Eingangsseite
Aktuelle Informationen
Jahrestagungen von Alemannia Judaica
Die Mitglieder der
Arbeitsgemeinschaft
Jüdische Friedhöfe
(Frühere und bestehende) Synagogen
Übersicht: Jüdische Kulturdenkmale
in der Region
Bestehende jüdische Gemeinden
in der Region
Jüdische Museen
FORSCHUNGS-
PROJEKTE
Literatur und Presseartikel
Adressliste
Digitale Postkarten
Links
| |
zurück zur Übersicht "Synagogen in der Region"
zurück zur Übersicht "Synagogen in Hessen"
Zur Übersicht
"Synagogen im Kreis Groß-Gerau"
Gernsheim (Kreis
Groß-Gerau)
Jüdische Geschichte / Synagoge
Übersicht:
Zur Geschichte der jüdischen Gemeinde (english
version)
In Gernsheim bestand eine jüdische
Gemeinde bis 1938/42. Ihre Entstehung geht in die Zeit des 15. beziehungsweise
18. Jahrhunderts zurück. Bereits Mitte des 15. Jahrhunderts waren in der damals
dem Erzbischof von Mainz unterstehenden Stadt einige Juden ansässig, von denen
der kurmainzische Zollschreiber eine jährliche Steuer von insgesamt 20 Gulden
erhob.
Nach dem Judenpogrom am Ostermontag, 10. April 1615 wurden die Wormser
Juden vertrieben. Einige konnten sich in Gernsheim niederlassen und wurden
vermutlich von den hier lebenden jüdischen Familien aufgenommen. Gut drei Wochen
nach dem Pogrom starb der bekannte Wormser Rabbiner Samuel Bacharach am 2. Mai
1615 in Gernsheim (vgl.
https://en.wikipedia.org/wiki/Abraham_Samuel_Bacharach). Er wurde in
Alsbach beigesetzt (Grabstein
https://www.lagis-hessen.de/de/subjects/idrec/sn/juf/id/11041). Im
Januar 1616 konnten die Wormser Juden wieder in ihre Heimatstadt zurückkehren.
Im 18. Jahrhundert werden 1715-18 jüdische Personen in Gernsheim
genannt.
Die Zahl der jüdischen Einwohner entwickelte sich im 19. Jahrhundert
wie folgt: 1806 51 jüdische Einwohner, 1828 52 (1,8 % von insgesamt 2.893
Einwohnern), 1842 14 Familien, 1871 89 jüdische Einwohner (2,7 % von insgesamt
3.277), 1880 96 (2,8 % von 3.421), 1895 73, 1900 51 (1,2 % von 4.133), 1910 45
(1,1 % von 4.197). Die jüdischen Haushaltsvorstände verdienten ihren
Lebensunterhalt als Vieh- und Getreidehändler, Manufakturwaren-, Obst- und
Kartoffelhändler, als Grundstücks- beziehungsweise Häusermakler.
An Einrichtungen bestanden eine Synagoge (s.u.), eine Religionsschule,
ein rituelles Bad. Zur Besorgung religiöser Aufgaben der Gemeinde war ein Lehrer
angestellt, der zugleich als Vorbeter und Schochet tätig war (vgl.
Ausschreibungen der Stelle unten von 1866 und 1869). In besonderer Erinnerung
blieb (als Nachfolger zu einem zunächst genannten Lehrer Mendel) Lehrer Salomon
Weil, der 1910 sein 40-jähriges Dienstjubiläum in Gernsheim feiern konnte
(siehe Berichte unten). Den Großteil seiner Dienstzeit war er Lehrer in
Gernsheim. Nach seinem Tod 1913 kam bis 1919 Lehrer Leo Aach
nach Gernsheim (zuvor in Wickrath, später in Bretten tätig). Die Toten der Gemeinde wurden auf den jüdischen Friedhöfen in
Groß-Gerau und Alsbach
beigesetzt. Die Gemeinde gehörte zum orthodoxen Bezirksrabbinat Darmstadt
II.
An den Folgen der erlittenen Verletzungen im Ersten Weltkrieg starb aus
der jüdischen Gemeinde Max Weil (geb. 15.4.1885 in Gernsheim, vor 1914 in
Leipzig wohnhaft, gest. 22.4.1923).
Um 1924, als noch 32 Personen der jüdischen Gemeinde angehörten
(0,8 % von insgesamt etwa 4.400 Einwohnern), waren die Vorsteher der
Gemeinde Bernhard Spieß und S. Fink. An jüdischen Vereinen gab es zwei
Wohltätigkeitsvereine, den Israelitischen Männerverein (1924 unter
Leitung von Bernhard Spieß) und den Israelitischen Frauenverein (1924
unter Leitung von Lina Fink). 1932 waren die Gemeindevorsteher Bernhard Spieß
(weiterhin 1. Vors.) und Fabrikant Siegmund Nahm (2. Vors.). Religionsunterricht
erhielten im Schuljahr 1931/32 noch drei Kinder der Gemeinde (vermutlich durch
einen auswärtigen Lehrer).
1933 lebten noch 27 jüdische Personen in Gernsheim (0,5 % von 5.254
Einwohnern, in acht Familien). In den folgenden Jahren ist ein Teil der jüdischen
Gemeindeglieder auf Grund der der Folgen des wirtschaftlichen Boykotts, der
zunehmenden Entrechtung und der Repressalien weggezogen (mindestens vier nach
Mainz) beziehungsweise ausgewandert (Frankreich, Holland, sieben nach London
[darunter Fabrikant Siegmund Nahm], vier in die USA). Zu abscheulichen
Vorkommnissen kam es in Gernsheim im Zusammenhang mit dem Novemberpogrom 1938
(siehe Bericht unten von Hermann Weil). 1939 wurden noch elf jüdische
Einwohner gezählt. Die letzten sieben mussten in einem "Judenhaus"
zusammenziehen (Berta Hahn mit den Kindern Hildegard, Kurt und Josef, Karoline
Weil geb. Guckenheimer und das Ehepaar Bernhard und Erna Spiess). Sie wurden
1942 deportiert; Hermann Nahm (1891) nahm sich im Mai 1942 vor der
bevorstehenden Deportation das Leben.
Von den in Gernsheim geborenen und/oder längere Zeit am Ort wohnhaften jüdischen
Personen sind in der NS-Zeit umgekommen (Angaben nach den Listen von Yad
Vashem, Jerusalem und den Angaben des "Gedenkbuches
- Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen
Gewaltherrschaft in Deutschland 1933-1945", ergänzt durch Angaben bei
Scheindl s.Lit. S. 106): Clara Baum geb. Fink (1894), Berta Hahn geb. Katz
(1893), Hildegard Hahn (1921), Josef Hahn (1930), Kurt Hahn (1923), Max Hahn
(1890), Norbert Kleffmann (1922), Alfred Manne (1886), Selma Mayer geb. Spieß
(1889), Hermann Nahm (1891), Rosa Schiefer geb. Vollmann (oder Dallmann?, 1898),
Jakob Simon Schiefer (1875), Richard Schiefer (1930), Erna Spiess geb.
Emsheimer (1863), Bernhard Spiess (1862), Hildegard Wachtel geb. Weil (1897),
Karoline Weil geb. Guckenheimer (1855).
Berichte aus der Geschichte der jüdischen Gemeinde
Aus der Geschichte der
jüdischen Lehrer und der Schule
Ausschreibungen der Stelle des Lehrers / Vorbeters / Schochet 1866 / 1869
Anzeige
in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 29. August 1866: "Konkurrenzeröffnung.
Die Stelle eines Religionslehrers und Vorsängers bei der israelitischen
Gemeinde Gernsheim sowie der Schächterdienst, mit welcher ein jährliches
Einkommen von 400 Gulden nebst freier Wohnung verbunden, ist erledigt.
Konkurrenzfähige Bewerber haben sich binnen 4 Wochen unter Vorlegung
ihrer Legitimationspapiere bei dem unterzeichneten Vorstand anzumelden.
Gernsheim am Rhein, den 16. August 1866. H. Vachenheim." |
|
Anzeige in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 8. Dezember 1869:
"Lehrerstelle vakant.
In der israelitischen Gemeinde zu Gernsheim am Rhein, Großherzogtum
Hessen, ist die Stelle eines Religionslehrers, Kantors und Schächters bis
zum 1. Februar 1870 zu besetzen.
Fixer Gehalt, Nebenakzidenzien inklusive Schechitah-Gebühren ca. 500
Gulden.
Wir fordern hiermit qualifizierte Bewerber auf, sich unter Einreichung der
Qualifikation und Zeugnisse beim unterzeichneten Vorstande zu
melden.
Gernsheim, den 2. Dezember 1869. F. Spiess." |
Auf diese Ausschreibung bewarb sich
erfolgreich Lehrer Salomon Weil, der bis 1913 im Dienst der Gemeinde blieb
(s.u.). |
25jähriges Dienstjubiläum des Lehrers Salomon Weil (1895)
Anmerkung: nach Angaben bei Arnsberg s.Lit. S. 250 hatte Salomon Weil
seine Ausbildung in dem Lehrerseminar von Dr. Barnass in Pfungstadt
erhalten. Der älteste Sohn von Salomon Weil ist in die USA ausgewandert, wo er
zuletzt als Schulleiter tätig war und 1960 verstorben ist.
Artikel in
der Zeitschrift "Der Israelit" vom 25. April 1895: "Gernsheim bei
Darmstadt. Die hiesige israelitische Gemeinde feierte dieser Tage das
25-jährige Dienstjubiläum ihres Lehrers, des Herrn S. Weil. Am Morgen
begaben sich 2 Gemeindemitglieder im Auftrage des Vorstandes zu genanntem
Herrn und überbrachten ihm Glückwünsche und ein ahnsehnliches Geschenk,
in einer Brieftasche mit Wertpapieren bestehend. Im Laufe des Tages überreichte
der Frauenverein einen prächtigen silbernen Pokal mit passender
Inschrift. Während der zurückgelegten 25 Jahre hat sich der Jubilar die
volle Liebe und Achtung seiner Gemeinde erworben, wovon der gestrige Tag
den besten Beweis lieferte. Möge der bescheidene, pflichttreue Lehrer
noch lange seines Amtes walten!" |
40-jähriges Dienstjubiläum von Lehrer
Salomon Weil (1910)
Mitteilung
in der "Allgemeinen Zeitung des Judentums" vom 15. April 1910:
"Am 1. April beging der Lehrer Herr Salomon Weil in Gernsheim sein
40jähriges Dienstjubiläum." |
Übernahme der Lehrerstelle durch Leo Aach aus Wickrath
1913 nach dem Tod des Lehrers Salomon Weil
Anmerkung: Lehrer Leo Aach ist am 20. Dezember 1889 in
Trier geboren. Er war verheiratet mit Irma geb.
Blum, die am 13. März 1889 in Hagenbach
geboren ist. Leo Aach war seit 1913 Lehrer in Gernsheim und wechselte von hier
am 1. Dezember 1919 nach Bretten. Er starb in
Bretten am 31.7.1938 im Alter von erst 49 Jahren und wurde auf dem dortigen
Friedhof beigesetzt.
Artikel im
"Frankfurter Israelitischen Familienblatt" vom 19. September 1913: "Gernsheim.
Leo Aach aus Wickrath hat die hiesige Lehrerstelle, die seit einem halben
Jahre durch den Tod des Lehrers Salomon Weil verwaist war, übernommen und
ist kreisamtlich bestätigt worden." |
Anmerkung: nach Angaben bei Arnsberg s.Lit.
S. 250 wird als Nachfolger von Salomon Weil noch ein Lehrer Scherejewski
genannt. Zu diesem fanden sich jedoch noch keine Berichte. |
Fotos aus der Sammlung von Lehrer
Leo Aach
|
|
|
Lehrer Leo Aach
(1889-1938)
mit Frau Irma geb. Blum
und Sohn Hans Aach (geb. 1920,
1937 in die USA emigriert)
|
Innenaufnahmen
einer Synagoge und eines kleineren Betraumes aus der Sammlung von Lehrer Leo Aach;
bei der Synagoge kann sich jedoch nicht um die Synagoge
in Bretten handeln, wo er ab 1919 tätig war;
möglicherweise handelt es sich links um die Synagoge in Gernsheim, von
der keine weiteren
Innenaufnahmen bekannt sind. |
Zur Frage nach dem Gottes- und Schulbesuch der jüdischen Kinder am Schabbat
(1877)
Artikel in
der Zeitschrift "Der Israelit" vom 21. Februar 1877: "Gernsheim am
Rhein. Wie bekannt, sind durch die neue Schulverordnung in Hessen die
israelitischen Schüler der Volksschule verhindert, dem Gottesdienste am
Sabbat beizuwohnen. Die hiesige höhere Bürgerschule wird von ca. 12
israelitischen Schülern von hier und Umgegend, die größtenteils das 13.
Jahr überschritten haben, besucht. Welch nachteiligen Folgen das Versäumen
des Gottesdienstes in einem solchen Falle verursacht, kann sich jedermann
denken. Den Bemühungen des Vorstehers der hiesigen Gemeinde, Herrn M.
Ketsch, ist es gelungen, dass die israelitischen Schüler der oben
genannten Schule dem Gottesdienste am Sabbat vollständig beiwohnen können.
Herr Ketsch hatte nämlich den Direktor der Schule ersucht, in die erste
Unterrichtsstunde am Sabbat die Religionsstunde zu verlegen, wozu derselbe
sich sogleich bereit erklärte; auch die Geistlichkeit beider Konfessionen
erklärte bereitwilligst, ihren Unterricht in der bestimmten Stunde zu
erteilen. Daraufhin wandte sich Herr Ketsch an die löbliche
Kreisschulkommission mit der Bitte um Genehmigung des abgeänderten
Stundenplans, worauf ihm vor einigen Tagen folgendes Schreiben von
derselben zugeschickt wurde: ‚Auf Ihre Eingabe vom 26. vorigen Monats eröffnen
wir Ihnen, dass wir den Stundenplan der höheren Bürgerschule dahin abgeändert
haben, dass die Stunde von 8-9 Samstags von jetzt ab bis auf Weiteres für
den Religionsunterricht bestimmt ist, sodass es den israelitischen Schülern
fürder unbenommen bleibt, während genannter Stunde dem Gottesdienst in
der Synagoge anzuwohnen.’ W." |
Aus dem jüdischen Gemeindeleben
Der (nichtjüdische) Arzt Dr. Walther verweigert die
ärztliche Hilfestellung bei einer jüdischen Familie und verschuldet den Tod
zweier Personen (1881)
Artikel in
der Zeitschrift "Der Israelit" vom 25. Mai 1881: "Gernsheim, 5. Mai
(1881). Man teilt uns folgenden eigentümlichen Vorfall mit. In hiesiger
Gemeinde hat sich vorige Woche ein Ereignis zugetragen, das unter der
hiesigen Bevölkerung allgemeine Aufregung hervorrief, und wohl eine öffentliche
Besprechung verdient. Der seit einem Jahre in hiesiger Gemeinde ansässig
praktische Arzt Dr. Walther wurde vorigen Samstag zu einer Wöchnerin, der
Ehefrau des Joseph Levi hier, berufen; nachdem die Hebamme, welche die
Geburt leitete, die Zuziehung eines Arztes für absolut notwendig erklärt
hatte. Herr Dr. Walther weigerte sich, seine ärztliche Hilfe zu leisten;
es wurde ihm nicht nur von dem Ehemann, sondern auch von verschiedenen
dritten Personen, in der dringendsten Weise vorgestellt, dass Gefahr
vorhanden sei, dass zwei Menschenleben auf dem Spiele ständen, dass es
nur in seiner Hand liege, diese beiden Menschenleben zu retten; der
Ehemann der schwer leidenden Frau bat ihn fußfällig um Erbarmen und
Hilfe – alles umsonst – der Arzt blieb unerbittlich; als Grund seiner
Weigerung gab es an, er sei von einem Verwandten der Familie dadurch
beleidigt worden, dass dieser in einem vorgekommenen Krankheitsfall außer
ihm noch einen anderen Arzt, Herrn Dr. Sellheim zu Biblis zugezogen habe.
Herr Dr. Walther glaubte sich durch Zuziehung eines Kollegen in jenem
Falle beleidigt, obschon diese Zuziehung nach vorheriger Anfrage bei ihm
und mit seiner Zustimmung geschehen war. Dies veranlasste den Arzt, seine
Hilfe in dem Notfall zu versagen, obschon ihm die vorliegende dringende
Gefährdung zweier Menschenleben wiederholt aufs Eindringlichste
vorgestellt wurde; es wurde dann ein auswärtiger Arzt telegraphisch
berufen; bis derselbe eintraf, war es jedoch zu spät; das Kind starb
sofort nach der Geburt, auch die Frau ist am Montagnachmittag ihren leiden
erlegen. Nach Auskunft der Hebamme und des später zu Hilfe gerufenen
Arztes hätte das Leben der Frau und des Kindes erhalten werden können,
wenn Herr Dr. Walther seine Hilfe nicht versagt hätte. Es herrscht in
hiesiger Stadt und Umgegend über das Verhalten des betreffenden Arztes
allgemeine Entrüstung. Die Beerdigung der Frau, welche fünf unmündige
Kinder hinterlässt, fand am letzten Mittwoch unter großer Beteiligung
der hiesigen Bevölkerung ohne Unterschied der Konfession statt. Allgemein
wird der betreffende Arzt als derjenige bezeichnet, der durch seine
unglaubliche Gefühllosigkeit den Tod zweier Menschen verschuldet. Die
Entrüstung in allen Kreisen der hiesigen Bevölkerung macht sich in der
energischsten Weise gegen den
betreffenden Arzt geltend. Die Sache ist der vorgesetzten Behörde zur
Anzeige gebracht, denn man hofft, dass die bestehende Gesetzgebung Mittel
an die Hand gibt, um ein solches Verhalten nicht ungerügt zu lassen.
Ebenso gibt man sich der Erwartung hin, dass das Verhalten des Herrn Dr.
Walther auch von Seiten des Vereins der hessischen Ärzte die ihm gebührende
Würdigung erfahre." |
Bericht über die Ereignisse beim Novemberpogrom
1938
Hermann Weil, ehemaliges jüdisches
Gemeindemitglied, der in der Riedstraße 23 gewohnt hatte, berichtete 1965
in einem Brief: "Im Schuhgeschäft Helu hat man an ca. 80 Paar
Schuhen mit dem Beil die Schuhspitzen und Absätze abgehackt und die
zerlegten Teile auf die Straße geworfen. In einem Bekleidungshaus wurden
Kleiden und Mäntel in Hälften gerissen, bevor man sie hinausschleuderte.
Mancher von den Zuschauern glaubte sich billig eindecken zu können,
musste aber später sein Erworbenes wieder an die Behörde abliefern. In
besonderen Fällen wurden die Menschen geschlagen, getreten, entkleidet,
in einem Schrank gesperrt, auf dem Lastwagen zur Bruchmühle gebracht,
misshandelt und zu Fuß wieder nach Hause gehen lassen. man hat sie wie
Vieh zusammengetrieben, am Stadthaus, am Kaffeedamm, und auf Lastwagen
abtransportiert." (Bericht zitiert nach dem
Heimatgeschichtlichen Wegweiser s.Lit. S. 156). |
Berichte
zu einzelnen Personen aus der Gemeinde
Zum Tod des langjährigen Gemeindevorstehers Josef Levy
(1905)
Artikel
aus dem "Frankfurter Israelitischen Familienblatt" vom 27.
Oktober 1905: "Gernsheim, 16. Oktober (1905). Ein
Leichenkondukt, wie er hier schon lange nicht gesehen wurde, zog heute
durch unser Städtchen nach dem 2 Stunden entfernten Friedhof. Galt es
doch dem viel verdienten und allgemein angesehenen Herrn Josef Levy die
letzte Ehre zu erweisen, der eine Reihe von Jahren als erster Vorsteher
unserer Gemeinde und sehr angenehmer Baal tefilloh (ehrenamtlicher
Vorbeter) an den Jomim nauroium ("ehrfurchtgebietende
Tage", zehn Tage zwischen Rosch Haschana / Neujahr und
Versöhnungstag / Jom Kippur) fungierte und der durch seinen
Gerechtigkeitssinn und seine Wohltätigkeit überall hochgeschätzt war.
Auch unser allverehrter Herr Landesrabbiner Dr. Marx - Darmstadt war zur
Beerdigung erschienen, er sprach in einigen Worten sein Bedauern aus, aus
rituellen Rücksichten von einem Nachrufe Abstand nehmen zu
müssen." |
Anzeigen
jüdischer Gewerbebetriebe und Privatpersonen
Anzeige von F. Spieß (1889)
Anzeige in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 23. Mai 1889:
"Zur selbstständigen Führung eines Haushaltes für 2 Herren wird
auf kurz nach Pfingsten ein älteres religiöses Mädchen oder Witwe
gesucht; nur solche, die mit besten Zeugnissen versehen, wollen sich bei
mir melden.
F. Spieß, Gernsheim am Rhein." |
Anzeige des Manufakturwarengeschäftes E. Ketsch
(1898)
Anzeige
in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 29. August 1898: "Commis-Gesuch.
Suche per alsbald einen in der Manufakturwaren-Branche erfahrenen,
jüngeren Commis, mit schöner Handschrift, als Buchhalter und Verkäufer.
Selbstgeschriebene Offerten mit Zeugnisabschriften und Photographie, sowie
Angabe der Gehaltsansprüche, bei freier Station, erbeten. Samstags und
jüdische Feiertage geschlossen.
E. Ketsch, Gernsheim am
Rhein." |
Zur Geschichte der Synagoge
In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten die
jüdischen Familien zunächst einen Betraum im ersten Stock eines Hauses Ecke Wallstraße/Magdalenenstraße
("die alte Judenschule").
Seit 1832 gab es Bemühungen der jüdischen Gemeinde, eine Synagoge zu
bauen. Die Gemeindemitglieder verpflichteten sich zu regelmäßigen freiwilligen
Beiträgen in einen Baufonds, was jedoch angesichts der schlechten finanziellen
Verhältnisse der jüdischen Familien nicht einfach war: 10 Jahre nach Beginn
der Sammlungen war erst ein Drittel der nötigen Bausumme erspart. 1843 konnte
mit dem Bau der Synagoge auf einem Grundstück in der
Schafstraße begonnen werden.
Die Einweihung der Synagoge war am 11. Januar 1845.
Dies geht aus einem Brief von Gustine Bendheim aus Auerbach
vom 10. Januar 1845 vor, der erhalten ist (im Besitz der Familie von Uri
Rosenan, Yehud in Israel):
Dokument zur Einweihung der Synagoge (1845)
|
|
|
Brief von Gustine Bendheim in Auerbach
an Jakob (Koppel) Hochschild in Biblis:
"Umschlag: "An Herrn J Hochschild Biblis"
Vorderseite: "Auerbach, den 10. Januar 1845. Lieber Jakob! Da ich
vernommen habe, daß Du gerne morgen das Einweihungsfest der Synagoge zu
Gernsheim beiwohnen mögtest; aber Du im Zweifel bist, ob es Schicklich
sey dahin zu gehen. Ich weiß nicht, was Dich davon abhalten soll? Ist es
vielleicht die Ursache, weil ich in Trauer bin? und dieses Vergnügen
nicht beiwohnen darf? Da bist Du sehr in Irrthum. Indem Du sie noch
vergröserst, wenn Du Dich einem so seldenen Vergnügen entziehst. Dies
würde mich sehr schmerzen. Ich bitte Dich daher nach Gernsheim zu machen
(= gehen), Dich da recht belustigen. dann wird es auch für mich ein
Vergnügen seyn. Dieses bitte Dich sehnlichst Deine Dich liebende Gustine
Bendheim.
WGU ( = wende gefälligst um!)"
Rückseite: "Indem ich meine geliebte Schwiegereltern hier
Herzlich grüße, bitte ich auch Sie innigst, meine bitte mir nicht zu
versagen, meinen Lieben Koppel nach Gernsheim zu lassen. Es ist dieses
erste Bitte, die ich an Sie richte und hoffe daher um so gewisser um
dessen Gewehrung. Ihre Sie liebende Tochter Gustine
Bendheim. Viele Grüße an meine Schwägerinnen und Schwäger
und sonstige Verwanden. D.O."
Abschrift des Textes von Naftali Rosenan (1976). |
Anmerkung: Gustine Bendheim konnte nicht
zur Feier in Gernsheim, da sie sich noch im Trauerjahr befand: ihre Mutter
war am 2. März 1844 gestorben.
|
Im
Synagogengebäude befand sich auch das rituelle Bad. Der Betraum hatte
44 Plätze für Männer, auf der Empore gab es 24 Plätze für die Frauen.
Die Frauenempore wurde 1870 ausgebaut. 1888 gab es eine erste Renovierung des
Gebäudes; weitere Renovierungen folgten 1895-96 und 1913.
Äußerlich handelte es sich um ein im Straßenbild durchaus repräsentatives
Gebäude. Eingangstor und die in Zweiergruppen angeordneten Fenster fielen durch
die schön gestalteten Segmentbögen mit einer profilierten Steinumrahmung auf.
Im Giebeldreieck war eine halbrunde Öffnung mit einer Rosette.
Adresse/Standort der Synagoge:
Schafstraße 13
Fotos
(Quelle: beide sw-Fotos bei Altaras s.Lit. 1988 S. 138)
Die Synagoge vor 1938 |
|
Innenaufnahme
vgl. die oben gezeigten
Innenaufnahmen einer Synagoge aus der
Sammlung von Lehrer Leo Aach |
|
|
|
|
|
|
Das Synagogengebäude 1985 |
|
|
|
|
|
Aktuelle Fotos
werden noch ergänzt; über Zusendungen freut sich der
Webmaster der
"Alemannia Judaica"; Adresse siehe Eingangsseite. |
|
Erinnerungsarbeit
vor Ort - einzelne Berichte
Februar 2011:
Bei einer Veranstaltung des Vereins "Memor" wird an das
Schicksal der jüdischen Gernsheimer erinnert |
Artikel
im "Ried-Echo" vom 3. Februar 2011: "'Eine Bitterkeit,
die niemals verschwindet'. Gedenken - Memor erinnert bei Veranstaltung im
Gymnasium an 29 jüdische Gernsheimer..."
Zum Lesen des Artikels bitte Textabbildung anklicken |
|
März
2011: Erinnerungsarbeit - ein
umstrittenes Thema in der Stadt:
die CDU lehnt im Gemeinderat eine vom Verein Memor geplante Gedenkveranstaltung
zur Reichspogromnacht ab |
Aus einem Artikel in
echo-online.de vom 24. März 2011 (Artikel):
Zitat aus dem Artikel "Weiter denn je von einer Lösung entfernt...." (über
eine Gemeinderatssitzung, in der es - auch was die Überschrift betrifft -
zunächst um andere Thema ging)
"...Lautstarken Streit gab es um die Nutzung des Schöfferhauses, nachdem dem Verein Memor die Nutzung für eine Gedenkveranstaltung zur Reichspogromnacht abgelehnt worden war. SPD, Grüne, FDP und FWG hatten gemeinsam eine umfangreichere Nutzung des mit Millionenaufwand sanierten und hergerichteten
'wohl attraktivsten öffentlichen Gebäudes der Schöfferstadt' erreichen wollen. Die mit absoluter Mehrheit regierende CDU lehnte dies jedoch mit teils fadenscheinigen Argumenten ab.
Memor war 2006 aus der Forderung der SPD entstanden, sich eingehender mit der Aufarbeitung der Zeit des Nationalsozialismus in Gernsheim zu befassen, so lange es noch Zeitzeugen gibt. Ein Ansinnen, das bei der CDU auf keine Gegenliebe stieß.
Daraufhin gründeten mehrere SPD-Mitglieder den Verein..." |
|
April/Mai
2018: Weitere
"Stolpersteine" werden verlegt |
Artikel im morgen.de vom 27.
April 2018: "Weitere Stolpersteine. MEMOR Gernsheimer Verein plant Verlegung von fünf Gedenktäfelchen am 14. Mai
GERNSHEIM - (bge). An zwei Orten werden am Montag, 14. Mai, ab 13.30 Uhr fünf weitere Stolpersteine gegen das Vergessen verlegt. Das ist das Ergebnis eines vorbereitenden Gespräches unter Leitung von Bürgermeister Peter Burger (CDU) im Stadthaus. Der Verein Memor hatte die Teilnahme an dieser Kunstaktion angeregt. Seither wurden etliche dieser Gedenktäfelchen im Boden eingelassen. Mit der nächsten Verlegung werden geehrt: Leiser Hirschkorn (Jahrgang 1893, Flucht nach England 1939) und Civia Baile Hirschkorn geb. Neumann (1896, Flucht nach England 1939) vor dem Anwesen Magdalenenstraße 39. Am Standort ehemals Ludwigstraße 39/Wallstraße 2/Ecke Magdalenenstraße, jetzt Georg-Schäfer-Platz, wird drei Personen gedacht, die 1937 in die USA flüchteten: Hirsch Levi (1873), Hedwig Levi geb. Fleischhacker (1891) und Kurt Ludolf Levi (1909). Schüler des Gymnasiums Gernsheim spielen Musik."
Link
zum Artikel |
Links und Literatur
Links:
Literatur:
| Germania Judaica Bd. III,1 S. 434. |
| Paul Arnsberg: Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang -
Untergang - Neubeginn. 1971. Bd. I S. 249-251. |
| Thea Altaras: Synagogen in Hessen. Was geschah seit
1945? 1988 S. 138. |
| dies.: Das jüdische Rituelle Tauchbad und: Synagogen in
Hessen. Was geschah seit 1945 Teil II. 1994. S. 117. |
| Studienkreis Deutscher Widerstand (Hg.):
Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der
Verfolgung 1933-1945. Hessen I Regierungsbezirk Darmstadt. 1995 S. 156-157. |
| Pinkas Hakehillot: Encyclopedia of Jewish
Communities from their foundation till after the Holocaust. Germany Volume
III: Hesse - Hesse-Nassau - Frankfurt. Hg. von Yad Vashem 1992
(hebräisch) S. 148-149. |
Article from "The Encyclopedia of Jewish life Before and During the
Holocaust".
First published in 2001 by NEW
YORK UNIVERSITY PRESS; Copyright © 2001 by Yad
Vashem Jerusalem, Israel.
Gernsheim Hesse.
Founded in the late 18th centurym the community numbered 96 (3 % of the total)
in 1880. By 1933 it had dwindled to 27 and four years later its Torah scrolls
were moved to Darmstadt. On Kristallnacht (9-10 November 1938), the remaining 19
Jews were beaten, stripped naked, and pelted with stones. A memorial to those
who perisked in the Holocaust was erected by the town council in 1985.
vorherige Synagoge zur ersten Synagoge nächste Synagoge
|