Ihre Geburtsdaten unterscheiden sich nur um acht Jahre, und ihre Geburtsorte sind nur getrennt durch 130 Kilometer. Und doch liegen Welten zwischen ihren Lebensentwürfen. Die Rede ist von Karl Marx, geboren am 5. Mai 1818 in Trier und der seligen Margaretha Flesch, geboren am 24. Februar 1826 in Vallendar-Schönstatt.
Der eine: Sohn eines späteren Justizrats, aus einer Rabbinerfamilie, die zum protestantischen Glauben konvertierte. Die andere: Tochter eines kleinen Ölmüllers aus dem Rheintal und spätere Ordensgründerin unter dem Namen Mutter Rosa. Beide, der Philosoph und die Ordensfrau haben mit ihren Inspirationen die Welt verändert. Die Wirkung ihres Lebens ist bis heute spürbar. Zugegeben: die Theorien von Karl Marx haben einen ungleich größeren Bekanntheitsgrad erzielt als das Werk der Mutter Rosa Flesch, allerdings um den Preis von zum Teil verheerenden, menschenverachtenden Folgen.
Karl Marx und Rosa Flesch werden hineingeboren in die Zeit der einsetzenden Industrialisierung. Die Verelendung der Massen ist damals keine Theorie, sondern Realität. Die sozial ungesicherte, häufig entwürdigende Arbeit an der Maschine entzieht dem bisherigen Handwerk den Boden. Missernten in der Mitte des Jahrhunderts bringen eine Hungersnot, spürbar auch im Rheinland. In diesem Umfeld wächst die spätere Mutter Rosa, damals noch Margaretha Flesch mit ihren beiden Schwestern heran. Schon bald stirbt die Mutter. Als Margaretha sechs Jahre alt ist, heiratet der Vater wieder und die Familie zieht an einen Ort, wo der Vater eine kleine Mühle mit etwas Land übernehmen kann.
Doch schon vier Jahre später stirbt Georg Flesch, und Margaretha übernimmt die Verantwortung für die inzwischen siebenköpfige Familie. Sie verdient den Lebensunterhalt mit Handarbeiten; außerdem sammelt und verkauft sie Kräuter. Schon in jungen Jahren beginnt sie mit der Betreuung von Waisenkindern und der Pflege kranker Menschen. Zugleich reift in der gläubigen jungen Frau der Entschluss, eine Schwesterngemeinschaft im Geist des hl. Franz von Assisi zu gründen. Mit ihrer Hilfe will sie sich der Bedürftigen und Notleidenden annehmen. Bis es tatsächlich zur Gründung der Franziskanerinnen von Waldbreitbach kommt, vergehen noch Jahre. Doch danach setzt ein rasantes Wachstum ein: Als Mutter Rosa im März 1906 stirbt, wirken bereits mehr als 900 Schwestern in 67 Niederlassungen.
Ist es nicht erstaunlich, »dass jenes Proletariat, in das die Familie Flesch mit ihren sechs Kindern und dem kargen Brot hineingehörte und in dem Karl Marx den Träger der endgültigen Revolution sah, Revolutionäre ganz anderer Art aus sich entließ« (H.-B. Gerl-Falkovitz)? Und ist es nicht ebenso erstaunlich, dass so schlichte, ja ungebildete Menschen, wie es Mutter Rosa und viele ihrer Mitstreiterinnen waren, sehr gezielt auf die Not ihres Umfelds antworteten. Ihre Antwort war – aller Religionskritik zum Trotz - nicht billige Vertröstung, sondern konkrete und sinnvolle Hilfe.
Am Beispiel der Sr. Rosa bewahrheitet sich ein Wort des Theologen Johann B. Metz. Christliche Mystik, so sagt er, ist keine Mystik der geschlossenen, sondern der offenen Augen. Mag es zur Technik bestimmter Religionen gehören, die Augen zu verschließen, um die Welt mit ihren Grausamkeiten versinken zu lassen, christliche Frömmigkeit ist etwas anderes: Sie gibt Mut, die Augen wirklich aufzumachen. Genau dies zeigt uns das Lebenszeugnis der Mutter Rosa. Vor einem Jahr wurde sie im Trierer Dom seliggesprochen. Heute wird an vielen Orten zum ersten Mal offiziell ihr Gedenktag begangen. Sie darf angerufen werden als Patronin der offenen Augen.
Ich wünsche Ihnen einen guten Sonntag!