Heilung des Gelähmten
Das muss man sich mal vorstellen: Da haben Sie einen berühmten Arzt, Heilpraktiker oder Guru zu Besuch und die Kunde davon verbreitet sich wie ein Lauffeuer durch den ganzen Ort. Bald strömen Heilungsbedürftige und Neugierige scharenweise herbei, belagern Ihr Haus und dringen durch Vorder-, Hinter- und Kellertür ins Innere, sogar durch ein offengelassenes Fenster! Bald sind alle Eingänge verstopft. Da tragen einige Männer eine Trage mit einem Gelähmten herbei. Sie wollen ihm diese Chance, geheilt zu werden, nicht entgehen lassen. Weil sie aber wegen der Menschenmenge keinen Weg ins Haus mehr finden, steigen sie aufs Dach, decken flugs zwei mal eineinhalb Meter ab, verschaffen sich schnell zwei starke Seile und lassen den Kranken samt seiner Trage hinab…
Ähnliches ist zu lesen in Lk 5,17-26. Es handelte sich höchstwahrscheinlich um ein kleines kastenförmiges Haus mit quadratischem Grundriss und flachem Dach, wie es zur Zeit Jesu für Palästina typisch war. Auch gab es wahrscheinlich nur eine Tür, die als Ein- und Ausgang diente und in dem fensterlosen, nur mit Lüftungsluken versehenen einzigen Raum für Licht sorgte. Doch der Illustrator dieser Szene gibt dem Haus die nötige Weite, erfindet eine Architektur, in der er die Szene dramatisch aufbauen kann. Auch bedient er sich klug eines einfachen Mittels, um uns den vollen Einblick ins Innere des Hauses zu gewähren: Er lässt – wie bei einem Puppenhaus – die Vorderfront einfach weg. Die Perspektive des Daches hat er so gestaltet, dass wir eine Seite des mit farbigen Ziegeln bedeckten Satteldachs und auch die Oberkörper der beiden Männer sehen, die eben die Trage mit dem Gelähmten („Paralyticus“) in den Raum hinunterlassen. Die Bewegung ihrer Hände, die die Seile hinuntergleiten lassen, zeugt von der Beobachtungsgabe des Malers und von seinem Können. Ein dritter Mann, der sich wahrscheinlich zuerst an einem der Seile hinuntergelassen hatte, überwacht und leitet die ganze Aktion. Der Gelähmte ruht in einer Art Kokon, seine Hände liegen steif und matt auf den Oberschenkeln.
Ich weiß nicht, was ich mehr bewundern soll: den Einfallsreichtum der Träger, ihre Schnelligkeit und Geschicklichkeit – oder ihre Dreistigkeit, in einem fremden Haus so eigenmächtig vorzugehen – oder aber ihren Glauben, dass Jesus den Freund heilen wird!?
Jesus aber, der die Herzen der Menschen kennt, sieht nur ihren Glauben und lobt sie deswegen. Ja, er geht so weit, dem Kranken nicht wegen seines, sondern wegen des Glaubens seiner Träger die Sünden nachzulassen: „Als er ihren Glauben sah, sagte er zu dem Mann: Deine Sünden sind dir vergeben.“ Ganz Auge und Ohr ist Jesus in diesem Augenblick für den Kranken; eine Hand zum Himmel hin geöffnet, die andere (mit typischem „Christusgestus“ auf den Kranken gerichtet.
Da beginnen die Männer (Pharisäer und Schriftgelehrten), die hinter Jesus stehen (die er nicht sehen, wohl aber hören kann), mit Wort und Hand heftig zu argumentieren. Wenn Jesus doch nur das körperliche Leiden des Kranken geheilt hätte! Aber ihm seine Sünden zu vergeben – das ist doch Gott allein vorbehalten! Also: „Wer ist das, dass er eine solche Gotteslästerung wagt? Wer außer Gott kann Sünden vergeben!“
Bei Lukas geht die Geschichte so weiter: Jesus merkte, was sie dachten, und sagte ihnen: „Was ist leichter, zu sagen: Deine Sünden sind dir vergeben!, oder zu sagen: Steh auf und geh umher? Ihr sollt aber erkennen, dass der Menschensohn die Vollmacht hat, hier auf der Erde Sünden zu vergeben. Und er sagte zu dem Gelähmten: Ich sage dir: Steh auf, nimm deine Tragbahre und geh nach Hause!“ Im gleichen Augenblick stand der Mann vor aller Augen auf. Er nahm die Tragbahre, auf der er gelegen hatte, und ging heim, Gott lobend und preisend.
Der Maler malt nicht den Verlauf dieser Heilung, deutet aber darauf hin, indem er Jesus in diesem Privatraum auf einem Thron sitzend darstellt, als Zeichen seiner göttlichen Macht und Überlegenheit.