Verehrte Mitfeiernde unseres Gottesdienstes!
Wenn’s um Gott und die Welt geht, tun wir uns schwer, die Dinge auf den Punkt zu bringen. Bei Jesus war das offensichtlich anders. Wir haben es eben in der Lesung aus dem Matthäusevangelium gehört: Die Gegner, die Jesus auf die Probe stellen wollen, fragen ihn nach dem wichtigsten Gebot. Sie verbinden damit die geheime Hoffnung, dass Jesus mit seiner Antwort die Weisungen Gottes entweder fälschlich verkürzt oder sich in nichtssagender Weitschweifigkeit verliert. Doch es kommt anders: Jesus sagt, worauf es im Leben ankommt. Ohne Umschweife bringt er es auf den Punkt. Richtiger gesagt: Er bringt es auf zwei Punkte.
Der erste: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deinen Gedanken. Und dann: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Das sind die entscheidenden Dreh- und Angelpunkte. An ihnen hängen Glauben und Leben wie eine Tür, die in den Angeln hängt. Jede Tür braucht zwei Angeln. Fällt eine aus, hängt die Tür schief. Wir brauchen uns nicht zu wundern, wenn manches bei uns schief hängt!
Das Gebot der Gottes- und der Nächstenliebe ruft in mir nicht nur das Bild der Tür, sondern auch das Bild eines bestimmten Ortes wach. Der Ort, den ich meine, ist Flüeli, ein kleines Dorf in der Schweiz, unweit vom Vierwaldstätter See. Es ist die Heimat des Niklaus von Flüe, auch »Bruder Klaus« genannt, eine bis heute faszinierende und zugleich irritierende Gestalt des 15. Jahrhunderts.
Mit 50 Jahren spürt er das Verlangen, Einsiedler zu werden. Seine Frau lässt ihn ziehen und der älteste Sohn übernimmt die Sorge um die Familie. In der Überzeugung, Gottes Ruf führe ihn in die Ferne, zieht er zunächst fort, um sich eine Klause zu suchen. Doch bald schon erkennt er, dass sein gottgewollter Platz nicht in der Ferne ist. Er kehrt um und errichtet eine Einsiedelei nur wenige Gehminuten von seinem alten Wohnhaus entfernt in einer benachbarten Schlucht. Noch heute kann man die schlichte Klause, die an eine Kapelle angebaut ist, besichtigen. Mehr noch: Sie ist jedes Jahr das Ziel vieler Pilgerinnen und Pilger. In ihnen setzt sich das fort, was schon zu Lebzeiten von Bruder Klaus begonnen hat. Denn die Klause im Wald blieb kein Ort reiner Abgeschiedenheit. Menschen zogen in die Schlucht, suchten den heiligen Einsiedler auf, um von ihm Rat in schwierigen Angelegenheiten zu erbitten. Bruder Klaus wurde sogar Ratgeber in politischen Fragen. Man weiß, dass es sein vermittelnder Rat war, der einen drohenden Bürgerkrieg zwischen seinen Landsleuten verhinderte. So wird er bis heute als Friedensstifter verehrt.
Zwei Fenster hat die Zelle des Niklaus von Flüe: Aus dem einen führt der Blick auf das Kreuz über dem Altar der Kapelle. Das andere schaut auf die Wiese, auf der sich die Menschen einfanden, um den guten Rat von Bruder Klaus zu empfangen. Der Blick in die Kapelle und der Blick auf die Menschen - das sind sie: Die beiden Augen, die beiden Angelpunkte des Glaubens: die Gottes- und die Nächstenliebe. Der Blick auf Gott führt nicht vom Menschen weg. Er macht nicht blind. Im Gegenteil: Mit Gott im Blick sehe ich auch den Menschen besser, erhält mein Blick eine Tiefenschärfe, die ich mir selbst nicht geben kann. Aber es gilt auch das Andere: Wer die Menschen mit aufmerksamen und liebevollen Augen anschaut, wird über kurz oder lang Ausschau halten nach Gott.
Liebe Mitfeiernde, wir haben als ersten biblischen Text eine Lesung aus dem Buch Ezechiel gehört: In einer Vision erhält der Prophet von Gott den Auftrag, vor den Augen seiner Zeitgenossen zwei getrennte Hölzer zusammenzufügen. Eine Zeichenhandlung. Verheißung dafür, dass das damals zertrennte Israel wieder zu einem Volk zusammenfinden wird. Für uns in Deutschland ist dieser Traum vor zwanzig Jahren Wirklichkeit geworden. Der Mut, die Beharrlichkeit und die Friedfertigkeit vieler haben dazu beigetragen. Nicht zuletzt waren es die Kerzen und Gebete von Christen.
Auch in der Mitte des christlichen Glaubens stehen zwei miteinander verbundene Hölzer: Sie bilden die Form eines Kreuzes. Im Kreuz realisiert sich die Vision des Ezechiel auf überraschende Weise. Das Kreuz verbindet oben und unten, Himmel und Erde, Nord und Süd, Ost und West. Verlängert man seine Linien, umfassen sie alle Dimensionen der Schöpfung.
Im Schnittpunkt der Linien steht Jesus Christus - der Gottes- und Menschensohn; der Verkündiger der Gottes- und Nächstenliebe. Durch seine Hingabe bis zum Kreuz bleibt es nicht beim puren Gebot der Liebe: Jesus macht aus dem Gebot der Liebe die Gabe der Liebe (J. Ratzinger/ P. Benedikt XVI.). An Jesus sehen wir wie an keinem zweiten die Würde und Größe des Menschen, geschaffen nach dem Bild Gottes. An ihm, als dem Gekreuzigten wird zugleich offenbar, wie zerbrechlich, wie schwach und hilfsbedürftig der Mensch ist.
Der Blick auf Christus zeigt aber auch, wer Gott ist und wie er zu uns Menschen steht: Er thront nicht in weltabgewandter Ferne. Nein, er hat - wie der Apostel Paulus schreibt - die trennende Wand der Feindschaft, die wir Menschen um uns und damit gegen ihn errichtet hatten, niedergelegt. Er ist es, der Versöhnung schafft und Frieden stiftet. Bei ihm werden aus den Fernsten Nächste (vgl. Eph 2,13-17).
Wir wollen am heutigen Tag Gott danken für die Zeichen seiner Gegenwart, die er uns Deutsche in den zurückliegenden zwanzig Jahren sehen ließ. Wir wollen uns neu inspirieren lassen von Gottes Wort und Beispiel. Und: Wir bitten in diesem Gottesdienst um seinen Segen für alle Menschen, ob nah oder fern. Amen