Bischof Stephans Gedanken und Perspektiven zur Halbzeit der Synode

Eher "mehr" als "entweder / oder"

Charakter dieser Thesen

Die folgenden Überlegungen wurden in einer ersten Fassung in der Bistumsdechantenkonferenz  am 12./13. November 2014 in Trier vorgetragen. Sie waren als Diskussionsanregungen aus der Sicht des Bischofs gedacht. In den Text, wie er nun vorliegt, sind die Gespräche dieser Konferenz, aber auch andere Gespräche, die ich seit dem geführt habe, eingeflossen. Manches von dem, was ich damals vorgetragen habe, habe ich weggelassen, anderes ergänzt und auch die eigentlichen Thesen hier und da präzisiert.

In der Bistumsdechantenkonferenz kommen zweimal im Jahr die Dechanten mit dem Bischof, den Weihbischöfen, dem Generalvikar, den übrigen Bischofsvikaren, der Direktorin und den Direktoren des Generalvikariates und anderen Verantwortlichen der bischöflichen Behörde zur Beratung zusammen.

Die Thesen sind nicht speziell auf den Prozess der Synode, sondern auf die kirchliche Situation insgesamt hin formuliert. Dennoch schienen sie dem Geschäftsführenden Ausschuss der Synode auch für die Arbeit der Synode interessant, zumal diese sich in ihrer „Halbzeit“ befindet. Bei der Lektüre wird man spüren, dass ich dem Text trotz seiner Überarbeitung den Charakter des gesprochenen Wortes gelassen habe.

„Perspektiven-Wechsel“ und „Vision“

Ich habe meine Gedanken unter das Stichwort „Perspektivenwechsel“ gestellt. Damit habe ich mir einen Begriff zu Eigen gemacht, der im Kontext der letzten Vollversammlung unserer Synode mehrmals gefallen ist. Es scheint so, als ob dieser Begriff nicht nur für unsere Diözesansynode, sondern derzeit für die Kirche insgesamt – nicht zuletzt durch das Pontifikat von Papst Franziskus – zu einem Leitbegriff wird. Wahrscheinlich ist es sogar ein Begriff, der ein globales Leitmotiv beschreibt, das den kirchlichen Raum weit überschreitet: In wie vielen Bereichen ist Perspektivenwechsel angesagt! Denken wir an die Flüchtlingsfrage, an den Klimawandel, an die Armutsbekämpfung … „Die Krisen des anderen gibt es nicht mehr“ (Frank-Walter Steinmeier). Die Globalisierung fordert einen Perspektivenwechsel von allen.

Mit meinen Überlegungen nehme ich auch noch einmal das Stichwort „Vision“ auf. Häufiger habe ich in den letzten Jahren gesagt, dass ich für das Bistum keine umfassende Vision im Sinne eines Masterplans habe. Das gilt auch heute noch. Mein Verständnis von Vision heißt in Anlehnung an eine Definition von Christian Hennecke nämlich nicht: „Vision ist das, was ich mir für unser Bistum denke, meine Idee“, sondern: „Vision ist das, was der Herr uns zu sehen gibt.“

C. Hennecke: Kirche, die über den Jordan geht .Münster ³2008, 146f.158.

  • Allerdings ist die Zeit weitergegangen: Wir stehen mitten in einem synodalen Prozess, und die Veränderungen – auch in unserem Bistum – haben sich beschleunigt. Strukturen, die über Jahrzehnte getragen und gestützt haben, werden wackelig oder fallen gar weg. Äußeres, das vielfach auch schon zu Äußerlichkeiten geworden ist, wird abgetragen. Dadurch wird für mich mehr von der künftigen Gestalt der Kirche sichtbar.

  • Wenn ich all die Eindrücke zusammennehme, die ich derzeit im Bistum auf den verschiedenen Ebenen sammle, so habe ich das Gefühl, dass sich uns „etwas zu sehen gibt“. Was ich persönlich sehe, sind bisher noch keine eindeutigen inhaltlichen Antworten. Was sich mir zu sehen gibt, sind auch nicht bestimmte Methoden. Das, was mir deutlicher wird, sind eher „Prinzipien“ für unseren weiteren Weg. Diese möchte ich nennen und ins Gespräch bringen.

    Ich reklamiere für diese „Prinzipien“ keine Vollständigkeit. Sie haben keinen amtlich-abschließenden Charakter. Sie sind persönliche Einsichten, die allerdings seit der Bistumsdechantenkonferenz schon positive sowie kritische-konstruktive Resonanz erfahren haben.

  • Als Sprachform für diese „Prinzipien“ möchte ich die Form wählen, die Papst Franziskus in seinem Schreiben Evangelii Gaudium unter den Nrn. 222-237 gewählt hat. Es ist eine komparative, eine vergleichende Sprachform nach dem Muster: „A ist mehr wert als B. C wiegt mehr als D. E ist wichtiger als F.“ etc.

    Diese Sprachform scheint mir angesichts der Situation, in der wir uns als Kirche im Bistum Trier befinden, angemessener und hilfreicher als eine sich gegenseitig ausschließende Sprechweise, wie etwa: „A ist richtig, B ist falsch. Entweder es gilt C, oder es gilt D. E tritt an die Stelle von F.“ etc.

    Ich glaube, es geht in den Fragen, die uns umtreiben, weniger um ein Entweder-Oder, weniger um die Frage von wahr oder falsch, sondern um die Frage, was dem Evangelium mehr entspricht, was den Menschen unserer Zeit mehr hilft, zu Jesus Christus zu finden, was mehr dazu beiträgt, ein authentisches christliches Zeugnis zu geben.

Und eine letzte Vorbemerkung:

Zu einem richtigen Verständnis der Prinzipien ist zu beachten, dass sie zusammen gesehen werden müssen. Die einzelnen Prinzipien können nicht absolut, d.h. nicht isoliert voneinander angewendet werden, sonst werden sie falsch.

I. „Prinzipien“ einer künftigen Kirchengestalt

1. „Die Wahrheit wird besser vom Rand als vom Zentrum her erfasst“

(Papst Franziskus)

Der Papst fordert uns zu einer radikalen Umkehr unserer Sichtweise auf: Unsere Perspektive soll ihren Ausgangspunkt vom Anderen her nehmen. So ist auch die Rede von den „Peripherien“ zu verstehen. Immer wieder spricht der Papst von der Wichtigkeit, an die „Randgebiete“ zu gehen. Dabei geht es weniger um die „Ränder“ im geografischen Sinn, sondern um die Ränder im sozial-gesellschaftlichen und im existenziellen Sinn, also um das, was normalerweise nicht in unserem Blickfeld liegt und uns besonders herausfordert, vor dem wir möglicherweise sogar zurückschrecken. In diese Randbereiche der Armut, der Angst, des Leidens, der Gottferne etc. sollen sich die Christen hinauswagen. Das gilt natürlich ganz besonders (aber nicht nur!) für diejenigen, die einen amtlichen Auftrag in der Kirche wahrnehmen.

  • Auf die Straßen hinaus gehen und sich vom Anderen helfen lassen Switch

    Der Papst hat dieses Anliegen vor kurzem noch einmal sehr eindrücklich bei einer Audienz anlässlich des 100-jährigen Jubiläums der Schönstatt-Bewegung ausgeführt (25.10.2014). Bei dieser Begegnung wurde deutlich, dass es ihm nicht bloß darum geht, dass die Gläubigen aus dem geschützten Innenraum der Kirche „auf die Straßen“ der Welt hinausgehen, auch wenn sie dabei „Verbeulungen“ in Kauf nehmen müssen. Für Papst Franziskus verbindet sich mit dem Gang an die Peripherien noch mehr: Für ihn verbindet sich damit die Überzeugung, dass die Wirklichkeit insgesamt besser vom Anderen, ja sogar von den Rändern verstanden wird als vom bloßen Binnenraum her. Nach seiner Überzeugung erschließt sich dem Menschen im Hinausgehen über sich selbst die Welt viel mehr, viel wahrhaftiger und umfassender, als wenn er den Dreh- und Angelpunkt bloß bei sich, in seiner kleinen Welt sieht.

    Der Appell an die Gläubigen, über sich hinaus bis an die Ränder der menschlichen Existenz zu gehen, ist daher nicht nur dem Dienst am Nächsten geschuldet. Es geht nicht bloß um eine intensivere Zuwendung zum Anderen (als ob er eine Art „Objekt“ wäre). Bei dem Perspektivenwechsel, der dem Papst vorschwebt, geht es darum, dass ich nicht nur dem Anderen helfe, sondern dass der Andere mir hilft, die Wirklichkeit, das Evangelium und meinen spezifischen Auftrag besser zu erkennen!

    Nur so kommen auch Idee und Wirklichkeit zusammen (vgl. EG 231-233). Der Papst vergleicht diesen Perspektivenwechsel mit der Entdeckung der Neuen Welt: Bis dahin hätten Portugiesen und Spanier die Welt vor allem von Lissabon bzw. Madrid aus gesehen. Mit der Entdeckung der Neuen Welt ergab sich für sie eine ganz neue Perspektive.

  • Fragen nach den "Zeichen der Zeit" Switch

    In dieser Spur sehe ich unsere Bemühungen um die „Zeichen der Zeit“: Denn in ihnen fragen wir ja danach, inwiefern uns gesellschaftliche Entwicklungen bzw. globale Trends (die wir im Licht des Evangeliums anschauen) gewissermaßen „von außen“ her Hinweise geben, die uns dazu helfen, unseren Auftrag in dieser Zeit und damit unsere Identität als Kirche besser zu verstehen.

  • Christus "im Wort des Bruders" Switch

    Von Dietrich Bonhoeffer gibt es ein schönes Wort, das in dieselbe Richtung weist: „Der Christus im eigenen Herzen ist schwächer als der Christus im Worte des Bruders; jener ist ungewiss, dieser ist gewiss.“

    D. Bonhoeffer: Gemeinsames Leben (KT 41), Gütersloh 1993,20.
    Bonhoeffer spricht hier nur von den „Brüdern“, weil der Satz aus der Ordnung für das Predigerseminar und Bruderhaus in Finkenwalde stammt, das Bonhoeffer von 1935-1937 leitete.

2.    Der persönliche Weg des einzelnen Menschen hat Vorrang
vor volkskirchlich überkommenen Strukturen und Abläufen

(a) Zunehmend deutlicher spüren wir, dass ein bloßes Reproduzieren bzw. Weitertradieren des Althergebrachten nicht (mehr) trägt.

  • Bis heute ist unser pastorales Tun in den Pfarreien stark vom Bemühen um formalisierte Abläufe geprägt. Denken wir nur an die Praxis der Sakramentenkatechese. Die jahrgangsweise Erfassung von Kindern und Jugendlichen stößt immer spürbarer an ihre Grenzen. Natürlich gibt es gute Gründe für formalisierte oder standardisierte Abläufe in der Pastoral: Wie soll man anders mit der großen Zahl derer, die wir durch Katechese vorbereiten wollen, zurechtkommen? Darüber hinaus geht es ja immer auch um Fragen der Vergleichbarkeit und der Gerechtigkeit …

    Wir spüren aber – bisweilen konfliktreich –, dass die Situationen der einzelnen Menschen und der Familien oft solchen formalisierten Abläufen aus der Zeit der Volkskirche entgegenstehen. In solchen Situationen kann es dann nicht selten zu zwei extremen Reaktionsweisen kommen: Die pastoral Verantwortlichen reagieren gegenüber Abweichungen vom vorgesehenen System entweder konsequent bzw. schematisch-hart oder sie versuchen, den Anliegen der Einzelnen gerecht zu werden, und geraten dadurch leicht in Situationen der Überforderung, da sie nicht wissen, wie sie die vielen Einzelfälle mit der Bewältigung der pastoralen Situation insgesamt zusammenbekommen sollen.

  • Hier ist noch einmal an das viel zitierte Wort aus der ersten Enzyklika von Papst Johannes Paul II. zu erinnern. „Der Weg der Kirche ist der Mensch“, so hat der Papst damals geschrieben und bewusst hinzugefügt: „Es geht nicht um einen ‚abstrakten‘ Menschen, sondern um den realen, den ‚konkreten‘ und ‚geschichtlichen‘ Menschen. Jeder ‚einzelne‘ Mensch ist gemeint; denn jeder ist vom Geheimnis der Erlösung betroffen“ (Redemptor Hominis 13f).

    Ich bin mir bewusst, dass ein stärkerer Blick auf den einzelnen, konkreten Menschen für unser kirchliches Leben eine besondere Herausforderung darstellt. Wir haben sie aber – nicht zuletzt auf das Wort des Papstes hin – anzunehmen mit den Möglichkeiten und Kräften, die uns gegeben sind.

  • (b) Ein Stichwort, das in den letzten Monaten verstärkt in unseren Sprachschatz Einzug gehalten hat, heißt „Willkommenskultur“. Wir benutzen es im Bereich der Flüchtlingshilfe; denn wir wollen in unseren Pfarreiengemeinschaften und Verbänden mit den Mitteln, die uns zur Verfügung stehen, deutlich machen, dass Fremde bei uns willkommen sind und wir ihnen bei der Bewältigung ihres neuen Lebensalltags Hilfe anbieten.

    Ob „Willkommenskultur“ nicht auch ein Leitgedanke für andere Felder der Pastoral sein könnte? Von US-amerikanischen Diözesen habe ich gelesen, dass es dort regelrechte „Willkommen zurück (welcome back)“-Programme gibt für Katholiken, die sich von ihrer Kirche entfernt haben. Das Besondere an diesen „Willkommen zurück“-Programmen liegt darin, dass sie den „Fernstehenden“ gegenüber nicht mehr defizitorientiert denken, wie das bei uns in der Regel noch stark der Fall ist. Wir schauen bisher vor allem darauf, was Menschen, obwohl sie zur Kirche gehören, nicht mehr glauben, nicht mehr mitmachen, nicht mehr wissen etc. „Willkommens-Programme“ sind dagegen positiv-einladend konzipiert.

    Wir müssen uns allerdings davor hüten, das „Willkommen zurück“ im Sinne einer „Reconquista“ zu denken, die bloß darauf aus ist, alles wieder so herzustellen, wie es früher einmal war.

3. Das Synodale und das Kollegiale tragen weiter als der Alleingang

Die starken Veränderungen in unserer Kirche machen eine stärkere Kollegialität notwendig. Denn in der Vereinzelung sind die Veränderungsprozesse nicht zu bewältigen. Das Einzelkämpfertum wird in einer sich immer stärker vernetzenden Welt zum Anachronismus. Echte Kollegialität will aber eingeübt sein. Sie ist (wenigstens bisher) nicht selbstverständlich. Für die Pfarrer und Kooperatoren gibt es dazu bereits ein eigenes, breit angelegtes Fortbildungscurriculum, das bei den Teilnehmern auf eine sehr positive Resonanz trifft.

Statt von Kollegialität könnte man auch von Synodalität sprechen. Dieser Begriff hat den Vorteil, dass er nicht nur die Hauptamtlichen in der Pastoral in den Blick nimmt, sondern das ganze Volk Gottes. Eine wesentliche Leistung synodalen Handelns besteht in der gemeinschaftlichen Unterscheidung der Geister, damit die richtigen Entscheidungen getroffen und die entsprechenden Schritte auf dem weiteren Weg gesetzt werden können.

  • Gemeinsame Geistliche Unterscheidung... Switch

    In einem aktuellen Zeitschriftenartikel, den ich vor kurzem gelesen habe, ruft der Autor die sogenannten Bereitschaftsfragen während der Priesterweihe in Erinnerung. Besonders eine dieser Fragen des Bischofs an die Weihekandidaten ist für das Thema Kollegialität/ Synodalität bezeichnend. Sie lautet: „Seid ihr bereit, das Priesteramt als zuverlässige Mitarbeiter des Bischofs auszuüben und so unter der Führung des Heiligen Geistes die Gemeinde des Herrn umsichtig zu leiten?“ 

    Vgl. C. Hennecke: Wege zukünftiger Priesterausbildung. Skizzen für einen möglichen Aufbruch, in: Pastoralblatt 10/2014, 291-298, hier 294.

    Das Amt der Leitung wird in dieser Frage ausdrücklich kollegial verstanden. Ja, man könnte sogar sagen: Leitungshandeln wird hier verstanden als ein gemeinsamer Prozess geistlicher Unterscheidung! Denn derjenige, der eigentlich die Kirche führt und leitet, ist der Heilige Geist.

     

4.    Exemplarisch-zeichenhaftes Tun ist wirksamer
als das Festhalten an der Idee einer flächendeckenden pastoralen Versorgung

Was damit gemeint ist, braucht keine ausführliche Erklärung. Jeder von uns erlebt, dass eine flächendeckende pastorale Versorgung, wie sie in den letzten hundert Jahren (und wohl nur in dieser Phase der Kirchengeschichte!) möglich war, nicht mehr funktioniert. Dort, wo man um jeden Preis versucht, Präsenz in der Fläche aufrecht zu erhalten, wird kirchliches Tun leicht zu einem Anti-Zeugnis, das mehr abschreckt als anzieht, weil es mehr verspricht, als es hält. Denken wir zum Beispiel an Veranstaltungen, die eigentlich nur noch pro forma stattfinden, an sehr kleine Gruppen, die sich versammeln, an die schwache Qualität von Veranstaltungen, weil die Kräfte zu mehr fehlen, an Hauptamtliche, die Menschen nur „flüchtig“ begegnen können …

  • Kirche ist von Anfang an sakramental - zeichenhaft Switch

    Freilich ist dieses vierte Prinzip nicht neu. Es entspricht im Übrigen ganz der Grundstruktur der Kirche, die eine sakramentale, d. h. eine zeichenhafte-symbolische, Struktur ist. Damit ist gemeint, dass in einem Teil durchaus das Ganze anwesend sein und erfasst werden kann. Anders gesagt: ein exemplarischer Teil kann für das Ganze stehen. Zeichenhaftes Wirken gehört seit urbiblischen Zeiten zur Sprache Gottes. Und denken wir an Jesus, der – für seine Jünger zunächst unverständlich – von Kafarnaum weiterzieht, um auch an anderer Stelle das Reich Gottes zu verkünden, obwohl in Kafarnaum noch nicht alle Kranken geheilt sind (vgl. Mk 1,36ff). Und dennoch: Trotz aller Begrenztheit bricht durch Jesu exemplarisches, (real-)symbolisches Handeln in Kafarnaum das Reich Gottes schon wirklich an. Das kleine „Senfkorn“ des Reiches Gottes ist in die Erde gesenkt (vgl. Mt 13,31f).

  • Eine Anfrage an die Qualität des pastoralen Handelns! Switch

    Schon unsere alltägliche menschliche Erfahrung sagt uns, dass ein bewusstes und sorgfältiges zeichenhaftes Handeln allemal mehr bewirkt als eine vielleicht flächendeckend verbreitete, aber entleerte Struktur. An Papst Franziskus können wir gut beobachten, welch große Wirkung kleine, aber ausdrucksvolle Zeichen haben!

    Wenn wir uns wieder mehr dieses Prinzip des zeichenhaften Handelns zu eigen machen – und ich glaube, dass zukünftig kein Weg daran vorbeiführen wird –, dann wird dies unweigerlich zu einer spürbaren Anfrage an die Qualität unserer pastoralen Arbeit, unseres Auftretens, unserer Verkündigung führen. Ich fürchte, dass wir dann an so manchen Stellen qualitativ nachlegen müssen!

    Generalvikar Dr. Georg Bätzing hat in seinem Vortrag zum 40-jährigen Jubiläum der PastoralreferentInnen am 6. Nov. 2014 gesagt: „Wir dürfen […] unsere personellen Ressourcen und Kompetenzen jetzt schon nicht mehr gänzlich in den Strukturen binden, von denen wir doch über kurz oder lang Abschied nehmen müssen. Und damit meine ich die Strukturen der territorialen wie der kategorialen Seelsorge. Wir brauchen Personen, die als Kundschafter mit missionarischer Leidenschaft frei gesetzt sind, um die Gläubigen auf eine Zukunft ohne flächendeckende Strukturen und institutionelle Absicherung vorzubereiten, indem sie sie auf dem Weg der Umkehr (oder besser einer ‚zweiten Bekehrung‘) zu einem entschiedenen Glauben animieren. ‚Wandermissionare‘ brauchen wir – wenn Sie so wollen; eine mobile Einsatzgruppe aus Menschen aller pastoralen Berufe, die ihren Auftrag so selbstlos ausführen, dass sie sich wieder verabschieden und gehen können – und es genau darauf anlegen.“ Die gesamte Ansprache findet sich hier.

5. Die Sorge um die Verkündigung des Evangeliums muss stärker sein
als die Sorge um die Institution Kirche

Dieses letzte Prinzip ist zugleich das alles umfassende Prinzip: Denn in der Sorge um die Verkündigung des Evangeliums liegt der rote Faden allen kirchlichen Handelns. Die Evangelisierung der Welt ist der Grundauftrag der Kirche. Darauf weist schon das Kirchendokument Lumen Gentium des Zweiten Vatikanischen Konzils in seinem zweiten Satz hin. Dort heißt es nach den programmatischen Einleitungsworten „Christus ist das Licht der Völker“: „Darum ist es der dringende Wunsch dieser im Heiligen Geist versammelten Heiligen Synode, alle Menschen durch seine Herrlichkeit, die auf dem Antlitz der Kirche widerscheint, zu erleuchten, indem sie das Evangelium allen Geschöpfen verkündet (vgl. Mk 16,15).“

  • Es ist nicht überraschend, dass der Konzilspapst Paul VI. dieses Verständnis noch einmal in seinem apostolischen Schreiben Evangelii nuntiandi (1975) unterstrichen hat, indem er sagt: „Die Kirche hat ein lebendiges Bewusstsein, dass das Wort des Heilands – ‚Ich muss die Frohbotschaft vom Reich Gottes verkünden‘ (Lk 4,43) – voll und ganz auch von ihr gilt. Mit dem hl. Paulus fügt sie gern hinzu: ‚Von der Verkündigung des Evangeliums bleibt mir kein Ruhm. Es ist meine Pflicht. Wehe mir, wenn ich das Evangelium nicht verkündigte!‘ (1 Kor 9,16). […] Evangelisieren ist in der Tat die Gnade und eigentliche Berufung der Kirche, ihre tiefste Identität. Sie ist da, um zu evangelisieren , d. h. um zu predigen und zu unterweisen, Mittlerin des Geschenkes der Gnade zu sein, die Sünder mit Gott zu versöhnen, das Opfer Christi in der heiligen Messe immer gegenwärtig zu setzen, welche die Gedächtnisfeier seines Todes und seiner glorreichen Auferstehung ist“ (EN 13).

    Schon in EN 5 heißt es: „Die Verkündigung des Evangeliums ist für die Kirche nicht etwa ein Werk, das in ihrem Belieben stünde. Es ist ihre Pflicht, die ihr durch den Auftrag des Herrn Jesus Christus obliegt, damit die Menschen glauben und gerettet werden können.“

  • Und natürlich ist in Evangelii Gaudium von Papst Franziskus immer wieder von der Dringlichkeit und den verschiedenen Weisen der Evangelisierung die Rede (vgl. die Nummern 111.114.120f).

    Trotzdem spüren wir, dass wir uns diesen Grundauftrag der Kirche wieder neu in Erinnerung rufen und uns deutlich machen müssen, dass die Evangelisierung nicht nur uns selbst und den uns Nahestehenden der nachkommenden kirchlichen Generation gilt, sondern, wie Papst Franziskus sagt, „wesentlich verbunden ist mit der Verkündigung des Evangeliums an diejenigen, die Jesus Christus nicht kennen oder ihn immer abgelehnt haben. Viele von ihnen suchen Gott insgeheim, bewegt von der Sehnsucht nach seinem Angesicht, auch in Ländern alter christlicher Tradition. Alle haben das Recht, das Evangelium zu empfangen. Die Christen haben die Pflicht, es ausnahmslos allen zu verkünden …“ (EG 14).

  • Zu dieser Evangelisierung braucht es das glaubwürdige Zeugnis von Menschen, die für die Botschaft Jesu brennen („burning persons“), aber es braucht auch die Fähigkeit zur Argumentation, den Mut zum öffentlichen Diskurs (vgl. etwa aktuell die Sterbehilfe-Debatte oder auch den Dialog mit dem Islam, den Kontakt mit den Kulturschaffenden etc.).

    Insofern bleibt das Thema „Glaube und Vernunft“, das Papst Benedikt so wichtig war, auch weiterhin aktuell.

    Für den „Primat“ der Evangelisierung vor allen anderen Vollzügen der Kirche spricht nicht nur die Tatsache, dass die Kirche im Evangelisieren ihre tiefste Identität findet. Indem sie evangelisiert, baut sie sich überhaupt erst auf. Evangelii nuntiandi sagt ausdrücklich: „Die Kirche entsteht aus der Evangelisierung durch Jesus und die Zwölf. Sie ist deren normales, gewolltes, ganz unmittelbares und sichtbares Ergebnis: ‚So geht denn hin und macht alle Völker zu Jüngern‘ (Mt 28,19). Oder, ‚die nun sein Wort annahmen, wurden getauft, und gegen dreitausend schlossen sich ihnen an ... Und der Herr führte ihnen täglich jene zu, die das Heil erlangen sollten (Apg 2,41.47).“

    Die Kirche wird „geboren“ aus ihrer Sendung durch Christus (EN 15).

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