frage nicht jeden Tag mit ganzer Eindringlichkeit stellen, mögen wir sie zeitweise sogar verdrängen, kein Mensch kann sich im Letzten um sie herum drücken.
Wohl dem, der sie so enthusiastisch und klar beantworten kann, wie wir es soeben aus dem Mund des Apostels Paulus gehört haben: Er sieht den Sinn seines Lebens in der Verkündigung des Evangeliums. Das ist der Lebensauftrag, der ihm anvertraut wurde (1 Kor 9,17). Er hat ihn sich nicht ausgesucht. Er wurde von ihm getroffen. Dieser Lebensauftrag liegt einerseits wie ein »Zwang« auf Paulus. So kann der Apostel gar nicht anders, als den Menschen immer und immer wieder von Jesus, dem Gekreuzigten und Auferstandenen, zu sprechen. Andererseits liegt gerade in diesem Zwang die Quelle einer unvergleichlichen Freiheit, die den Apostel von niemand abhängig sein lässt. So kann er zugleich allen nahe und zu Diensten sein: Juden und Heiden, Schwachen und Starken (vgl. 1 Kor 9,19ff).
Nun wissen wir gerade von Paulus, dass es bei all seinem Enthusiasmus und aller Vollmundigkeit seiner Rede auch in ihm das Andere gab: Schwachheit und Ängste (2 Kor 7,5; 12,9f), das Zittern vor dem Auftrag (1 Kor 2,3) sowie eine innere Zerrissenheit zwischen dem, was er als richtig erkannt hatte und dem, was er tatsächlich tat. »Ich begreife mein Handeln nicht: Ich tue nicht das, was ich will, sondern das, was ich hasse«, schreibt er den Christen in Rom (7,15). Auch Paulus blieben Anfechtung und Verdunkelung seines Lebenssinns nicht erspart. Gerade in den Zeiten seiner Gefängnishaft wird auch in ihm die bange Klage des Gottesknechtes aus dem Jesajabuch aufgestiegen sein: »Vergeblich habe ich mich bemüht, habe meine Kraft umsonst und nutzlos vertan.« (Jes 49,4)
Besonders schmerzlich und unausweichlich stellt sich die Frage nach dem Wozu sind wir auf Erden? dann, wenn unsere gewohnten Maßstäbe nicht greifen, wenn sie uns aus der Hand geschlagen werden, wenn das Leben sinnlos erscheint. Das gilt vor allem da, wo der Tod unerwartet und grausam das Leben bedroht. Genau das aber geschieht ja tagtäglich in unserer Welt, sei es durch Krankheit, Unglück oder Gewalt.
Zu einem Schlüsseltext wurde für mich vor Jahren ein kurzer Roman des 1974 verstorbenen amerikanischen Schriftstellers Thornton Wilder. Der Roman trägt den Titel »Die Brücke von San Luis Rey« und schildert, wie an einem Sommertag im Jahre 1714 die schönste Hängebrücke von Peru reißt und in den Abgrund stürzt. Bei dieser Katastrophe finden fünf Menschen den Tod. Denn sie befanden sich just zu diesem Augenblick auf der Brücke: Die alternde Gräfin von Montemayor mit ihrer jungen Gesellschafterin Pepita; der um seinen Zwillingsbruder trauernde 22-jährige Estéban; der von einem abenteuerreichen Leben gezeichnete Onkel Pio und der Knabe Don Jaime. Ein Franziskanerbruder, der sich aufgrund seines Glaubens nicht damit zufriedengeben will, die Katastrophe als sinnloses oder bloß zufälliges Ereignis zu akzeptieren, geht den Biographien der Verunglückten nach. Zwar findet Bruder Juniper letztlich auch keine befriedigende Antwort auf die Frage, ob das Unglück nun göttliche Fügung oder Zufall war, aber die Erforschung der fünf Lebensgeschichten bringt ans Licht, dass sämtliche fünf Leben, mögen sie länger oder kürzer gewesen sein, durch allerlei dramatische, zum Teil regelrecht tragische Verstrickungen und Verfehlungen hindurch den Weg aus Selbstsucht, Eitelkeit und Eigenliebe heraus zur Liebe gefunden haben. Insofern erscheint am Schluss des Romans der Tod dieser Menschen in einem anderen Licht: Er ist nicht bloß ein über die Menschen hereinbrechendes stummes Verhängnis, nicht bloß sinnlose Katastrophe, sondern Aufbruch zur endgültigen Öffnung auf die Liebe, und das heißt zu Gott, hin.
Am Schluss des Romans läßt der Autor die Äbtissin Maria del Pilar, die heimliche Mutter des ganzen Buches, in Gedanken sprechen: »Schon jetzt [...] erinnert sich fast niemand mehr Estébans und Pepitas, als nur ich. [...] Bald [...] werden wir alle sterben, und alles Angedenken jener fünf wird dann von der Erde geschwunden sein, und wir selbst werden für eine kleine Weile geliebt und dann vergessen werden. Doch die Liebe wird genug gewesen sein; alle diese Regungen von Liebe kehren zurück zu der einen, die sie entstehen ließ.«
Wilders Roman ist der Versuch, die scheinbar so offenkundige Sinnlosigkeit und Grausamkeit des Geschehens zu hinterfragen und wenigstens eine Hoffnung auf Sinn erahnen zu lassen, indem die Recherchen von Bruder Juniper ergeben, dass die Verunglückten in der Lebensspanne, die ihnen bis zu jenem verhängnisvollen Tag im Jahr 1714 zur Verfügung stand, nicht Gefangene ihrer selbst blieben, sondern sich selbst überschritten haben. Mit anderen Worten: Jedem von ihnen ist es gelungen, zur Liebe durchzustoßen. Damit hat ihr Leben einen Sinn gehabt, mag es von außen betrachtet auch ganz anders aussehen. Hören wir noch einmal die Äbtissin: »Es wird ein Genug an Liebe dagewesen sein; und all diese Regungen von Liebe kehren zurück zu der einen, die sie entstehen ließ.«
Liebe Schwestern und Brüder! »Wir sind auf Erden, um Gott zu erkennen, ihn zu lieben, ihm zu dienen und so einst in den Himmel zu kommen.« So oder ähnlich lautete die klassische Antwort auf die erste Frage des Katechismus. Sie klingt nach einem formelhaften Pflichtenkatalog. Die Geschichte der Brücke von San Luis Rey mit ihrem Hinweis auf die Liebe als Ziel des Lebens hilft, den eigentlichen Inhalt hinter der formelhaften Fassade der Katechismusantwort zu entdecken.
Doch nun drängt sich unweigerlich die Frage auf: Wenn Gott, der Schöpfer, uns in seiner Güte dazu bestimmt hat, uns selbst zu überschreiten, um liebende Gemeinschaft mit ihm zu haben, warum braucht es dazu den Weg über diese Erde, die oft genug bitteres »Tränental« ist? Warum hat Gott uns nicht gleich in den Himmel hinein geschaffen? Denn Himmel heißt doch nichts anderes als: Gott nahe zu sein, heißt nichts anderes als unverstellte Gemeinschaft mit ihm zu haben.
Die Antwort kann nur heißen: Gott will uns diese Gemeinschaft, zu der er den Menschen berufen hat, nicht überstülpen. Denn das wäre entmündigend. Gott will uns Menschen an seinem Leben teilnehmen lassen, ja. Das hat er uns in Jesus Christus gezeigt. Aber er hat uns durch seinen Sohn auch gezeigt, dass er uns nicht mit Gewalt in dieses Leben hineinzerren will. Er will auch nicht, dass wir Menschen nur passiv entgegennehmen, was er uns schenkt. Immer nur die Goldtaler in den Schoß geworfen zu bekommen, ist auf Dauer demütigend. Deshalb will Gott, dass der Mensch in Freiheit das bejaht und ergreift, was Gott ihm geben will. Das allein entspricht der Würde des Menschen. Darin liegt auch der Sinn des irdischen Lebens: In Freiheit immer mehr Ja zu sagen zu dem Leben, wie Gott selbst es versteht und lebt.
Wie versteht und lebt er es? Er lebt es nicht als ein einsames Ich, sondern als das Wir der drei göttlichen Personen, die in der innigsten Gemeinschaft gegenseitigen Schenkens und Empfanges stehen. Jesus hat ja in seiner Verkündigung nicht nur von sich gesprochen, sondern zuerst und immer wieder vom Vater, in dessen Auftrag er in die Welt gekommen ist. Ebenso hat er den Geist benannt, der ihn mit dem Vater verbindet und den er seinen Jüngern senden wird.
Wozu sind wir also auf Erden? Um liebende Menschen zu werden. So einfach und so schwer zugleich ist die Antwort auf die Urfrage des Katechismus. Die Antwort ist einfach, weil die Sehnsucht nach Liebe und die Fähigkeit dazu jedem Menschen vom ersten Augenblick an ins Herz geschrieben ist. Schwer ist sie, weil Liebe sich nicht verordnen lässt. Wenn Osmin, der Haremswächter in der Mozartoper »Die Entführung aus dem Serail«, zu Blondchen sagt: »Ich befehle dir, mich augenblicklich zu lieben«, dann ist das ein Irrsinn, der uns zum Lachen reizt. Liebe setzt Freiheit voraus.
Mit seiner Schöpfung hat Gott auf den Weg der Freiheit gesetzt. Er lässt der Schöpfung sogar die Freiheit, sich gegen ihn zu entscheiden, das heißt gegen den Weg des Vertrauens und der Liebe. Schon in der Paradieserzählung der Genesis wird ja leider sichtbar, wie schnell der Mensch von dieser Möglichkeit Gebrauch macht, indem er seinem Misstrauen mehr glaubt als der Liebe.
Seitdem haben wir mühsam den Weg Gottes zu lernen, der da heißt, sich zu geben, sich zu riskieren, ja sich zu verlieren. Immer wieder müssen wir uns gegen unsere eigene innere Schwerkraft stemmen, die an sich reißen, die behalten will. Die Lebensformel Jesu aber, die ganz aus dem dreieinigen innergöttlichen Leben stammt, heißt: »Wer sein Leben retten will, wird es verlieren; wer aber sein Leben um meinetwillen verliert, wird es gewinnen« (Mt 16,25 parr). Was zunächst geradezu selbstmörderisch klingt, ist der eigentliche und einzige Weg zum Leben. Denn Leben heißt, sich zu geben.
Mit gutem Willen kann man das (selbst als Nichtchrist) gedanklich relativ leicht nachvollziehen. Schwieriger wird es, das wissen wir nur zu gut, wenn es um die konkrete Umsetzung geht. Da erweist sich die alte Schlange in uns noch als reichlich lebendig. Mag man also auf die alte Katechismusfrage verbal schnell und richtig reagieren, existenziell gesehen dauert die Antwort ein ganzes Leben lang, muss sie doch Schritt für Schritt heranreifen. Das geht nicht ohne den Schmerz, den Wachstum und Reifung immer bedeuten.
Papst Benedikt XVI. hat in einem Gespräch mit Priestern einmal gesagt: »Gewiss gibt es einen Schmerz, den wir vermeiden und aus der Welt verbannen müssen: die vielen unnützen Schmerzen, die von Diktaturen hervorgerufen werden, von falschen Systemen, von Hass und Gewalt. Aber im Schmerz liegt auch ein tieferer Sinn, und nur wenn wir dem Schmerz und dem Leiden Sinn geben können, kann unser Leben zur Reife kommen. Vor allem würde ich sagen, dass die Liebe ohne Schmerz nicht möglich ist, weil die Liebe stets meinen Selbstverzicht voraussetzt, weil sie voraussetzt, dass ich mich von mir selbst löse und den anderen in seinem Anderssein annehme. Sie setzt voraus, dass ich mich hinschenke und daher aus mir selbst herauskomme. All das ist Schmerz, Leiden, aber gerade in diesem Leiden des Mich-Verlierens für den anderen, für den Geliebten und daher für Gott werde ich groß und findet mein Leben die Liebe und in der Liebe seinen Sinn« (Auronzo di Cadore, 24.07.2007).
Wenn wir die Bildrede vom Reifen zurück übertragen in den ursprünglichen Kontext, dem sie entstammt, dann scheint es uns selbstverständlich, dass Reife sich vollzieht im Wechsel von Tag und Nacht, von Sonne und Dunkelheit, von Wärme und Kälte, von Trockenheit und Regen. Als Bischof eines Bistums, in dem es viele (gute!) Weinlagen gibt, wird mir sozusagen täglich vor Augen geführt, dass heiter-sonnige und trockene Tage allein noch keinen guten Wein machen. Dazu braucht es auch die Feuchtigkeit des Regens und die Taukühle der Nacht. Und einen gehaltvollen Eiswein gibt es nur bei entsprechendem Frost.
Wenn wir also noch einmal fragen Wozu sind wir auf Erden?, dann müssten wir nun sagen: Wir sind auf Erden, um aus freien Stücken reif zu werden für die vollkommene Lebensgemeinschaft mit Gott.
Lassen Sie uns, liebe Schwestern und Brüder, zum Schluss noch auf einen Aspekt schauen, den wir bisher nicht beachtet haben: Es sicher kein Zufall, dass der Gläubige, der mit der Katechismusfrage nach dem Sinn des Lebens fragt, nicht die Einzahl benutzt, sondern die Mehrzahl. Er fragt nicht individualistisch »Wozu bin ich auf Erden?«, sondern er fragt im Wir. In diesem Wir klingt die ganze Gemeinschaft des Glaubens mit. Deshalb gilt das, was wir bisher vor allem auf die einzelne Person hin bedacht haben, in einem gewissen Sinn auch für die Kirche als ganze. Das Zweite Vatikanische Konzil hat mit dem Kirchenvater Cyprian festgehalten, dass die Kirche das von der Einheit des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes her geeinte Volk Gottes ist (Lumen Gentium 4). Doch ist ja nicht zu übersehen, dass die Kirche dieses göttliche »Wasserzeichen«, das ihr vom Herrn her eingeprägt ist, in ihren konkreten Lebensvollzügen noch viel mehr ausprägen muss. Deshalb ist auch der Weg der Kirche als solcher ein Weg der Reifung, ist die Kirche als ganze aufgerufen, sich immer wieder neu für Gott und seinen Weg des Lebens zu entscheiden. Im Ringen darum bleibt auch ihr der Schmerz der Reifung nicht erspart.
In diesem Horizont sehe ich die vielfältigen Umbrüche, die wir in unseren deutschen Diözesen derzeit erleben. Und auch die belastende, längst nicht abgeschlossene Auseinandersetzung mit den Vergehen sexualisierter Gewalt durch Priester, Ordensleute und andere Mitarbeiter der Kirche, trägt - so schmerzlich sie ist - zur reinigenden Erneuerung des kirchlichen Auftrags bei. In diesem Sinne haben wir sie bereitwillig anzunehmen.
Schließlich wird man wohl nicht fehlgehen, auch das von Papst Benedikt eingebrachte Stichwort der »Entweltlichung« im Sinne der Reinigung und Reifung des kirchlichen Zeugnisses zu verstehen. Dabei geht es nicht darum, funktionierende kirchliche Strukturen mutwillig zu zerstören oder sich leichtfertig aus gesellschaftlichen Engagements zurück zu ziehen. Dennoch ruft uns der Papst dazu auf, wachsamer zu sein und zugleich gelassener in den Situationen, in denen es gilt, Gewohntes loszulassen, weil es ohnehin unserer Verfügung entzogen wird. Andernfalls würden wir vielleicht sogar die Chance eines Weiter-Reifens und Wachsens verhindern.
Liebe Schwestern und Brüder! Das letzte Wort meiner Predigt hier im »Großen Michel« soll eine protestantische Stimme haben. Sie gehört Jochen Klepper (1903-1942) und erklingt aus einem seiner Gedichte. Eigentlich ist es ein Gebet. Es könnte die Überschrift tragen »Wozu wir auf Erden sind«:
Hast du uns Haus und Gut gegeben,/ hast du uns arm und leer gemacht -,
das milde und das harte Leben,/ sind beide, Herr, von dir bedacht.
Was du uns nimmst,/ was du uns schenkst,/ verkündet uns, dass du uns lenkst.
Du lässt den einen durch Geschlechter/ von Kind zu Kindeskind bestehn.
Den andern lässt du wie durch Wächter/ von allem abgetrennt vergehn.
Durch Fülle und durch Einsamkeit/ machst du uns nur für dich bereit.
Auf Feldern, die sich fruchtbar wiegen,/ in kargem Halm auf armem Sand
muss doch der gleiche Segen liegen:/ Du sätest sie mit deiner Hand.
Und was du schickst,/ ob Glück, ob Angst,/ zeigt stets, wie du nach uns verlangst.
Der Lebensbaum im Garten Eden,/ der Dornbusch, der dich glühend sah,
sind beide nur das eine Reden:/ Der Herr ist unablässig nah.
Und alles, was der Mensch vollbringt,/ ist Antwort, die dein Ruf erzwingt.
Damit, liebe Schwestern und Brüder, schließt sich der Kreis zur Lesung aus dem 1. Korintherbrief. Auch Paulus sprach von dem Zwang, der auf ihm liegt: »Weh mir, wenn ich das Evangelium nicht verkünde!« (1 Kor 9,16). Dieser Zwang hat seine Ursache nicht in einer von außen einwirkenden Gewalt. Er entspringt vielmehr einer inneren Klarheit, einer Evidenz, die von Gott kommt. Gerade sie ist Ausdruck wahrer Freiheit und Liebe, und sie gibt Sinn. Amen.