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Schlagworte
1. Einleitung
Die Barmer Theologische Erklärung (BTE) zählt zu den herausragenden Ereignissen in der Geschichte des Protestantismus in Deutschland im 20. Jahrhundert. Sie gilt als die Gründungsurkunde der Bekennenden Kirche und ist somit ein Schlüsseldokument des kirchlichen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus. Seit ihrer Verabschiedung in der reformierten Gemarker Kirche im heutigen Wuppertaler Stadtteil Barmen am 31.5.1934 geht von dieser theologischen Erklärung „eine starke Orientierungskraft“[1] aus. Ihre Wirkungsgeschichte reicht bis in die Gegenwart. Dabei ist zu beobachten, dass die Barmer Theologische Erklärung nach 1945 vielfach „unbefangen und unhistorisch […] für alle möglichen Interessen vereinnahmt und instrumentalisiert“[2] wurde und wird. Sie darf nicht aus der Gegenwart heraus interpretiert werden, sondern muss in ihrem historischen Kontext verstanden werden. Die BTE ist ein „Dokument höchsten theologischen Anspruchs“[3], das seine besondere Bedeutung dadurch erlangt, dass in Barmen Lutheraner, Reformierte und Unierte erstmals seit der Reformation zu einer gemeinsamen bekenntnismäßigen Aussage zusammenfanden.
2. Der Weg nach Barmen – Kirche zwischen Anpassung und Widerstand
Die nationalsozialistische Machtübernahme in Deutschland mit der Ernennung Adolf Hitlers (1889-1945) zum Reichskanzler am 30.1.1933 blieb auch für die evangelische Kirche nicht folgenlos. Die staatlichen Versuche, die evangelische Kirche organisatorisch wie ideologisch gleichzuschalten, sie also schrittweise in das nationalsozialistische System einzufügen, begannen bereits im Frühjahr 1933. Dabei bot sich die „Glaubensbewegung Deutsche Christen“, die in ihrem Programm „die rückhaltlose Bejahung des Nationalsozialismus“[4] festgeschrieben hatte, als willfähriger Erfüllungsgehilfe an.
2.1 Glaubensbewegung Deutsche Christen – die Kirchenpartei des Nationalsozialismus
Die „Glaubensbewegung Deutsche Christen“ war eine Kirchenpartei, die am 6.6.1932 in Berlin von der Reichsorganisationsleitung der NSDAP mit Hilfe nationalsozialistischer Pfarrer gegründet wurde. Ursprünglich als Kirchenparteibewegung für die altpreußischen Kirchenwahlen im November 1932 gedacht, wurde sie doch sogleich nach ihrer Gründung als umfassende Reichsorganisation geplant. Auf ihrer Reichstagung Anfang April 1933 in Berlin ließen die „Deutschen Christen“ (DC) keinen Zweifel an ihrem Ziel einer Gleichschaltung von Kirche und Staat, von evangelischem Christentum und Nationalsozialismus aufkommen. Errichtet werden sollte eine einheitliche Reichskirche für die deutschen Protestanten. Konkret war an eine Reichskirche lutherischer Prägung unter Eingliederung der reformierten Gemeinden gedacht, wie sie die „Deutschen Christen“ in ihren zehn „Kirchengrundsätzen“ vom 5.5.1933 forderten. Dabei sollte es sich aber nicht um eine Staatskirche im üblichen Sinne handeln, sondern um eine „evangelische Reichskirche, die die Hoheit des nationalsozialistischen Staates aus Glauben anerkennt und das Evangelium im Dritten Reich verkündigt“.[5]
Die organisatorischen Voraussetzungen für eine solche Reichskirche schienen mit der Vereinigung von 28 deutschen evangelischen Landeskirchen zur Deutschen Evangelischen Kirche (DEK) gegeben. Die Verfassung der DEK wurde am 11.7.1933 durch Pakt der Landeskirchen beschlossen und am 14.7.1933 von der Reichsregierung per Reichsgesetz in Kraft gesetzt. Neun Tage später, am 23.7.1933, fanden erstmals in der Geschichte des deutschen Protestantismus allgemeine Kirchenwahlen statt.
2.2 Jungreformatorische Bewegung – die theologische und kirchenpolitische Alternative zur Glaubensbewegung Deutsche Christen
Unter dem Namen „Evangelium und Kirche“ trat die Jungreformatorische Bewegung als Alternative zu den „Deutschen Christen“ bei diesen Wahlen an. Das Ziel, das Vordringen der „Deutschen Christen“ in kirchliche Leitungsämter zu verhindern, einte diese theologisch sehr heterogene Gruppe, die sich im Mai 1933 bildete. Zu den Unterzeichnern des Gründungsaufrufes gehörten Hanns Lilje (1899-1977), Generalsekretär der Deutschen Christlichen Studentenvereinigungen, Walter Künneth (1901-1997), Leiter der Apologetischen Centrale im Evangelischen Johannesstift Berlin-Spandau, und die Theologieprofessoren Friedrich Gogarten (1887-1967), Breslau, Karl Heim (1874-1954), Tübingen, und Wilhelm Stählin (1883-1975), Münster. Später schlossen sich Martin Niemöller (1892-1984) und Dietrich Bonhoeffer (1906-1945) ebenfalls dieser kirchenpolitischen Bewegung an. Auch die Jungreformatorische Bewegung strebte eine einheitliche evangelische Kirche an. Im Unterschied zu den „Deutschen Christen“ war sie aber bemüht, die Kirche aus der Einflusssphäre der NS-Politik herauszuhalten, forderte die Neugestaltung der Kirche einzig und allein aus dem „Wesen der Kirche“[6] heraus. Die Grundlage der Neugestaltung der Kirche könne nur das reformatorische Bekenntnis sein, konkret die Entfaltung der reformatorischen Bekenntnisse lutherischer und reformierter Prägung „als Antwort der Kirche auf die heute an sie gerichteten Fragen, z.B. Ehe, Volk, Rasse, Staat“. Dieses neue Bekennen habe alle im Widerspruch zum Evangelium stehenden Anschauungen und Lehren „als Irrlehren zu verwerfen“.
2.3 Der Wahlsieg der Glaubensbewegung Deutsche Christen und der Versuch einer Gleichschaltung der evangelischen Kirche in Deutschland
Die Kirchenwahlen am 23.7.1933 sahen die „Deutschen Christen“ als klaren Sieger, die 70 Prozent der abgegebenen Stimmen auf sich vereinigen konnten. Dieses Ergebnis war nicht allein mit der massiven Wahlhilfe für die „Deutschen Christen“ durch die Nationalsozialisten und die gleichzeitige Diffamierung der Jungreformatorischen Bewegung durch die NS-Presse zu erklären. Im Sommer 1933 gab es im evangelischen Kirchenvolk große Sympathien für den Nationalsozialismus. Weite Teile des deutschen Protestantismus hatten keine echte Bindung an die Weimarer Republik gefunden. Im Gegenteil, die Weimarer Republik war das Ergebnis der Revolution von 1918 gewesen, die das Kaiserreich und damit die Allianz zwischen Thron und Altar zerstört hatte. Die Kirchenpolitik Hitlers, der am Vorabend der Kirchenwahl erklärte, an die Stelle „der Vielzahl der evangelischen Kirchen“ solle, „wenn irgend möglich eine einige Reichskirche“ treten[7], fand in evangelischen Kirchen verbreitet Zustimmung.
Nach diesem Wahlausgang schien der endgültigen Unterwerfung der evangelischen Kirche unter das Regiment der „Deutschen Christen“ und ihre Gleichschaltung mit dem nationalsozialistischen Herrschaftssystem nichts mehr im Wege zu stehen. Der erste Schritt hierzu war die Entlassung der Leitungsorgane in fast allen Landeskirchen. Lediglich die süddeutschen Landeskirchen Bayern und Württemberg sowie Hannover und die Kirchenprovinz Westfalen, wo die „Deutschen Christen“ über keine Mehrheiten verfügten, blieben unter der Leitung der bisherigen Amtsträger. Die Errichtung einer evangelischen Reichskirche nach dem Führerprinzip schien vollendet, als am 27.9.1933 in Wittenberg die erste deutsche Nationalsynode zusammentrat und den ehemaligen Königsberger Wehrkreispfarrer Ludwig Müller (1883-1945), seit April 1933 Hitlers Bevollmächtigter für Fragen der evangelischen Kirche, per Akklamation zum Reichsbischof ernannte.
Doch bereits zu diesem Zeitpunkt hatte sich Widerstand gegen das Kirchenregiment der „Deutschen Christen“ organisiert. Als Reaktion auf den Beschluss der altpreußischen Generalsynode vom 5.9.1933 zur Einführung des sogenannten Arierparagraphen in der Kirche hatte sich am 11.9.1933 unter Leitung des Pfarrers Martin Niemöller der Pfarrernotbund gegründet, dessen Mitglieder sich schriftlich verpflichteten, ihr „Amt als Diener des Wortes auszurichten allein in der Bindung an die Heilige Schrift und an die Bekenntnisse der Reformation als die rechte Auslegung der Heiligen Schrift“.[8]
Mit dem Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7.4.1933 wurde der Zugang zu und der Verbleib in öffentlichen Ämtern für Juden unmöglich gemacht, so dass zunächst vor allem jüdische Professoren, Richter und politische Beamte ihre Stellen verloren. Die Übernahme dieser gesetzlichen Bestimmungen für den kirchlichen Dienst bedeutete, dass Pfarrer und Kirchenbeamte in den Ruhestand versetzt werden mussten, wenn sie jüdische Eltern oder ein jüdisches Großelternteil hatten. Dagegen erhob sich innerkirchlich heftiger Widerspruch. Ein Gutachten der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Marburg, an dem Rudolf Bultmann (1884-1976) entscheidend mitwirkte, kam zu dem Ergebnis, dass ein solcher kirchlicher Arierparagraph unvereinbar mit Schrift und Bekenntnis sei und daher die Kirche, wolle sie Kirche Jesu Christi bleiben, diese staatlichen Bestimmungen nicht in ihr Beamtenrecht übernehmen dürfe. Der Widerstand gegen einen kirchlichen Arierparagraphen wurde in den folgenden Monaten so stark, dass sich Reichsbischof Müller gezwungen sah, von dieser Maßnahme Abstand zu nehmen.
Als reichsweiter Zusammenschluss war der Pfarrernotbund die Nachfolgeorganisation der Jungreformatorischen Bewegung, die sich Ende Juli 1933 aus der Kirchenpolitik zurückgezogen hatte. Im Januar 1934 zählte der Pfarrernotbund mehr als 7.000 Mitglieder und umfasste damit rund 37 Prozent der gesamten Pfarrerschaft Deutschlands. Ereignisse wie der sogenannte Sportpalast-Skandal im November 1933, als auf einer Großkundgebung der „Deutschen Christen“ im Berliner Sportpalast der örtliche Gauobmann Reinhold Krause (1893-1980) eine völkische Umformung des Christentums propagierte, oder die Eingliederung des Evangelischen Jugendwerkes in die Hitlerjugend durch Reichsbischof Müller im Dezember 1933, waren der Nährboden für das Anwachsen der Opposition gegen das Kirchenregiment der „Deutschen Christen“, die ab 1934 in der Bekennenden Kirche ihren Ausdruck fand.
2.4 Die Bekennende Kirche formiert sich
Wesentliche Wurzeln der Bekennenden Kirche waren der Pfarrernotbund und die „Gemeindetage unter dem Wort“, die auf Einladung von Karl Immer (1916-1984), Pfarrer der reformierten Kirchengemeinde Barmen-Gemarke, erstmals am 24.9.1933 stattfanden. Hieraus entwickelten sich freie Synoden, die den Anspruch erhoben, die wahre Kirche gegen das Kirchenregiment unter Reichsbischof Müller bekennend zu vertreten.
In den ersten Monaten des Jahres 1934 formierte sich die kirchliche Opposition. In Barmen-Gemarke versammelten sich Anfang Januar 1934 320 Älteste und Prediger aus 167 evangelischen Gemeinden Deutschlands zu einer freien reformierten Synode, die die von dem in Bonn lehrenden Schweizer evangelisch-reformierten Theologen Karl Barth (1911-1968) zum Jahreswechsel 1933/1934 verfasste „Erklärung über das rechte Verständnis der reformatorischen Bekenntnisse in der Deutschen Evangelischen Kirche der Gegenwart“ annahm. Im März 1934 schlossen sich der Pfarrernotbund, die freien Synoden in den von „Deutschen Christen“ regierten Landeskirchen und die vier sogenannten intakten, nicht-deutschchristlichen Landeskirchen Hannover, Bayern, Württemberg und Westfalen zur Bekenntnisgemeinschaft der DEK zusammen. Ein erster reichsweiter Bekenntnistag fand am 22.4.1934 statt, zu dem der württembergische Landesbischof Theophil Wurm (1868-1953) Vertreter aller bekenntnistreuen Gruppen nach Ulm einlud. Im Ulmer Münster feierten mehr als 5.000 Menschen einen Bekenntnisgottesdienst. Nach der Predigt von Bischof Wurm verlas der bayerische Landesbischof Hans Meiser (1881-1956) eine „Kundgebung der bekennenden deutschen evangelischen Kirche“, auf die sich die Vertreter der verschiedenen Bekenntnisgruppen am Vorabend verständigt hatten. Sie war die „kirchliche Gründungsurkunde der Bekennenden Kirche“.[9] Darin erklärten sich die in Ulm versammelten bekenntnistreuen Christen als „rechtmäßige evangelische Kirche Deutschlands“.
Was dieser Anspruch, der von den „Deutschen Christen“ als Kriegserklärung aufgefasst wurde, theologisch tatsächlich bedeutete, sollte auf einer Bekenntnissynode für die gesamte DEK geklärt werden. Zur Vorbereitung dieser Synode setzte der Nürnberger Ausschuss, das im April 1934 gebildete Leitungsgremium der Bekenntnisgemeinschaft der DEK, einen Theologischen Ausschuss ein, dem der lutherische Pfarrer Hans Asmussen (1898-1968) aus Altona, der reformierte Professor Karl Barth aus Bonn und der lutherische Oberkirchenrat Thomas Breit (1880-1966) aus München angehörten. Die drei Theologen kamen am 15./16.5.1934 in Frankfurt am Main zusammen und erarbeiteten einen Entwurf für die Theologische Erklärung der Synode. Die Grundkonzeption stammte von Barth, der Asmussen und Breit ohne wesentliche Veränderungen zustimmten. Das Einbringungsreferat auf der Synode sollte Asmussen halten.
3. Erste Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche in Barmen im Mai 1934
Die Erste Bekenntnissynode der DEK fand auf Einladung des westfälischen Präses Karl Koch (1876-1951) vom 29.-31.5.1934 in Wuppertal-Barmen statt. Für Wuppertal als Veranstaltungsort sprachen verkehrstechnische Gründe und das konservativ fromme, stark durch die Erweckungsbewegung beeinflusste Bergische Land, in dem die „Deutschen Christen“ kaum Fuß zu fassen vermochten. In der reformierten Gemarker Kirche versammelten sich 138 Synodale – 83 Pfarrer und Theologen und 55 Laien – aus 18 Landeskirchen. Darunter befand sich als einzige Frau Stephanie Mackensen von Astfeld (1894-1985) vom pommerschen Bruderrat. Sie stand repräsentativ für die große Mehrheit der Synodalen, die dem gehobenen Bürgertum angehörten und nationalistisch, wenn nicht gar nationalsozialistisch eingestellt waren, wie eben Stephanie Mackensen, die seit 1932 Mitglied der NSDAP war, später Dietrich Bonhoeffers Predigerseminar in Finkenwalde unterstützte und Albrecht Schönherr (1911-2009), dem späteren langjährigen Vorsitzenden des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR, zu einer Pfarrstelle verhalf. Auch in dieser Hinsicht war sie durchaus repräsentativ für die von Eberhard Busch als „Vertreter (der) kirchlichen Mitte“ beschriebenen Synodalen, die bis Barmen „die Verknüpfung des politischen Ja zu Hitler und des Kirchlichen Ja zu Christus vertreten hatten“.[10]
Die Synode stand vor der Aufgabe, ihr Verhältnis zum offiziellen Kirchenregiment unter Reichsbischof Müller zu klären. Dies erforderte ein gemeinsames Bekenntnis von Lutheranern, Reformierten und Unierten. Die Überwindung der Bekenntnisdifferenzen war die eigentliche Herausforderung der Synode. An eine Verständigung der verschiedenen konfessionellen Gruppen auf ein gemeinsames Wort glaubte die Staatsmacht nicht, weshalb die Geheime Staatspolizei die Synodalen gewähren ließ. Die Geheime Staatspolizei sah vielmehr „die Chance einer Spaltung“ und lehnte daher entschieden eine Polizeiaktion ab, weil dadurch „die Einigung der Bekenntnisfront geradezu erzwungen werde“.[11] Dass dennoch – freilich nach hartem Ringen – am 31.5.1934 die „Theologische Erklärung zur gegenwärtigen Lage der Deutschen Evangelischen Kirche“, allgemein als Barmer Theologische Erklärung bezeichnet, einstimmig verabschiedet wurde, ist mit dem großen äußeren Druck zu erklären, der auf den Synodalen lastete. In seiner Einbringungsrede forderte Hans Asmussen die Synodalen zu Kompromissbereitschaft auf, denn „der Angriff auf die christliche Substanz, wie er von Seiten der Deutschen Glaubensbewegung und von Seiten der Deutschen Christen erfolgt, liegt restlos außerhalb des Verhältnisses der Konfessionen“.[12]
4. Aufbau und Inhalt der Barmer Theologischen Erklärung
Die Barmer „Theologische Erklärung zur gegenwärtigen Lage in der Deutschen Evangelischen Kirche“ vom 31.5.1934 besteht aus einer Präambel, sechs Thesen und einem Epilog.[13] Die Verkürzung auf Barmer Theologische Erklärung (BTE) verkennt, dass bereits die Überschrift dieses Dokuments drei wesentliche Aussagen enthält:
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Es liegt nicht in der Intention der in Barmen versammelten Kirchenvertreter, eine politische Stellungnahme abzugeben. Vielmehr soll es sich um „einen exklusiv theologischen Text“[14] handeln.
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Dieser theologische Text wird als gemeinsame „Erklärung“ von Vertretern lutherischer, reformierter und unierter Landeskirchen abgegeben. Insbesondere die Synodalen lutherischen Bekenntnisses wollen mit dieser Formulierung zum Ausdruck bringen, dass es sich um keine neue beziehungsweise weitere Bekenntnisschrift handelt.
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Es ist nicht beabsichtigt, mit dieser gemeinsamen Erklärung ein zeitlos gültiges Dokument zu formulieren, sondern sich „zur gegenwärtigen Lage“ zu äußern, wie sie sich in der evangelischen Kirche im Frühjahr 1934 darstellt.
4.1 Anlass, Hintergrund und Legitimität der Barmer Bekenntnissynode
In der Präambel legitimierte sich die Synode mit einem Verweis auf die geltende Kirchenverfassung und die Orientierung an den Bekenntnissen der Kirche. Sie ließ keinen Zweifel daran, dass die in Barmen versammelten Vertreter der verschiedenen Landeskirchen „gemeinsam auf dem Boden der Deutschen Evangelischen Kirche als eines Bundes der deutschen Bekenntniskirchen stehen“. Es ging also in Barmen nicht um die „Gründung einer neuen Kirche“, wie Asmussen unterstrich. Die Betonung der Legalität und Rechtskontinuität war den Synodalen wichtig, weil sie sonst eine Freikirche etablieren würden. Weiter werden Hintergrund und Anlass des Zusammentritts der Synode genannt. Die Einheit der Deutschen Evangelischen Kirche sei „aufs schwerste gefährdet […] durch die in dem ersten Jahr des Bestehens der Deutschen Evangelischen Kirche mehr und mehr sichtbar gewordene Lehr- und Handlungsweise der herrschenden Kirchenpartei der Deutschen Christen und des von ihr getragenen Kirchenregimentes“. Damit wurden die „Deutschen Christen“ als die eigentlichen „Schismatiker und Rechtsbrecher“[15] bezeichnet, von denen die Gefahr einer Kirchenspaltung ausgehe.
4.2 Aufbau der sechs Barmer Thesen
Die Auseinandersetzung mit den theologischen und kirchenpolitischen Vorstellungen der „Deutschen Christen“ erfolgte in sechs als „evangelische Wahrheiten“ formulierten Thesen. Diese Thesen sind jeweils in drei Absätze gegliedert, beginnend mit einem Bibelwort aus dem Neuen Testament. Das Bibelwort wird in einem Bekenntnissatz (Affirmatio) ausgelegt, dem ein Verwerfungssatz (Damnatio) folgt, in welchem eine „falsche Lehre“ verworfen wird. In den Verwerfungssätzen werden die Vertreter der falschen Lehren ausdrücklich nicht verurteilt, oder gar ihr Ausschluss aus der Kirche gefordert. Als Vertreter dieser Lehren haben sie sich bereits selbst von der Kirche ausgeschlossen. Die Möglichkeit einer Rückkehr dieser Menschen in die Kirche Christi wird aber dadurch eröffnet, dass sie in den Verwerfungssätzen von ihrer falschen Lehre unterschieden werden.
4.2.1 Barmen I: Bekenntnis zu Jesus Christus als dem einen Wort Gottes
Die zentrale Botschaft der Barmer Theologischen Erklärung wird in der ersten These mit ihren offenbarungstheologischen und christozentrischen Grundaussagen beschrieben, die „eine klare Absage an den vergotteten Führer sowie an jedwede Vermischung von brauner Religion und christlichem Glauben“[16] bedeutet. In Anknüpfung an das reformatorische „solus Christus – sola scriptura“ bekennt diese These den durch die Heilige Schrift bezeugten Jesus Christus „in radikaler Exklusivität“[17] als „das eine Wort Gottes“ und verwirft „die falsche Lehre, als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung außer und neben diesem einem Worte Gottes auch noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkennen“.
4.2.2 Barmen II: Die Konsequenzen des solus Christus für das christliche Leben
Die zweite These fragt nach den Konsequenzen, die das Bekenntnis zu Jesus Christus als dem einen Wort Gottes für das christliche Leben hat. Jesus Christus ist „Gottes Zuspruch der Vergebung aller unserer Sünden“, zugleich aber auch „Gottes kräftiger Anspruch auf unser ganzes Leben“. Der Totalitätsanspruch des NS-Regimes ist unvereinbar mit dem Verständnis der Christen, ihr Leben einzig und allein auf Christus auszurichten, durch den allein sie Heiligung als „frohe Befreiung aus den gottlosen Bindungen dieser Welt“ erfahren können. Diese „frohe Befreiung“ durch Jesus ermöglicht Christen die Übernahme von gesellschaftlicher und politischer Verantwortung in der Welt, ruft sie also „zu freiem dankbaren Dienst an seinen (Gottes) Geschöpfen auf“. Von daher kann die zweite These auch als „eine Grundlegung christlicher Ethik“[18] verstanden werden.
4.2.3 Barmen III: Wesen und Gestalt der Kirche
Die dritte These definiert Kirche als „Gemeinde von Brüdern“ (diese Redewendung schloss damals sprachlich üblicherweise die Schwestern ein), in der „Jesus Christus in Wort und Sakrament durch den Heiligen Geist als der Herr gegenwärtig handelt“. Diese Kirche habe „mit ihrem Glauben wie mit ihrem Gehorsam, mit ihrer Botschaft wie mit ihrer Ordnung“ zu bezeugen, dass sie „allein von seinem (Christus) Trost und von seiner Weisung in Erwartung seiner Erscheinung lebt und leben möchte“. Zu verwerfen sei deshalb „die falsche Lehre, als dürfe die Kirche die Gestalt ihrer Botschaft und ihrer Ordnung ihrem Belieben oder dem Wechsel der jeweils herrschenden weltanschaulichen und politischen Überzeugungen überlassen“. Damit wird die Vorstellung einer Trennung von äußerer Kirchengestalt und Bekenntnis, mit der die „Deutschen Christen“ ihre Kirchenpolitik begründen, entschieden abgelehnt.
Über diese „Zeitbedingtheit und Kontextgebundenheit“ hinaus ist die dritte These in ihrer „zeitübergreifenden Botschaft“[19] zu würdigen. Gemeint ist das Bild von christlicher Kirche, das hier gezeichnet und mit dem paulinischen Wort von Haupt und Leib näher beschrieben wird. Es ist das eine Haupt (Christus), das über dem Leib (Gemeinde) steht, ihn regiert und zugleich mit ihm nahtlos verbunden ist. Der Leib ist die Summe der einzelnen Glieder (Gemeinde von Brüdern und Schwestern), die vom Haupt (Christus) aus so zusammengefügt sind, dass sie eine Einheit bilden, sprich eine Gemeinde, in der den einzelnen Gliedern eine bestimmte Aufgabe übertragen ist. Als „geschwisterliche Christokratie“ hat Karl Barth später das bezeichnet, was in dieser These als christliche Kirche beschrieben wird.
4.2.4 Barmen IV: Ämterdifferenzierung und Hierarchiefreiheit der Kirche
Die folgende vierte These wendet sich gegen die Übertragung des Führerprinzips auf die Kirche. Sie bekennt sich zur Ämterdifferenzierung und Hierarchiefreiheit der Kirche, in der es „keine Herrschaft der einen über die anderen“ gebe, sondern „die Ausübung des der ganzen Gemeinde anvertrauten und befohlenen Dienstes“. Die Ansicht, „als könne und dürfe sich die Kirche abseits von diesem Dienst besondere, mit Herrschaftsbefugnissen ausgestattete Führer geben und geben lassen“, wird als „falsche Lehre“ verworfen. Das „Bild von der Kirche als Dienstgemeinschaft“[20] wird dem Führerprinzip entgegengestellt.
4.2.5 Barmen V: Verhältnis von Kirche und Staat
Das Verhältnis zwischen Kirche und Staat ist Gegenstand der fünften These. Dem Staat, der als Anordnung Gottes verstanden wird, ist die Aufgabe übertragen, „nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen“. Die Kirche erkennt also den Staat und dessen Ordnung an, spricht ihm in diesem Zusammenhang ausdrücklich auch das Gewaltmonopol zu. Zugleich erinnert sie aber auch an die Grenzen staatlicher Gewalt, die durch Gottes Reich, Gottes Gebot und Gottes Gerechtigkeit gezogen sind. Dabei „vertraut und gehorcht (die Kirche) der Kraft des Wortes, durch das Gott alle Dinge trägt“. In dem folgenden Verwerfungssatz wird „die antitotalitäre Ausrichtung der These“[21] deutlich. Er richtet sich gleichermaßen gegen den Totalitätsanspruch des nationalsozialistischen Staates wie die staatlichen Ansprüche des offiziellen Kirchenregimentes unter Reichsbischof Müller. „Wir verwerfen die falsche Lehre“, heißt es in Richtung NS-Regime, „als solle und könne der Staat über seinen besonderen Auftrag hinaus die einzige und totale Ordnung menschlichen Lebens werden“. Ebenso deutlich sind die Worte an die Adresse der „Deutschen Christen“: „Wir verwerfen die falsche Lehre, als solle und könne sich die Kirche über ihren besonderen Auftrag hinaus staatliche Art, staatliche Aufgaben und staatliche Würde aneignen und damit selbst zu einem Organ des Staates werden“. Im Frühjahr 1934 waren das bemerkenswerte, ja mutige Worte, denn das ist „ein neuer, bislang unerhörter Ton in dieser Zeit der politischen und geistigen Kapitulation aller Parteien und Organisationen in Deutschland“.[22]
4.2.6 Barmen VI: Die Kirche und ihr öffentlicher Auftrag
Die sechste und letzte These betont den „Öffentlichkeitsanspruch des Evangeliums“[23] und erinnert deshalb daran, dass der Auftrag der Kirche darin besteht, „an Christi Statt und also im Dienst seines eigenen Wortes und Werkes durch Predigt und Sakrament die Botschaft von der freien Gnade Gottes auszurichten an alles Volk“. Mit der Forderung nach Verkündigung der frohen Botschaft an alles Volk wird ein Zeichen „gegen eine Nationalisierung der christlichen Verkündigung“[24] gesetzt. Zu verwerfen sei deshalb auch „die falsche Lehre, als könne die Kirche in menschlicher Selbstherrlichkeit das Wort und Werk des Herrn in den Dienst irgendwelcher eigenmächtig gewählter Wünsche, Zwecke und Pläne stellen“ – nochmals ein deutliches Wort gegen die theologischen und kirchenpolitischen Vorstellungen der „Deutschen Christen“.
Im Epilog erklärte die Synode von Barmen, dass sie „in der Anerkennung dieser Wahrheiten und in der Verwerfung dieser Irrtümer die unumgängliche theologische Grundlage der Deutschen Evangelischen Kirche als eines Bundes der Bekenntniskirchen sieht“. Die Kirchenpolitik sollte sich in ihren Entscheidungen an dieser theologischen Grundlage orientieren. Der Blick war gerichtet auf die „Deutschen Christen“, die zweifellos gemeint sind, wenn „alle, die es angeht“, gebeten werden, „in die Einheit des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung zurückzukehren“.
5. Die Barmer Theologische Erklärung und ihre (kirchen-)politische Dimension
Die Nachrichten über die Synode von Barmen und die dort gefassten Beschlüsse gingen „wie ein Lauffeuer durch die bekennenden Gemeinden in Deutschland“.[25] Die BTE bildete das einigende Band der Bekennenden Kirche, bis sich Anfang 1936 ihre beiden Flügel wieder voneinander trennten. Die Reaktion der „Deutschen Christen“, die von einer „die Gemeinden verwirrenden und die Kirche zerstörenden Erklärung“ sprachen, zeigt, dass die BTE „ihre kirchenpolitische Stoßrichtung gegen die nationalsozialistische Kirchenpartei in der evangelischen Kirche nicht verfehlte“.[26]
Das Kirchenregiment der „Deutschen Christen“ zu kritisieren, war nicht möglich, ohne zugleich auch gegen Hitler zu sprechen, der sich zu diesem Zeitpunkt zur Verwirklichung seiner kirchenpolitischen Ziele der „Deutschen Christen“ bediente. Insofern hat die BTE eine politische Dimension. Wenn in der fünften These die Vorstellung, der Staat solle und könne „über seinen besonderen Auftrag hinaus die einzige und totale Ordnung menschlichen Lebens werden und also auch die Bestimmung der Kirche erfüllen“, als „falsche Lehre“ verworfen wird, ist dies „ein Ton und Zeichen von Widerstand in einer Zeit der erklärtermaßen totalen Gleichschaltung von Staat und Gesellschaft“.[27]
Widerstand gegen den Nationalsozialismus war anti-totalitärer Widerstand, der nicht nur aktiver Widerstand sein konnte, sondern sich auch als innerer, als passiver Widerstand äußerte. Folglich beschreibt Widerstand gegen die nationalsozialistische Herrschaft die ganze Breite und Dichte widerständigen, widersagenden, distanzierten, abweichenden und nonkonformen Verhaltens Einzelner und ganzer Bevölkerungsgruppen gegenüber diesem Regime. Mit ihrer Verweigerungshaltung gegenüber dem offiziellen Kirchenregiment, wie sie sie mit der BTE zum Ausdruck brachte, setzte die Bekennende Kirche dem totalen Herrschaftsanspruch der Nationalsozialisten konkrete Grenzen.
Im Frühjahr 1934 war Hitler mit seiner Kirchenpolitik gescheitert. Weder gelang es ihm, mit der Errichtung einer einheitlichen Reichskirche unter dem Regiment von Reichsbischof Ludwig Müller die evangelische Kirche organisatorisch wie ideologisch gleichzuschalten, noch vermochte er es, die katholische Kirche nach dem Abschluss des Reichskonkordats, welches das Deutsche Reich mit dem Heiligen Stuhl am 20.7.1933 schloss, in sein Herrschaftssystem einzubinden. Hitler vollzog daraufhin einen Kurswechsel, der seinen kirchenfreundlichen Kurs im ersten Jahr nach der Machtübernahme als bloße politische Taktik entlarvte. Nicht mehr der Versuch einer Einbindung, sondern Verdrängung und schließlich Zerschlagung kennzeichnete fortan die nationalsozialistische Kirchenpolitik. „Ebenso wie die schädlichen Einflüsse der Astrologen, Wahrsager und sonstigen Schwindler ausgeschaltet und durch den Staat unterdrückt werden, muss auch die Einflussmöglichkeit der Kirchen restlos beseitigt werden“ – mit diesen Worten wird Martin Bormann (1900-1945) 1941 den radikalen Kurswechsel „von der Taktik der `christlich-nationalen´ Machtergreifung zur Strategie der antikirchlichen, antichristlichen Endlösung“[28] umschreiben. Dies konnte nicht ohne Konsequenzen bleiben für den christlich motivierten Widerstand, der in der Folge auch Formen des aktiven, des gewaltsamen, auf den politischen Umsturz des Regimes hin orientierten Widerstands annahm.
6. Rezeptions- und Wirkungsgeschichte der Barmer Theologischen Erklärung
6.1 Ein wegweisendes Dokument für die innerprotestantische Verständigung in Deutschland und Europa
Für den Widerstand gegen den Nationalsozialismus aus christlicher Verantwortung bot die BTE die Grundlage. Über diese konkrete historische Situation hinaus kommt ihr Bedeutung als wegweisendes Lehr- und Glaubenszeugnis der Kirche zu, wie die Geschichte des Protestantismus in Deutschland seit 1945 zeigt. Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) „bejaht“ in ihrer Verfassung von 1948 ausdrücklich die von der Bekenntnissynode in Barmen 1934 getroffenen Entscheidungen und spricht an dieser Stelle von ihrer Verpflichtung, „als bekennende Kirche die Erkenntnisse des Kirchenkampfes über Wesen, Auftrag und Ordnung der Kirche zur Auswirkung zu bringen“. Diesem Auftrag folgen alle Gliedkirchen der EKD in ihrer jeweiligen Grundordnung, in der sie – wenn auch mit unterschiedlicher Gewichtung – eine Aussage zur BTE verankert haben.
Mit der innerprotestantischen Verständigung von Barmen war „eine Brücke zwischen bislang getrennten Kirchen“[29] errichtet, die trug und nach 1945 über die EKD und ihre Gliedkirchen hinaus die innerprotestantische Ökumene in Europa beförderte. Von der Barmer Theologischen Erklärung 1934 ist eine Linie zu ziehen bis zur Leuenberger Konkordie 1973, mit der Kirchengemeinschaft zwischen lutherischen, reformierten und unierten Kirchen Europas ermöglicht wird.
6.2 Barmen und die Ökumene – Grenzen und Möglichkeiten
Vergleichbare Impulse gehen von der BTE für den ökumenischen Dialog zwischen protestantischer und katholischer Kirche nicht aus. Das kann auch nicht verwundern, da wesentliche Aussagen, wie sie insbesondere in den Thesen 1 und 4 formuliert sind, sich nicht vereinbaren lassen mit katholischem Naturrechtsdenken und im Gegensatz stehen zur hierarchischen Struktur der katholischen Kirche mit dem Papsttum. Versuche von protestantischer Seite seit den 2000er Jahren, Bezüge zwischen der BTE und der päpstlichen Enzyklika „Mit brennender Sorge“ von 1937 herzustellen, die theologische Erklärung von Barmen gar zu einem ökumenischen Dokument zu erklären als Rechtfertigung für die Teilnahme an der Trierer Heilig-Rock-Wallfahrt 2012, erscheinen konstruiert und werden den Intentionen der Verfasser der BTE kaum gerecht.
Anknüpfungspunkte zur BTE zeigen sich dort, wo sich Kirchen in einer historisch vergleichbaren Situation befinden wie die 1934 in Barmen versammelten Kirchenvertreter. Hier entfaltet die BTE ihre ökumenische Bedeutung. Ein Beispiel ist die Presbyterianische Kirche in der Republik Korea, die sich in ihrem „Neuen Bekenntnis“ aus dem Jahr 1972 explizit auf die BTE bezieht, die nicht nur als ökumenisch einigendes Christusbekenntnis gilt, sondern in den 1970er Jahren auch zum Bekenntnis des Widerstands gegen das diktatorische Park-Regime wurde. Ein weiteres Beispiel ist der Kirchenkampf in Indonesien während der 1990er Jahre, als sich die Christlich-Protestantische Batak-Kirche spaltete in einen regierungstreuen, durch das repressive Suharto-Regime gestützten Flügel und einen „bekennenden“ Flügel, der sich auf die BTE berief.
Auch im südlichen Afrika entfaltete die BTE ihre Wirkung, wenngleich in kirchlichen Verlautbarungen nicht unmittelbar auf sie Bezug genommen wird. In den Auseinandersetzungen mit dem Apartheidsregime wehte durch die ökumenischen Kundgebungen und Entscheidungen der Hauch von Barmen. Das „Bekenntnis von Belhar“, welches die Niederländisch-reformierte Kirche im südlichen Afrika auf ihrer Synode im September 1986 verabschiedete, erinnert in seinem Aufbau an die BTE und ist auch von seinen Inhalten her vergleichbar. Dieser Synodalbeschluss leitete die kritische Auseinandersetzung mit den Apartheidsstrukturen in der südafrikanischen Gesellschaft endgültig ein und war damit von epochaler Bedeutung in der Kirchengeschichte Südafrikas.
Das Beispiel der Auseinandersetzung mit dem Apartheidsregime in Südafrika zeigt, wie schmal der Grat zur (kirchen-)politischen Instrumentalisierung der BTE ist. Und das gilt nicht nur – wie im konkreten Beispiel – für die sozialen Protestbewegungen in ihrem Kampf gegen die Apartheid im südlichen Afrika, sondern schließt alle kirchlichen Gruppen und politischen Parteien ein, die sich gerne auf die Beschlüsse von Barmen berufen haben und nach wie vor berufen, denn „in der Anlehnung an die Barmer Theologische Erklärung leiht man sich etwas von dem Pathos des Widerstands, der Redlichkeit, der Klarsicht, des Mutes, des Erfülltseins vom Heiligen Geist“.[30]
Während hier die Debatten insbesondere vor der fünften Barmer These geführt werden und damit der Frage nach Loyalitätspflicht und Widerstandsrecht gegenüber dem Staat, spielt in dem interreligiösen Dialog vor allem die Diskussion über die Auslegung der ersten Barmer These eine große Rolle.
6.3 Die erste Barmer These – ein Hindernis für den Dialog zwischen Christen und Juden?
Der christologische Monismus der ersten These mache, so die Kritik des jüdischen Religionswissenschaftlers Pinchas Lapide, das stark, was die Kirche von der Synagoge trenne, und schließe alle nicht an Christus glaubenden Juden vom Heil aus. In diesem Sinne habe dieser Teil der BTE „indirekt zum Förderer eines gesellschaftlichen Antisemitismus werden (können), der zum Wegbereiter der rassistischen Apartheid und letzten Endes des Völkermordes geworden ist“, denn „wer Jude ist, der ist kein ‚Christenmensch‘ […], kann also nur ein ‚Untermensch‘ sein und hat als solcher kein Lebensrecht“.[31] Dieser Vorwurf beruht für den deutsch-schweizerischen evangelischen Theologen Eberhard Busch auf einem „Missverständnis“.[32] Die Schärfe, die durch die Erklärung von Jesus Christus als dem einen Wort Gottes in die These komme, sei die Schärfe des ersten Gebots von Exodus 20,3 („Du sollst keine anderen Götter haben neben mir“). Die neutestamentliche Aussage müsse also vom Alten Testament her verstanden werden. Karl Barth hat den Zusammenhang der beiden Testamente in seiner „Erklärung über das rechte Verständnis der reformatorischen Bekenntnisse in der Deutschen Evangelischen Kirche der Gegenwart“ beschrieben: „Die Kirche hört das […] Wort Gottes durch die freie Gnade des Heiligen Geistes in dem doppelten, aber einheitlichen und in seinen beiden Bestandteilen sich gegenseitig bedingenden Zeugnissen des Alten und des Neuen Testamentes.“[33]
Auch wenn er im Zusammenhang mit der Kritik von Pinchas Lapide an der ersten Barmer These von einem Missverständnis spricht, sieht es Eberhard Busch im Nachhinein als verhängnisvoll an, dass in der ersten Barmer These nicht zugleich auch auf die unlösbare Verbindung des christlichen Glaubens mit dem Judentum hingewiesen wird. Doch eine entsprechende Stellungnahme, die politische Kritik am Nationalsozialismus und dessen Judenpolitik bedeutet hätte, wäre auf der Synode in Barmen 1934 ohne Aussicht auf Erfolg gewesen, wie auch Karl Barth in der Rückschau eingestehen musste.
Im Gefolge der Katastrophe des europäischen Judentums fingen die beiden großen christlichen Kirchen nach 1945 an, ihre Beziehungen zu den Juden neu zu durchdenken. Es ging um eine neue Sicht des Volkes Israel und seiner Heilsgeschichte, um eine neue Bestimmung des Verhältnisses von Juden und Christen, Israel und Kirche. Auf evangelischer Seite war in diesem Prozess der Neubesinnung der Synodalbeschluss der Evangelischen Kirche im Rheinland „Zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden“ von 1980 wegweisend. Entscheidend für diese Neubesinnung war die Erkenntnis, die auch den Synodalbeschluss prägte, dass es eben nicht nur eine geschichtliche Notwendigkeit für ein Umdenken gibt, sondern vor allem eine theologische. Sie kommt in dem Motto des Dokuments aus Römer 11 zum Ausdruck: „Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich.“ Der Prozess der Neubewertung des Verhältnisses zwischen Juden und Christen hat zum Ergebnis eine theologisch positive Bestimmung des Verhältnisses von christlicher und jüdischer Gemeinde, eine christliche Sicht auf Israel, die nicht von Verwerfung und Verachtung geprägt ist.
In diesem Prozess gibt es auch Überlegungen zu einer Neuformulierung beziehungsweise Ergänzung der BTE. Der Wuppertaler Systematiker Bertold Klappert hält sie anschlussfähig für eine neue Israeltheologie. Mit einer judaistischen Neuformulierung der ersten Barmer These wurden diese Überlegungen 1984 anlässlich des 50. Jahrestages der Verabschiedung der BTE in der Erklärung der Tagung der Gesellschaft für Evangelische Theologie des Reformierten Bundes „Bekennende Kirche werden. Barmer Bekenntnis heute“ konkretisiert. Diese Versuche einer Neuformulierung der BTE riefen massiven Widerspruch hervor. Für den Münsteraner Kirchenhistoriker Wolf-Dieter Hauschild steht die „judaistische Uminterpretation der BTE“ eindeutig im Widerspruch zu deren „Wortlaut und Geist“.[34] Ebenso kritisch äußert sich der Bonner Systematiker Martin Honecker, der mahnt, die BTE „in ihrem geschichtlichen Kontext der Situation des Kirchenkampfes im Jahr 1934 und anhand ihrer historischen Entstehung zu interpretieren“.[35] Deshalb seien „Defizite, Lücken, strittige Fragen und Aporien […] bei der Auslegung und Rezeption der Erklärung zu benennen und nicht durch dissimulierende Interpretationen zu verschleiern“.
6.4 Barmen – ein Beitrag für den christlich-islamischen Dialog?!
Die Beachtung des historisch-politischen Kontextes betont ebenfalls die islamische Theologin und Juristin Hamideh Mohagheghi, die aus islamischer Perspektive die BTE betrachtet. Auch sie sieht die erste These mit ihren offenbarungstheologischen und christozentrischen Grundaussagen kritisch und interpretiert diese Worte dahin, dass jemand, der nicht im christlichen Verständnis an Jesus Christus glaube, keinen Zugang zu Gott habe. „So schließt diese Aussage“, folgert Mohaghebi, „die Mehrheit der Menschen aus und schränkt die Gnade Gottes und seine Erreichbarkeit eindringlich ein.“[36] Gott werde also „vereinnahmt und reserviert für eine bestimmte Gruppe der Menschen“, verbunden mit der Gefahr von „Überlegenheitsansprüchen“ beziehungsweise einem „Überlegenheitsgefühl“, das einen „Dialog in gleicher Augenhöhe“ fragwürdig erscheinen lasse. Für Muslime sei Jesus ein herausragender Prophet und Verkünder der göttlichen Lehre, weshalb er auch im Koran als ein Wort Gottes genannt werde und nicht als „das eine Wort Gottes“ wie in der BTE. Daneben kenne der Islam weitere Gesandte und Propheten Gottes, die allesamt „keine Übermenschen“ waren, sondern „Gottes Geschöpfe und seine Diener“, die im Koran „gleich nebeneinander“ stünden. Es gebe also keine Rangfolge der Propheten und Gesandten Gottes, weshalb die Bezeichnung Jesu als „das eine Wort Gottes“ in der ersten Barmer These als „Herabstufung der anderen Propheten und Auserwählten Gottes“ verstanden werden könne.
Einer solchen Interpretation der ersten Barmer These vermag Manfred Kock, der frühere Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland und ehemalige Ratsvorsitzende der EKD, nicht zu folgen, da der christliche Anspruch auf Wahrheit in der BTE „nicht als Abgrenzung zu den Weltreligionen formuliert“ sei.[37] Vielmehr stelle die erste Barmer These „ein deutliches Wort an die christliche Kirche selbst“ dar, das vor der Gefahr warne, „eigene Gottesbilder vor den Christus zu rücken“.
Die erste Barmer These offenbart eine wesentliche theologische Differenz, die im christlich-islamischen Dialog zu kontroversen Diskussionen über die Christologie in den beiden Religionen führt. Dass die BTE dennoch ein Beitrag für den Dialog mit den Muslimen sein kann, wird von Hamideh Mohagheghi ausdrücklich bejaht. Für sie stellt die BTE „ein wichtiges und mutiges Dokument gegen die Instrumentalisierung der Religion für politische Zwecke“ dar.[38] Diese Worte unterstreichen den Stellenwert der Beschlüsse der Barmer Bekenntnissynode, die nicht zeitgebunden, sondern von fortwährender Bedeutung sind.
7. Fazit
„Wir sind keine Rebellen“, erklärte Hans Asmussen gleich zu Beginn seiner Rede auf der Synode in Barmen, wo denn auch keine politische Stellungnahme gegen den Nationalsozialismus abgegeben wurde. Die Barmer Theologische Erklärung von 1934 war, ist und bleibt ein theologisches Dokument, das dadurch politische Wirksamkeit entfaltet, dass die Kirche allein das Wort der Heiligen Schrift und damit unmittelbar das Wort Gottes zum Maßstab allen Handelns und Entscheidens erklärt. Gott allein ist folglich die Instanz, die Orientierung und Halt bietet. Auf dieser Grundlage kann in Barmen „die falsche Lehre“ verworfen werden, als könne der Staat „die einzige und totale Ordnung menschlichen Lebens werden und also auch die Bestimmung der Kirche erfüllen“. Damit ist das Wort Gottes „wie ein Fels, an dem sich die Wogen der Ideologien brechen“.[39]
Dies zeigte sich auch in der DDR, in der sich nicht nur die erste Barmer These als „fundamentale Orientierung“[40] für den Weg der evangelischen Kirche erwies. Sie übernahm gesellschaftliche Verantwortung und ließ sich von dem SED-Regime nicht abdrängen in einen privaten Raum religiöser Abgeschiedenheit. Im Gegenteil, die öffentlich tagenden Synoden waren in der politisch gleichgeschalteten Gesellschaft der DDR der einzige demokratische Platz, der den regimekritischen Gruppen ein Forum zur Artikulation ihrer alternativen gesellschaftspolitischen Vorstellungen bot. Die revolutionäre Bewegung im Herbst 1989 nahm auch und gerade hier ihren Ausgang.
Über dieses historische Beispiel hinaus bietet die BTE bis in die Gegenwart hinein Orientierung in kirchlich relevanten Diskussionen und Entscheidungsprozessen. Die Rückbesinnung auf evangelische Grundwahrheiten, wie sie lutherische, reformierte und unierte Kirchenvertreter in Barmen gemeinsam sprachen, kann hilfreich sein in einer Zeit, in der innerkirchliche Diskussionen und Entscheidungsprozesse von ökonomischen Zwängen und demographischen Veränderungen bestimmt werden und die Kirche zugleich in einer zusehends säkularisierten und weltanschaulich pluralen Welt ihre Position gegenüber Staat und Gesellschaft neu bestimmen muss.
Quelle
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Literatur
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- 1: Honecker, Barmer Theologische Erklärung, S. 7.
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- 3: Scholder, Kirchen, S. 199.
- 4: Weber, Kirche, S. 4.
- 5: Zitiert nach Meier, Kreuz, S. 39.
- 6: Zitiert nach Meier, Kreuz, S. 42.
- 7: Zitiert nach Weber, Kirche, S. 4.
- 8: Zitiert nach Weber, Kirche, S. 5.
- 9: Scholder, Kirchen, S. 114.
- 10: Busch, Barmer Thesen, S. 9.
- 11: Zitiert nach Scholder, Kirchen, S. 18.
- 12: Für den Wortlaut der Einbringungsrede von Hans Asmussen vgl. Heimbucher/Weth, Barmer Theologische Erklärung, S. 44–63, hier S. 50.
- 13: Für den Wortlaut der Barmer Theologischen Erklärung vgl. Heimbucher/Weth, Barmer Theologische Erklärung, S. 33–43.
- 14: Weber, Kirche, S. 12.
- 15: Schneider, Wem gehört Barmen?, S. 48.
- 16: Lapide, Jeder kommt zum Vater, S. 20.
- 17: Weber, Kirche, S. 13.
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- 26: Schneider, Wem gehört Barmen?, S. 64.
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- 32: Busch, Barmer Thesen, S. 28.
- 33: Zitiert nach Busch, Barmer Thesen, S. 29.
- 34: Zitiert nach Schneider, Wem gehört Barmen?, S. 93.
- 35: Honecker, Barmer Theologische Erklärung, S. 30.
- 36: Mohagheghi, Barmer Theologische Erklärung, S. 92.
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- 38: Mohagheghi, Barmer Theologische Erklärung, S. 89.
- 39: Kriele, Präzedenz-Wirkung, S. 17.
- 40: Falcke, Barmer Theologische Erklärung, S. 137.
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Marx, Stefan, Barmer Theologische Erklärung, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://rheinische-geschichte.lvr.de/Epochen-und-Themen/Themen/barmer-theologische-erklaerung/DE-2086/lido/61d577f6c4cbd3.06832675 (abgerufen am 20.08.2024)