Die Erzählung, liebe Schwestern und Brüder, die wir gerade hörten (Mt 14,22-33), muss Matthäus sehr am Herzen gelegen haben, denn er rückt sie direkt in die Mitte seines Werks. Der Evangelist, der sich wie kein Zweiter mit dem Thema „Kirche“ auseinandersetzt, macht diese Begebenheit zum Herzstück seines Evangeliums. Diese Erzählung ist wie eine Zusammenfassung seines Kirchenbilds, eine ins Bild gegossene Ekklesiologie, ein Portrait, was Kirche ist oder sein soll.
Matthäus will damit nicht nur eine längst vergangene Geschichte wiedergeben. Er will nicht Geschichte erzählen, sondern die Geschichte seiner Adressaten prägen. Mit der Erzählung vom Schiff will er das Kirchenschiff seiner Adressaten wieder auf Kurs bringen, die Kompassnadel seiner Leser ausrichten. Nach allen Regeln der schriftstellerischen Kunst baut er darum seinen Lesern Brücken in diese Erzählung hinein. Ganz allgemein redet er stets nur von „den Jüngern“ – damit sich ja keiner von seinen Lesern ausgeschlossen fühlt. Er sagt nur „Jene“ im Boot – um die Identifikation mit „Denen“ im Boot zu erleichtern. Er spricht von irgendeiner Überfahrt (ohne einen konkreten Ort zu nennen) – damit sich die Kirche durch die Jahrhunderte in dieser Fahrt über das Wasser erkennen kann.
Es geht nicht darum, Gewesenes aus dieser Erzählung herauszulesen. Wir sollen uns in diese Erzählung hineinlesen – uns und unsere Nachfolge, uns und die Situation unserer Kirche. Und so möchte ich mit Ihnen heute Abend in dieses Boot steigen, mit Matthäus auf hohe See aufbrechen und nach Inspirationen für unser Kirchesein, für die Synode in unserem Bistum, aber auch für unsere persönliche Nachfolge fragen.
Schon das erste Wort ist bedeutsam. Da „fordert“ Jesus die Jünger zum Übersetzen auf. Ein deutliches Wort. Jesus drängt sie förmlich, er befiehlt ihnen regelrecht. Sie sollen in See stechen. Und das – wohlgemerkt – ohne ihn! Er bleibt zurück. Jetzt sind sie dran.
Lange genug waren sie in seiner Gefolgschaft. Sie haben ihn gehört und erlebt, sie sind ihm nachgefolgt. Jetzt traut ihnen Jesus etwas zu. Erweist Euch als mündige Jünger. Und er nötigt sie förmlich zum Aufbruch.
Wie oft geht uns das im Leben so? Wenn wir aus den Kinderschuhen herauswachsen, als Erwachsene das Gelernte und Gehörte, was uns Eltern und Lehrer mit auf den Weg gegeben haben, umsetzen und anwenden müssen. Da zählen dann keine vorgefertigten Antworten. Da braucht es eigenständiges Denken, die Treue zum Ursprung, aber auch den Mut zum eigenen Standpunkt. So stelle ich mir auch die Synode vor: dass Menschen, die etwas von Gott erfahren haben, eigenständig nach Wegen suchen, Verantwortung übernehmen und sich als mündige Jüngerinnern und Jünger erweisen, die den Auftrag Jesu zum Aufbruch annehmen und situationssensible Seemänner und Seefrauen sind.
Jesus jedenfalls setzt Vertrauen in die Jünger. Er drängt sie zur Reise. Jüngersein heißt also nicht, stehenbleiben, sich hinter dem Meister verstecken oder gar den Verstand ausschalten, sondern selbstverantwortlich – freilich mit Blick auf ihn – das Schiff zu steuern.
Nach dem Aufbruch sehen wir in der Erzählung das Schiff schon mitten auf hoher See. Die Fahrt ist mühevoll. Gegenwind quält die Besatzung. Der See ist stürmisch. Man braucht nicht viel Phantasie, um manche (auch aktuelle) Phase der Kirchengeschichte darin zu entdecken.
Wenn man den Text genau liest, dann fällt auf, dass nicht die stürmische See den Jüngern Angst macht. Sie schreien nicht des Windes wegen. Angst ergreift sie erst, als sie Jesus über den See kommen sehen und als sie meinen, er sei nur ein Gespenst, ein „Phantasma“ – heißt es im Original.
Das muss man sich auf der theologischen Zunge zergehen lassen. Sie schreien nicht wegen des Wellengangs. Richtig in Angst versetzt sie erst der Verdacht, dieser Jesus sei nicht wirklich, sei bloß eine Einbildung. Wirklich bedrohlich würde die Situation also erst, wenn es keinen gäbe, der über das Wasser gehen kann, wenn Glaube nur ein Trugschluss wäre, wenn die wilden Wasser das letzte Wort hätten.
Darum die Antwort Jesu: Doch, mich gibt es, „ich bin, habt keine Angst“. Das ist Glaube: Mitten im Seegang auf seine Existenz zu vertrauen – das stillt den Sturm, das macht die Weiterfahrt möglich. Und das wäre auch eine der edelsten Aufgaben der Kirche: Jesus, den Auferstandenen, mitten im Sturm zu verkünden und zu bezeugen – im Wort, im Trost, den wir einander spenden, in den sozialen Projekten, im zwischenmenschlichen Miteinander, im sozialen Netz unserer Gemeinden, um denen, die nur mehr Sturm sehen und Untergang erwarten, Hilfe zu bringen.
Das Kirchenschiff als Rettungsboot – der Gedanke wäre mir sympathisch. So – wie Jesus in der Erzählung – sollte Kirche sein: Kraftvoll in ihrer Hilfe, lautstark in ihrer Hoffnungsbotschaft. Es geht nicht um die Ausstattung oder Renovierung der Clubhäuser am Ufer, sondern um die Lebensrettung, die Hilfsaktionen mitten auf hoher See.
Dann ist da schließlich Petrus und sein Wunsch, über das Wasser zu gehen. Er bittet Jesus um den Befehl, um die Erlaubnis zu einer doch recht waghalsigen Unternehmung: „Befiehl mir, dass ich auf dem Wasser zu Dir komme“. Und Jesus sagt „Ja“, schlicht und einfach: „Komm“. So mutig Petrus startet, nach einigen Schritten versinkt er. Was lässt ihn scheitern? Als er den Sturm sieht, sagt der Text, sinkt er ein. Schuld waren Deine Zweifel, sagt Jesus: „Warum hast Du gezweifelt?“ Beides meint dasselbe, denn dem Wortsinn nach hat Zweifel mit „Entzweiung“ zu tun, mit Trennung. Die Halbherzigkeit also lässt Petrus scheitern. Als er den Blick von Jesus nimmt, sich innerlich entzweien und vom Sturm ablenken lässt, geht er unter.
Das ist eine kräftige Mahnung an alle Aufbrechenden, an alle Synodalen auch und an uns alle vor Schritten ins Ungewisse: was Du tust, tu es ganz, tu es überzeugt, nicht halbherzig, niemals mit angezogener Handbremse.
Erstaunlich ist dann aber auch die Reaktion Jesu. Er hält Petrus zwar seine Zweifel vor, aber nicht den Versuch oder sein Ansinnen. Jesus sagt ja nicht: Da siehst Du, wie weit dich dein absonderlicher Plan gebracht hat. Oder: Wärst Du doch lieber an Bord geblieben! Nein. Den Aufbruch, den Wagemut kritisiert Jesus nicht. Die Halbherzigkeit hat Petrus in die Krise gebracht. Die Wankelmütigkeit hat ihm den Boden unter den Füßen entzogen.
Jesus unterstützt den Aufbruch, die Experimentierfreudigkeit des Jüngers. Er trägt den Aufbruch mit. Wenn Du meinst, „komm“, dann ist das dein Weg und ich gehe mit.
Wie oft fragen wir im Leben, an Wegkreuzungen, auch in kirchenpolitischen Dingen nach richtig oder falsch, kann ich, darf ich, soll ich? Da ist es doch tröstlich, dass Jesus unseren Entscheidungen durch sein Dasein ein Stück der bleiernen Schwere nimmt. Jesus begleitet unsere Aufbrüche, zieht sich nicht auf einmal zurück. Ich darf Entscheidungen treffen im festen Wissen, dass Jesus nur einen Handgriff entfernt ist.
Diese gottgewisse Leichtigkeit wünsche ich auch unseren Synodalen: den Mut, Wege einzuschlagen, vielleicht auch ungewöhnliche Pfade zu wählen im Wissen, dass gar nichts schiefgehen kann. Nur auf zweierlei kommt es an: dass der Weg vom Ziel bestimmt ist, von der Ausrichtung auf Jesus (denn zu ihm will ja Petrus aufbrechen!) - und dass ich zielstrebig und mutig den Weg gehe und nicht auf einmal wieder Angst vor meiner eigenen Waghalsigkeit bekomme.
Lieber patschnass bei Jesus ankommen, als es – vor lauter Angst – nie probiert zu haben. Lieber aufrecht sich den Stürmen stellen, als vermeintlich sicher an Bord die eigenen Ängste zelebrieren. Lieber auf sein Wort „komm“ vertrauen, als auf die Besserwisser hören, die uns zuflüstern „das kann nur schiefgehen“.
Welches Kirchenbild entwirft Matthäus da in der Mitte seines Evangeliums. Ich meine, er stellt sich Kirche als Gemeinschaft mündiger Jünger vor, die sich vom Herrn mitten auf die hohe See gesendet weiß; von einem Herrn, der ihr damit nicht eine beschauliche Fahrt verspricht (er steht ja selbst mitten im Sturm), der aber doch unserem Aufbruch eine sichere Ankunft verheißt.