Frieden braucht Versöhnung

Bischof Stephan Ackermann - Wort Sonntag - 1. August 2010 (SWR 2)

Heute vor 96 Jahren begann der Erste Weltkrieg. Am 1. August 1914 wurde in Deutschland die Generalmobilmachung befohlen und Kaiser Wilhelm II. erklärte Russland den Krieg. Das ist lange her und die meisten von uns sind sogar nach dem Zweiten Weltkrieg geboren. Der Erste Weltkrieg ist noch viel weiter weg. Doch die Erinnerung an diesen sinnlosen und brutalen Krieg, der 17 Millionen Menschen das Leben kostete, an dessen Ende Europa danieder lag und sich die Feindschaft zwischen Deutschland und Frankreich noch vergrößert hatte, lässt uns spüren: Friede ist ein hohes Gut und nicht einfach selbstverständlich.

Gerade heute, da wir seit über 60 Jahren in Mitteleuropa in einer Phase des Friedens leben, gilt es daran zu erinnern. Während in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zwei fürchterliche Kriege tobten, zeichnet sich die zweite Hälfte glücklicherweise dadurch aus, dass es bei uns keine direkten kriegerischen Auseinandersetzungen gab. Dies hat viele unterschiedliche weltpolitische Gründe. Ein wesentlicher Grund aber ist sicherlich, dass sich die ehemaligen Kriegsgegner versöhnt haben. Was nach dem Zweiten Weltkrieg an Versöhnungsarbeit zwischen Deutschen und Franzosen, Engländern, Polen und vielen andern Völkern geleistet wurde, ist das Fundament, auf dem das heutige Europa steht.  Diese Versöhnung war ein jahrzehntelanger mühevoller Prozess. Gerade die Annäherung zwischen den so genannten Erbfeinden Deutschland und Frankreich macht dies deutlich. Was war das für ein langer und anspruchsvoller Weg von den ersten Kontakten zwischen Robert Schuman und Konrad Adenauer bis hin zu dem gemeinsamen Gedenken von Helmut Kohl und François Mitterand an den Gräbern der Kriegstoten. Wie sich die beiden dabei die Hände gereicht haben, das ist für viele bis heute unvergesslich.

Doch das ist nur die sichtbare Spitze dieses Versöhnungsprozesses. Unzählige einfache Bürger in Deutschland und Frankreich haben Unschätzbares für die Verständigung der beiden Völker getan: durch Städtepartnerschaften oder in christlichen Friedensgruppen, wie etwa Pax Christi. Durch diese Versöhnungsarbeit ist die deutsch-französische Freundschaft in sechs Jahrzehnten für uns heute zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Versöhnung braucht aber nicht nur Zeit und Engagement, sondern Versöhnung braucht auch Wahrheit und Gerechtigkeit. Erlittenes Unrecht einfach zu vergessen, nach dem Motto »Schwamm drüber«, bringt keine Versöhnung. Versöhnung kann nur auf einem ehrlichen Umgang mit der Schuld aufbauen. Zur Gerechtigkeit für die Opfer gehört es, das erlittene Unrecht als solches zu entlarven und die Täter zu benennen.

Echte Versöhnung baut außerdem auf Vergebung auf, und die setzt das Eingestehen von Schuld voraus. In unserem Friedenswort mit dem Titel »Gerechter Friede« aus dem Jahr 2000 haben wir Deutschen Bischöfe geschrieben: »Im Mut, Schuld einzugestehen, Reue zu zeigen und um Vergebung zu bitten - und Vergebung zu gewähren und zu akzeptieren: darin liegt das Wunder der Versöhnung, das den Fluch der bösen Tat bricht und den Bann der Vergangenheit löst.« (Nr. 117)

Aus dem Bann der Vergangenheit des Ersten und auch des Zweiten Weltkrieges haben wir uns in Europa weitgehend gelöst. Der Fluch der bösen Tat ist gebrochen. Darüber können wir uns freuen. Wir sollten aber nicht vergessen, dass dieser Prozess Jahrzehnte gedauert hat. Das kann uns davor bewahren zu glauben, dass man in heutigen Kriegsgebieten, z. B. in Afghanistan, aber auch auf dem Balkan Versöhnung einfach von oben befehlen oder gar erkaufen könne. Es entspricht der Würde des Menschen, dass sich Versöhnung nur erbitten lässt. Als Christen sind wir ohnehin davon überzeugt, dass wirkliche Versöhnung letztlich eine Gnade ist und damit ein Vorgeschmack auf das kommende Reich Gottes.

Ich wünsche Ihnen einen gesegneten Sonntag!

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