Liebe Mitbrüder,
liebe Schwestern und Brüder im Glauben!
Wenn wir an dieser Stelle der Karfreitagsliturgie innehalten, so möchte ich mit Ihnen den Blick nur auf eine Stelle der Passion richten, die uns soeben vorgetragen wurde. Es ist, wie ich finde, ein besonders dichter Moment, auch wenn er nicht spektakulär und lautstark daherkommt. Gerade im Gegenteil: Es ist ein ganz stiller Moment. Ich meine die Stelle im Verhör des Pilatus, an der Jesus schweigt (Joh 19,9).
Nachdem der römische Prokurator trotz eingehender Befragung keinen Grund gefunden hat, den Angeklagten zu verurteilen, sucht er die Menge dadurch zu beruhigen, dass er Jesus geißeln lässt. Doch auch der Anblick des so Gefolterten erzielt nicht die gewünschte Wirkung, im Gegenteil. Noch lauter ertönt das Geschrei: „Ans Kreuz mit ihm!“ (Joh 19,6). Daraufhin zieht sich Pilatus mit Jesus in das Prätorium zurück und stellt ihm erneut Fragen. Doch Jesus beantwortet sie nicht mehr. Er schweigt. Warum? Sicher nicht aus Ratlosigkeit. Ist es Stolz? Pilatus empfindet es wohl so, wenn er sagt: „Du sprichst nicht mit mir? Weißt du nicht, dass ich Macht habe, dich freizulassen und Macht, dich zu kreuzigen?“ (Joh 19,10)
Ist nicht das Schweigen Jesu besonders missverständlich? Käme es nicht gerade in einer solchen Situation des Verhörs darauf an, gute, nachvollziehbare Erklärungen vorzubringen? Und wäre es für Jesus nicht ein Leichtes, Pilatus, der ja selbst kein Jude ist, davon zu überzeugen, welche niedrigen und falschen Motive hier am Werk sind sind und ihn in diese Situation gebracht haben? Was damals galt, gilt bis heute, nicht nur vor Gericht, sondern ebenso vor den Tribunalen der Öffentlichkeit. Wehe man schweigt oder erklärt sich zu spät, wenn die Öffentlichkeit sich schon ihre Meinung gebildet hat. Dann hat man verloren. Je schneller Erklärungen und Stellungnahmen da sind, umso wirksamer sind sie. Offensives Vorgehen, Transparenz sind das A und O sagen die Kommunikationsfachleute. Und sehr oft das stimmt das ja auch. Warum das Gegenüber im Unklaren lassen, wenn man eine Sache aufklären kann?!
Aber es gibt auch die andere Situation, in der es nicht heißt: Reden, sondern: Schweigen. Schweigen - nicht aus Feigheit, nicht, um zu vertuschen, sondern weil man spürt, dass Worte – mögen sie noch so richtig sein, noch so klug und eloquent vorgetragen – nichts erklären, sondern die eigentliche Sache, um die es geht, verdunkeln. So auch bei Jesus: Was bringt es ihm, der von sich sagt „Ich bin die Wahrheit“, gegenüber Pilatus Recht zu haben? Die Wahrheit, die Jesus meint, ist doch die Wahrheit der Liebe. Sie aber setzt sich nicht rechthaberisch durch.
Albert Rouet, der ehemalige Bischof von Poitiers in Frankreich sagt: „Die wenigen Dinge, an die man wirklich glaubt, kann man nur durch sein Leben und seinen Tod zeigen. Auch wenn es [uns] nicht so an Grenzen führt, wie das Schicksal Jesu: Manchmal muss man schweigen. Vor dem Leiden eines Schwerkranken, vor einem menschlichen Drama ist Schweigen die einzig wahre Haltung. Kein abweisendes Schweigen, sondern eins, das sich öffnet“ (Aufbruch zum Miteinander, 84).
Schon zu den Jüngern hatte Jesus am Abend zuvor gesagt: „Noch vieles habe ich euch zu sagen, doch ihr könnt es jetzt nicht tragen“ (Joh 16,12). Offensichtlich war ihm auch dort klar, dass er sein Tun in diesem Moment nicht durch bloße Worte erklären kann. So zieht er das Schweigen vor. Was für eine Dramatik, dass er selbst wenige Stunden später das Schweigen des Vaters erleben und erleiden muss! Es ist Beweis dafür, wie sehr er uns Menschen gleich geworden ist. „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“, so schreit Jesus am Kreuz hinaus (Mk 15,34). Doch der Vater schweigt. Selbst dem eigenen Sohn gegenüber entwirrt Gott nicht die Widersprüche dieser Welt (vgl. H. U. von Balthasar: Das Weizenkorn, 69). Denn er weiß – und auch wir wissen es im Tiefsten! – die Widersprüche lösen sich nicht durch Worte, sondern nur durch die Tat der Liebe, die durchträgt und bleibt, gerade auch im Schweigen.
„Das Christentum ist nicht eine Sache der Überredung, sondern der Größe“, so hat der Märtyrerbischof Ignatius von Antiochien zu Beginn des 2. Jahrhunderts in einem seiner Gefangenschaftsbriefe geschrieben (An die Römer 3,3). Im Schweigen Jesu vor Pilatus wird diese Größe sichtbar. Denn dieses Schweigen ist nicht nur das Schweigen des Menschen Jesus, sondern auch das Schweigen des Sohnes Gottes. Damit zeugt dieses Schweigen nicht nur von der geduldigen Liebe Gottes, sondern auch von dem Respekt Gottes gegenüber denen, die ihn nicht wollen. Der Sohn Gottes zwingt Pilatus nicht mit einem von Donner begleiteten Wort in die Knie, sondern lässt ihn frei, auch um den Preis, dass er selbst dafür sterben muss.
Liebe Schwestern und Brüder, die Feier des Karfreitags lädt uns ein, - nein, mehr noch: sie fordert uns dazu auf -, dem Schweigen Gott nicht auszuweichen. Sie fordert uns dazu auf, dieses Schweigen geradezu zu suchen und es auszuhalten. Werden wir Menschen des Informationszeitalters und der permanenten globalen Vernetzung das schaffen? Wenn wir es nicht schaffen, dann werden wir die Wahrheit verpassen, nicht nur die Wahrheit über Gott und die Welt, sondern auch die Wahrheit über uns selbst.
Vielleicht bieten sich ja gerade heute und morgen für Sie noch Gelegenheiten, still zu werden vor Gott und mit ihm. Ergreifen Sie sie!