Im Lukasevangelium lesen wir, dass die Jünger eines Tages zu Jesus kamen und sagten: „Herr, lehre uns beten wie schon Johannes seine Jünger beten gelehrt hat“ (Lk 11,1). Dass das Beten als solches zum Menschen gehört, war für die Jünger keine Frage. Sie wollten von ihrem Meister, den sie auch als einen Meister des Gebets erfahren hatten, belehrt werden, wie man es richtig und besser machen kann, wenn man betet.
Schwierigkeiten mit dem Beten - heute
Heute leben wir dagegen in einer Welt, in der das Beten ganz und gar keine Selbstverständlichkeit mehr ist. Das Leben vieler unserer Zeitgenossen ist oft über Wochen hin eine gebetsfreie Zone. Nicht wenige haben es ganz verlernt, mit Gott zu sprechen; sie haben es aufgegeben, Gott an ihrem Leben teilnehmen zu lassen, vor ihn zu bringen, was sie bewegt. Es stimmt zwar: Kein Mensch weiß, was wirklich im Menschen ist und in ihm vorgeht. Allein derjenige, der ins Herz sieht, weiß es. Aber so wie es aussieht, ist es heute in unserer Gesellschaft eher eine Minderheit, die wirklich nach Gott fragt, Verbindung mit ihm hält und ihr Leben nach seinen Weisungen ausrichtet.
Die schleichende Gottvergessenheit
„Es ist Zeit, an Gott zu denken.“ Mit diesem Titel erschien 2001 ein Buch von Bischof Karl Lehmann von Mainz, dem Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz und heutigen Kardinal. Zwei Jahre zuvor hatte die Evangelische Kirche in Deutschland sich für ihre Synode in Leipzig das Thema gestellt: „Reden von Gott in der Welt“. Beides hört sich wie eine Selbstermahnung an. Die großen Kirchen in unserem Land erinnern sich gleichsam selbst daran, dass es ihre erste und ureigene Aufgabe sein muss, das Gottesbewusstsein in unserer Welt lebendig zu halten. Dahinter steht das beunruhigende Gefühl, dass Gott uns abhanden kommen könnte. Geht Gott uns verloren? Im Verfassungsentwurf der Europäischen Union wird Gott mit keiner Silbe mehr erwähnt. Soll die Zukunft Europas eine Zukunft ohne Gott sein?
Es gibt in der Tat so etwas wie eine schleichende Gott-Vergessenheit in der Welt, in der wir leben. Dieser neuartige Atheismus bekämpft Gott nicht und polemisiert auch nicht gegen diejenigen, die an Gott glauben. Er nimmt einfach keine Notiz davon. Er klammert das Christentum stillschweigend aus. Er sieht einfach von Gott ab. Wenn aber Gott stillschweigend aus unserem Leben verabschiedet wird, verliert auch das Beten den Boden unter den Füßen. Denn:
Beten ist Reden mit Gott.
Beten funktioniert nur dort, wo Menschen überzeugt sind, dass da wirklich jemand ist, der uns kennt und um uns weiß, dass in Gottes starken und guten Händen unser Leben geborgen ist.
Beten kommt aus der gläubigen Gewissheit, dass da einer ist, der es gut mit uns meint. Beten kommt aus dem Vertrauen, dass wir - selbst in der größten Einsamkeit - nie allein sind, sondern dass da verborgen ein Herz schlägt, das uns mit einer großen Liebe liebt.
Krise des Gebets ist Krise des Glaubens
Es ist heute oft von einer Krise des Gebetes die Rede. Sie ist zuerst eine Krise des Glaubens. Denn wo der Glaube verdunstet, hört auch das Beten auf. Dann wird das Leben zu einer gebetsfreien Zone. Auch wenn bei vielen der Wunsch nach Ritualen wächst und der Markt einer diffusen Religiosität Hochkonjunktur hat, der Trend der Zeit ist im Augenblick nicht mit den Glaubenden und Betend.
(vgl. Prof. Dr. Heinz: „An den Quellen apostolischen Betens“,
hrsg. Gebetsapostolat im Bistum Trier, Trier 2006, Seite 2-3)
Beten ist Zwiesprache mit Gott
Das Gebet ist Sprechen von Gott und Gespräch mit Gott. Es ist Lobpreis Gottes und Antwort auf das Heilshandeln Gottes. Im Gebet gibt der Mensch Antwort auf den Anruf Gottes, der sich ganz existentiell und persönlich an jeden Einzelnen richtet.
Diese Antwort kann verschiedene Weisen und Formen haben. Das Gebet kann Lobgebet, Dankgebet, Bittgebet sein. Es kann gesprochen werden oder in Form von Kontemplation und Meditation erfolgen. Es kann spontan formuliert werden oder sich in festen Gebetsformeln und –texten ausdrücken. Immer aber soll das Gebet eine Hinwendung zu Gott sein, die der jeweiligen Situation des Betenden angemessen ist. Das Gebet ist Ausdruck der Geschichte des Menschen mit Gott und äußert sich entsprechend dem Weg, den der Mensch geht.
Die Bedeutung des Bittgebets
Weil zu diesem Weg immer auch Ratlosigkeit, Hilflosigkeit, Leid und Not gehören, ist das Bittgebet eine wichtige Form des Gebets. Nach Karl Rahner (Schriften zur Theologie III, 61964, S.250) ist es in gewisser Hinsicht sogar „die höchste... Art des Betens“. Wieso? Im Bittgebet verbinden sich sehr verschiedene menschliche Grundhaltungen miteinander:
Das Bittgebet ist höchst „eigensinnig“, denn der Beter will etwas Konkretes von Gott, wovon er meint, dass er es so und nicht anders nötig hat.
Das Bittgebet ist aber gleichzeitig höchst resignativ, denn der Beter wendet sich an Gott, weil er selbst nicht mehr weiter weiß und kann.
Das Bittgebet ist auch mutig, denn der Beter wagt es, auf Gott zu setzen, und es ist demütig, weil es im Vertrauen auf die Macht Gottes geschieht. Eben dieses Vertrauen auf die Macht Gottes ist die Voraussetzung für das Vertrauen auf die Macht des (Bitt-) Gebetes. Das Gebet kann nur wirksam sein, wenn an die Macht des Angebeteten geglaubt wird.
Zu dem Vertrauen auf die Macht Gottes muss aber noch etwas hinzu kommen: Das Vertrauen darauf, dass Gott Interesse hat am Menschen und der Welt, - dass er sie liebt. Wenn wir als Christen an die Fleischwerdung des ewigen Wortes Gottes glauben, dann muss Gott ganz „menschlich“ fühlen können, dann kann ihm die Welt nicht gleichgültig sein. Wenn Gott der Herr der Welt ist und wenn er uns durch Jesus das Vaterunser gelehrt hat, mit dem wir um das tägliche Brot und die Erlösung vom Bösen bitten, dann ist das Bittgebet eine reale Macht in der Welt.
Wer ehrlichen Herzens betet, gibt sich voller Vertrauen in die Hand Gottes. Er stellt sein Leben mit seinen Freuden und Nöten vor Gott in der gläubigen Gewissheit, dass da ein Du ist, das ihn hört und dem er wichtig ist; er vertraut darauf, dass dieses Du sein Leben liebevoll lenkt. Er möchte die Dinge des Lebens, die der eigenen Verfügbarkeit entzogen sind, aus seiner Hand annehmen gemäß dem Wort des hl. Augustinus „Gut ist Gott, der oftmals nicht gibt, was wir wollen, auf dass er uns gebe, was wir lieber wollen sollten“. In diesem Sinne ist wahres Gebet immer Hingabe an Gott.
Das christliche Gebet als Gebet der Seelsorge
Für den Christen muss es allerdings selbstverständlich sein, dass er Gott nur zum Du haben kann, wenn er den Nächsten zum Du hat. Die Hinwendung zu Gott und die Hinwendung zum Nächsten sind untrennbar miteinander verbunden. Deshalb gehört zum christlichen Gebet, dass es offen ist, d. h. dass der Beter bereit ist, den Nächsten, den anderen mit hineinzunehmen in die eigene Hingabe an Gott. Das christliche Gebet ist also Gebet der Seelsorge, in das die Freuden, Nöte und Ängste dieser Welt und ihrer Menschen mit einfließen.
Wo der Beter sich in seinem Beten als Teil der Gemeinschaft der Gläubigen versteht, wo er in seinem Gebet sich und alle anderen zusammen meint in der Gemeinschaft der Schuld und des Heils, die zusammen auf das Kommen des Reiches Gottes hofft, dort vollzieht sich wesentliches Christentum, dort wird in wahrhaft christlicher Weise gebetet.
Das Gebet in Gemeinschaft
Die innere Überzeugung, zusammen mit anderen im Leib Christi verbunden zu sein, zusammen mit ihnen den oft steinigen Weg der pilgernden Kirche zu gehen und daher immer auch für die Kirche und mit der Kirche zu beten, findet ihre Konkretisierung im gemeinsamen Gebet.
Wo Christen gemeinsam beten, wird greifbar und konkret, dass keiner für sich allein lebt, für sich allein auf das Reich Gottes hofft und betet, sondern dass jeder Christ sich aufgehoben weiß in der Gemeinschaft der Gläubigen und sich als Teil dieser Gemeinschaft versteht.
Beten und Einsatz für andere
Zum christlichen Beten gehört die Überzeugung, dass Gebet und Leben sich durchdringen müssen. Wer in wahrhaft christlicher Weise betet, bleibt nicht bei der Bitte um das Kommen des Reiches Gottes „stehen“, sondern weiß, dass dieser bittende Wille zur gestaltenden Macht im Alltag werden muss. Er weiß, dass er für das Reich Gottes auch etwas tun muss. Aus dem apostolischen Beten muss der Einsatz für den Nächsten, der Einsatz für den Menschen und die Welt erwachsen (Wer den Nächsten mit dem Herzen, also betend, gesucht hat, der wird ihn auch mit den Füßen finden). Dieser Einsatz kann sich sowohl in aktivem Gestalten als auch einfach in Geduld, Nachsicht und Verzicht verifizieren. Immer aber orientiert er sich am Vorbild Christi und versucht „christusförmig“ zu sein. Solches Beten bewahrt vor einer egoistischen und introvertierten Frömmigkeit und kann vielleicht zum Verständnis des Geheimnisses der Liebe Christi hinführen, die aus seiner unbegreiflichen Wesensmitte hervorgeht. Früher bezeichnete man diese unbegreifliche Wesensmitte geläufig einfach als Herz Jesu.
(Prof. Dr. Marion Wagner: „Die Kraft des Gebets neu entdecken“,
hrsg. vom Gebetsapostolat im Bistum Trier, Trier, Seite 4-7)
Den Alltag gottverbunden leben: Beten während des Alltags
Es gibt in der Tradition der christlichen Frömmigkeit viele bewährte Mittel, die helfen, das Gottesbewusstsein und die Christusverbundenheit lebendig zu halten. Der heilige Ambrosius von Mailand (+ 397) hat den neu Getauften geraten, jeden ihrer Tage bewusst als Christen zu beginnen und zu beschließen. Sie sollten sich angewöhnen, das Glaubensbekenntnis beim Aufstehen und beim Zu-Bett-Gehen zu sprechen. Es muss nicht unbedingt das ganze Credo sein.
Aber das Kreuzzeichen am Morgen, das wir über unseren ganzen Leib zeichnen und bei dem wir den Namen des dreifaltigen Gottes nennen, wäre sehr passend. Seine Begleitworte erinnern jedes Mal an die Taufe, durch die unser Leben mit Christus verbunden und Gott geweiht wurde.
Auch ein kurzes Gebetswort wäre sinnvoll, etwa: „In Gottes Namen!“ oder: „Alles meinem Gott zu Ehren!“ oder: „Heiligste Dreifaltigkeit, dir sei dieser Tag geweiht!“ Das wäre jedes Mal eine Selbsterinnerung an die Wahrheit, die der Apostel Paulus in die Worte gekleidet hat: Gott ist „keinem von uns fern. Denn in ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir.“ (Apg 17,27f.).
Das Angelus-Gebet
Das Angelus-Läuten am Morgen, Mittag und Abend will an den Eckpunkten des Tages dafür sorgen, dass der Alltag eines Christen nicht ohne Gottes-Erinnerung verläuft. Es sollen dabei drei „Gegrüßet seist du, Maria“ gebetet werden, jeweils eingeleitet durch ein kurzes Bibelwort, das an die Menschwerdung des Sohnes Gottes erinnert. Das Abschlussgebet des „Engel des Herrn“ erwähnt darüber hinaus auch sein Leiden und Kreuz und die Auferstehung, die allen versprochen ist, die zu Christus gehören.
Der Lebens- und Arbeitsrhythmus unserer Zeit macht es schwer, den Ruf der „Bet-Glocke“ überhaupt zu beachten. Doch ganz unmöglich ist das nicht. Eine neue Aufmerksamkeit für dieses akustische Merkzeichen des Glaubens und das stille Beten des Angelus, das im Grunde überall möglich ist, könnten eine wichtige Hilfe sein, uns auch im Lauf des Tages an Gott zu erinnern. Das zur „Bet-Glocke“ vorgesehene Gebet gedenkt der Menschwerdung Christi. Es ruft uns so jedes Mal ins Gedächtnis, wie sehr Gott ein Gott für uns Menschen ist. Unter allen Religionen dieser Welt ist es nur der christliche Glaube, der überzeugt ist, dass Gott so sehr an uns Menschen gelegen ist, dass er selbst Mensch geworden ist. Unerhört nahe ist Gott uns gekommen. Gottes Sohn ist unser Menschenbruder geworden, um alle Menschen zu Gott zurückzuführen.
Den Text des Angelus-Gebets findet man im „Gotteslob“, dem Katholischen Gebet- und Gesangbuch, Nr. 2,7; Seite 21).
(Prof. Dr. Andreas Heinz: „An den Quellen apostolischen Betens“,
hrsg. vom Gebetsapostolat im Bistum Trier, Trier 2006, Seite 17-18)