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Schleusingen
(Landkreis
Hildburghausen)
Jüdische Geschichte / Synagoge
Übersicht:
Zur Geschichte der jüdischen Gemeinde (english
version)
In Schleusingen lebten Juden bereits im Mittelalter. Ob es
bereits damals zur Bildung einer jüdischen Gemeinde kam, ist nicht bekannt. Die
jüdischen Bewohner der Stadt waren von der Verfolgung 1298 und in der
Pestzeit 1348/49 betroffen. Danach hört man wieder im 16. Jahrhundert
von Juden in Schleusingen. Sie standen unter dem Schutz der Grafen von
Henneberg. 1524 wird ein jüdischer Arzt im Dienst des Grafen Wilhelms IV.
genannt. Graf Georg Ernst erteilt 1552 zusätzlich zu den hier bereits wohnenden
noch weiteren 25 Schutzjuden Niederlassungsrecht in der Grafschaft. 1555 wird
jedoch der Judenschutz in der Grafschaft gekündigt. 1563 verlässt mit dem
Juden Jakob der damals letzte Juden die Residenzstadt Schleusingen.
Zur Gründung einer neuzeitlichen Gemeinde kam es im 18. Jahrhundert.
Seit 1704 werden Juden wieder in der Stadt aufgenommen. 1713 sind es
sieben Familien in Schleusingen und sechs in Heinrichs,
die nach Willen der Schleusinger Oberaufsicht eine gemeinsame Kultusgemeinde
bilden sollen. In den 1720er-Jahren war Vorsitzender der jüdischen Gemeinde
David Hertz. 1725 wurde eine jüdische Schule in der Stadt gegründet. 1762
wurden Raphael und David Hertz durch König August II. zu "Hof- und
Miliz-Factors" im Henneberg-Schleusingischen ernannt. 1828 werden 39
jüdische Einwohner gezählt, 1833 47. Bis 1871 nahm die Zahl weiter zu
(89 jüdische Gemeindeglieder), um danach durch Aus- und Abwanderung,
insbesondere in größere Städte wieder langsam zurückzugehen.
An Einrichtungen hatte die jüdische Gemeinde eine Synagoge (s.u.), eine
jüdische Schule (Religionsschule), ein rituelles Bad und einen Friedhof.
Zur Besorgung religiöser Aufgaben der Gemeinde war ein Lehrer angestellt, der
zugleich als Vorbeter und Schochet tätig war (vgl. Ausschreibungen der Stelle
unten).
Im Ersten Weltkrieg war unter den Gefallenen der Stadt auch der Sohn
einer jüdischen Familie. Andere kehrten mit teils hohen Auszeichnungen zurück.
Mitte der 1920er-Jahre gehörten noch 27 Personen zur jüdischen Gemeinde
(1932 31 Personen). Synagogenvorsteher waren damals die Herren Theobald Götz,
S. Frankenberg, und S. Lung. Der Religionsunterricht der nur noch wenigen
jüdischen Kinder (Schuljahr 1932/33 drei Kinder) wurde durch Lehrer Lewinstein
aus Themar erteilt. Mit dem Boykott der jüdischen Geschäfte 1933
begannen auch in Schleusingen die antijüdischen Maßnahmen der NS-Zeit. Beim Novemberpogrom
1938 wurde die Synagoge demoliert, die jüdischen Männer wurden in das KZ
Buchenwald transportiert. 1942 wurden die letzten jüdischen Einwohner
aus Schleusingen deportiert.
Von den in Schleusingen geborenen und/oder
längere Zeit am Ort wohnhaften jüdischen Personen sind in der NS-Zeit
umgekommen (Angaben nach den Listen von Yad
Vashem, Jerusalem und den Angaben des "Gedenkbuches
- Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen
Gewaltherrschaft in Deutschland 1933-1945"): Louis Compart
(1866), Sophia Compart (1877), Frieda Daniel geb. Berliner (1900), Julius Daniel
(1901), Lieselotte Ruth Daniel (1935), Margot Lina Daniel (1929), Hermann
Friedmann (1867), Ida Friedmann (1855), Bertha Goetz geb. Zeilberger (1890),
Herbert Gietz (1927), Sieglinde Goetz (1932), Theobald Goetz (1880), Josef
Hessberg (1870), Helene Heumann geb. Goetz (1898), Martha Kahn geb. Köhler
(1897), Benno Koppenhagen (1867), Hermann Lang (1870), Klara Lang geb.
Oppenheimer (1873), Lina Lang (1874), Emma Plaut geb. Goetz (1883), Peter Josef
Steinbock (1937), Egon Widmann (1925).
Berichte aus der Geschichte der jüdischen Gemeinde
Aus der Geschichte der
jüdischen Lehrer
Ausschreibungen der Stelle des Religionslehrers / Vorbeters / Schochet 1866 /
1872 / 1876
Anzeige
in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 24. Januar 1866:
"Die Stelle des hiesigen Lehrers, Schächters und Vorbeters ist durch
den Tod des seitherigen Inhabers erledigt und soll so rasch wie möglich
wieder besetzt werden. Gehalt Thaler 200. Qualifizierte Bewerber wollen
sich in frankierten Briefen bei dem unterzeichneten Vorstand melden.
Schleusingen (Reg.-Bezirk Erfurt), den 15. Januar 1866. Der
Vorstand der Synagogen-Gemeinde. Louis Mayer." |
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Dieselbe
Anzeige erschien in der "Allgemeinen Zeitung des Judentums" vom
23. Januar 1866. |
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Anzeige
in der "Allgemeinen Zeitung des Judentums" vom 21. Mai 1872:
"In der hiesigen Gemeinde ist die Stelle eines Religionslehrers,
Vorbeters und Schächters vakant. Qualifizierte Bewerber mögen sich mit
dem Vorstande unter Einrichtung ihrer Atteste in Verbindung setzen.
Schleusingen, den 13. Mai 1872. Der Vorstand der Synagogen-Gemeinde. Dr.
Heßberg." |
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Anzeige in der "Allgemeinen Zeitung des Judentums" vom 16. Mai 1876:
"Die Stelle des hiesigen Religionslehrers, Vorbeters und Schächters
ist erledigt und soll sofort, spätestens aber bis zum 1. Juli dieses
Jahres wieder besetzt werden. Gehalt 630 Mark, Schechita und die sonstigen
Nebeneinkünfte ca. 200 Mark. Qualifizierte Bewerber wollen sich in
frankierten Briefen bei dem Unterzeichneten melden.
Kreishauptstadt Schleusingen (Reg.-Bezirk Erfurt), den 24. April
1876. Der Vorstand der Synagogen-Gemeinde: L. Mayer." |
Anzeigen
jüdischer Gewerbebetriebe und Privatpersonen
Lehrlingssuche einer Tuch- und Schnittwarenhandlung
(1862)
Anzeige
in der "Allgemeinen Zeitung des Judentums" vom 4. März 1862:
"Für eine Tuch- und Schnittwaren-Handlung wird zum sofortigen
Antritt ein Lehrling jüdischer Konfession gesucht.
Franko-Offerten werden unter Adr. A.H. post restante Schleusingen
erbeten." |
Lehrlingsstellensuche von A. Nordheimer (1867)
Artikel
in der "Allgemeinen Zeitung des Judentums" vom 24. September
1867: "Lehrlings-Stelle-Gesuch. Ein junger Mann, (Israelit),
der das Gymnasium besucht hat und gute praktische Vorkenntnisse besitz,
sucht eine Lehrlingsstelle zum sofortigen Antritt, in einer Tuch- und
Modewaren-Handlung.
Es wird streng auf Religiosität im Hause gesehen, sowie darauf, dass an
Sonn- und Feiertagen geschlossen bleibt.
Geehrte Reflektanten wollen sich unter Angabe ihrer Bedingungen wenden an A.
Nordheimer in Schleusingen." |
Anzeige des Manufaktur- und Modewaren-Geschäftes
Joseph Heßberg's Erben (1867)
Anzeige in der "Allgemeinen Zeitung des Judentums"
vom 5. November 1867: "Für unser Manufaktur- und
Modewaren-Geschäft suchen zum baldigen Antritt einen tüchtigen Commis.
Gehalt nach Bedingung.
Schleusingen, den 11. Oktober 1867. Joseph Heßberg's Erben".
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Mitarbeiterin wird gesucht im Manufakturwaren-Geschäft Ascher Heßberg (1873 /
1874)
Anzeige
in der "Allgemeinen Zeitung des Judentums" vom 11. Februar 1873:
"Ein anständiges Mädchen zur selbstständigen Führung der
Wirtschaft, welches wo möglich auch aushilfsweise im
Manufakturwarengeschäft tätig sein kann, wird gesucht. Offerten an
Ascher Hessberg, Schleusingen." |
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Anzeige in der "Allgemeinen Zeitung des Judentums" vom 21. Mai
1874: "Zur selbständigen Führung der Wirtschaft suche per 1.
Oktober ein Mädchen, welches, da dasselbe gleichzeitig in meinem
Manufakturwaren-Geschäft en detail als Verkäuferin wirken soll, als
solche bereits konditionierte. Gehalt den Leistungen entsprechen.
Schleusingen, im Juni 1874. Ascher Heßberg." |
Anzeige von Karoline Nordheimer (1880)
Anzeige in der "Allgemeinen Zeitung des Judentums"
vom 6. Januar 1880: "Suche per 7. April ein gewandtes
zuverlässiges älteres Mädchen für einen kleineren einfachen
bürgerlichen Haushalt.
Bewerberinnen wollen ihre Photographie und Zeugnisse einsenden an
Karoline Nordheimer Schleusingen in
Thüringen." |
Weitere Dokumente
(aus der Sammlung von Peter Karl Müller, Kirchheim / Ries; Anmerkungen auf
Grund der Recherchen von P. K. Müller)
Brief aus
Leipzig an Louis Mayer
in Schleusingen (1862) |
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Der Brief wurde aus Leipzig an Louis Mayer
in Schleusingen am 20. März 1862 geschickt. Nach den Ausschreibungen der
Lehrerstellen in Schleusingen von 1866, 1872 und 1876 (siehe oben)
unterzeichnet Louis Mayer für den Vorstand der Synagogengemeinde
Schleusingen. Als solcher war er auch sonst tätig, wie aus dem rechts
abgebildeten Beitrag in der "Allgemeinen Zeitung vom 2. August 1838
hervorgeht. Es fand eine Spendensammlung zur "Fondierung der
jüdisch-theologischen Facultät" statt, für die auch
Gemeindeglieder aus Schleusingen spendeten. In der Spendenliste werden
genannt: Heyum Daniel, Götz Liemann, Isaac Liebmann, Joseph Liebmann,
Joseph Heßberg, Ascher Heßberg, Salomon Friedmann, Isac Heßberg und
Louis Mayer.
Aus den Angaben lässt sich schließen, dass Louis Mayer über Jahrzehnte hinweg
- bereits 1838 als wie 1866/1876 im Vorstand der jüdischen Gemeinde Schleusingen
tätig war.
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Zur Geschichte der Synagoge
Eine Synagoge wird 1815 erstmals genannt. Sie wurde bei einem großen
Stadtbrand 1876 zerstört. Das Feuer soll vom Gebäude der Synagoge
seinen Ausgang genommen haben. Eine neue Synagoge wurde 1879/80 erbaut
und am 26. Oktober 1881 eingeweiht.
Beim Novemberpogrom 1938 wurde die Synagoge durch SA- und SS-Männer aus
Schleusingen und Suhl demoliert: die Inneneinrichtung und die Fenster wurden
zerschlagen. Der hinter dem unteren Tor des Synagogengebäudes untergebrachte
Leichenwagen wurde in Brand gesetzt. Auf den brennenden Wagen wurden die
Torarollen, Bücher und rituelle Gegenstände geworfen. Nach der Verwüstungsaktion
lagen im weiten Umfeld der Synagoge Einrichtungsgegenstände wie zersplitterte
Tische, Bänke, Leuchter, zerrissene Bücher.
Nach 1950 ist das Gebäude in ein Wohn- und Geschäftshaus
(Arztpraxen) umgebaut worden. Eine Gedenktafel ist vorhanden.
Im November 2008 soll anlässlich des 70. Gedenktages des Novemberpogroms
1938 eine Stele zum Andenken an die Schleusinger Juden vor der ehemaligen
Synagoge enthüllt werden. Auf dieser Bronzestelle werden alle 44 Namen
der jüdischen Schleusinger, die zwischen 1925 und 1942 in der Stadt lebten,
ihre Geburtsdaten und ihr weiteres Schicksal
Adresse/Standort der Synagoge: Ecke Berthold-/Walchstraße
Fotos
(Fotos Hahn, Aufnahmedatum 14.8.2005)
Historische Aufnahme der
Synagoge
Schleusingen |
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Der Eingang zur
Synagoge befand sich oben; hinter dem unteren Tor (rechts)
stand der
Leichenwagen. |
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Das Synagogengebäude
im Sommer 2005 |
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Das Gebäude ist
in seiner Bausubstanz erhalten |
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Das obere Eingangsportal |
Gedenktafel |
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Erinnerungsarbeit vor Ort - einzelne
Berichte
Berichte aus den Jahren 2007 /
2008
Forschungsbericht aus der Zeitschrift "Freies Wort" – Ressort
Hildburghausen. Erschienen am 10. November 2007. Direkt
zum Artikel
In der Nacht, als die Synagoge brannte ... Kerstin Möhring: Alles geschah unter den Blicken vieler Schaulustiger.
Schleusingen – "Nach zwölf Jahren Forschungsarbeit über die Geschichte der Schleusinger Juden kann ich heute sagen, was sich damals hier zugetragen hat“, sagte Kerstin Möhring gestern Abend vor der ehemaligen jüdischen Synagoge. „Am 9. 11. 1938 in den frühen Abendstunden lief folgendes ab:
Wie bereits im Vorfeld von langer Hand organisiert, trafen sich SS- und NSDAP-Mitglieder in der Adolf-Hitler-Straße, heute Bahnhofstraße. Sie mussten durch diese Straße, um die beiden Männer – Oskar Schwab (48 Jahre alt) und Karl Müller (52) – aus ihrer Wohnung Adolf-Hitler-Straße 2 zu zerren. Der Weg führte sie über die Burgstraße auf den Markt. Hier schienen sich viele Schleusinger als Schaulustige angeschlossen zu haben, da eine grölende Menge durch die Bertholdstraße zog, wie viele Zeitzeugen berichteten.
Im Frankenberg-Haus gab es keinen Mann mehr, der abgeholt werden konnte, da Nathan Frankenberg bereits 1937 im Schleusinger Gefängnis gefoltert wurde und dort starb. Auch die Familie Moses Götz blieb verschont, da Moses weit über 70 Jahre war und der Auftrag lautete, nur die Männer zwischen 16 und 60 abzuholen und in ,Schutzhaft‘ zu nehmen.
In der Bertholdstraße/Brauhausgasse 1 wurde der Schlachtviehhändler Theobald Götz (58 Jahre alt) abgeholt. Sein Sohn Gustav (18) war bereits im KZ Buchenwald inhaftiert, seine anderen Kinder waren zu jung. Er war der einzige Jude, der noch für einen Monat seinen Grundbesitz, sein Haus, seine Viehställe, seine Wiesen und Äcker besaß. Alle anderen Schleusinger Juden waren bereits im Laufe des Jahres 1938 zwangsenteignet worden von sogenannten ,Volksgenossen‘ aus Schleusingen, Hinternah und einer zugezogenen Familie.
In der Bertholdstraße 22 saß Harry Lang bereits seit 1935 im KZ Dachau, und so blieb für die Aktionisten nur noch der Familienvater der Daniels, der im 2. Stock der Synagoge wohnte. Ein SS-Mann schien sich bei allen Aktivitäten hervorzutun, wie viele Schleusinger zu berichten hatten. Er drang in die Synagoge ein, nahm keine Rücksicht auf die Kinder der Familie und schleifte Julius Daniel aus dem Haus. Davor wartete ein Auto, in das alle verhafteten jüdischen Männer gesperrt wurden. Die Nacht verbrachten sie in der Turnhalle in der Fischbacher Straße. Die Schüler konnten am nächsten Morgen hier nicht zum obligatorischen Schulsport, da bewaffnete Männer die Halle bewachten. Im Laufe des Tages wurden die jüdischen Schleusinger ins KZ Buchenwald abtransportiert. Buchenwald vermeldete am 13. 11. 1938 einen Zuwachs an Juden um 9809 Personen.
In Schleusingen entwickelte sich das Schauspiel weiter - denn als solches schienen es die Zuschauer zu sehen. Die gesamte Inneneinrichtung der Synagoge wurde angebrannt, die Bücher gingen sofort in Flammen auf, die bunten Butzenfenster wurden eingeschlagen, der große Wagen, der im Nebeneingang stand, wurde angebrannt. Ein großes Feuer loderte.... Alles verlief unter Gegröle und Geschreie, unter den Blicken vieler
Schleusinger. Keiner derer, die zum Wassergraben liefen, um das Feuer zu löschen, hatte im Sinn, die Synagoge zu retten. Nein. Ihre eigenen Häuser waren im Begriff, beschädigte zu werden. Dass in der späten Nacht die zwei kleinen Mädchen auf der Straße vor dem Haus weinten und nach ihrem Papa riefen, daran können sich viele Schleusinger – insbesondere Frauen – erinnern. Die Daniels – alle vier: Lieselotte, Margot, ihre Mutter Frieda und ihr Papa Julius – wurden 1942 im Vernichtungslager Belzec vergast. Wie andere Schleusinger Juden. Am Morgen nach der Pogromnacht blieb ein Anblick der Verwüstung, den viele Schleusinger nicht vergessen
haben." |
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Artikel in der Zeitschrift "Freies Wort" – Ressort Thüringen. Erschienen am 8. Mai 2008
Eine Stadt arbeitet Vergangenheit auf – Schleusinger Juden kommen.
Schleusingen im Mai 2008: Der Rechtsextremismus schleicht durchs Land. Eine Stadt arbeitet an ihrer Vergangenheit, damit die Zukunft licht bleibe. Die Toten sollen wieder ein Gesicht bekommen, die Überlebenden einen Namen, die Menschen erhalten ihr Schicksal zurück – nach 70
Jahren.
Im evangelischen Gemeindezentrum hat sich das Schleusinger Bündnis gegen Rechts versammelt. Es plant für den 9. November 2008. 70 Jahre ist es dann her, dass jüdische Bürger aus Schleusingen gedemütigt, misshandelt und deportiert wurden – von Schleusingern. Vor 70 Jahren, in der Nacht vom 9. auf den 10. November, überzogen vorwiegend SS-Leute die jüdische Bevölkerung in Deutschland mit unsäglichem Terror. „Reichspogromnacht!“ Unter diesem Schreckenswort ging das Datum in die Geschichtsbücher ein.
Das vergilbte Foto, das Kerstin Möhring im Gemeindezentrum an die Wand wirft, zeigt einen 15-jährigen Jungen mit gewelltem Haar, hochgeschoren über den Ohren, wie das damals Mode war, ein guter Junge mit einem Herzen voller Mut. Er hieß Erich Rosengarten. In jener Nacht vor 70 Jahren stahl er sich aus dem Haus. Draußen knallten schon SS-Stiefel auf Schleusingens Straßenpflaster. Erich rannte in die Synagoge, rettete die Thora-Rolle (das Gesetzbuch der Juden) und versteckte sie vor der SS. Am nächsten Tag würde er zusammen mit seinem Bruder auf dem Weg ins Konzentrationslager sein. Erich war einer von 45 Juden, die damals in Schleusingen lebten. 45 Juden – die angeblich Schuld an allem trugen – kamen auf etwa 3500 Einwohner.
Steine flogen in Fenster und die Synagoge brannte
Die SS marschierte. Steine flogen in die Fensterscheiben der paar jüdischen Häuser. Stiefeltritte knallten gegen Türen. Die Inneneinrichtung der Synagoge stand in Flammen. Schleusinger schauten zu. Dann löschten sie die Synagoge – aus Angst um ihre angrenzenden Häuser. Auf der Straße weinten zwei Mädchen im Alter von vier und sechs Jahren. Sie schrieen nach ihrem Vater. Weil die Szene so mitleidslos war, hat sie sich eingebrannt. Alte Schleusinger erinnern sich daran. Daniel hießen die Mädchen mit Nachnamen. Familie Daniel wohnte über der Synagoge. Der Vater der Mädchen wurde in jener Nacht in die Turnhalle eingesperrt. Am nächsten Tag war er unterwegs ins Konzentrationslager, so wie alle anderen jüdischen Männer aus Schleusingen zwischen 16 und 60 Jahren.
Diesen Männern, ihren Frauen und Kindern, hat Kerstin Möhring ihre Gesichter wiedergegeben und ihre Lebensgeschichten. Seit über zehn Jahren verbringt die Lehrerin ihre Freizeit in Archiven. Sie stöbert. Sie sammelt. Alle Zeitungsbände von 1811 bis 1945 hat sie gelesen, 134 Jahrgänge. Zeitzeugen hat sie befragt und dabei in abweisende, ertappte Augen geblickt. Auch in die jenes Mannes, der in der Reichspogromnacht die SS durch die Stadt führte und zu dessen Geburtstag noch lange Jahre nach der Wende die Stadtkapelle stets ein Ständchen gab, sagt Kerstin Möhring. Für Familie Daniel spielte niemand: Sie wurde im Konzentrationslager ausgelöscht, komplett. Kerstin Möhring kennt die Toten und Überlebenden von damals oder deren Kinder. In ihrem Notizbuch stehen Telefonnummern und e-mail Adressen der Schleusinger Juden bis nach Kanada.
Stele aus Marmor mit den Namen der Opfer. Jetzt sollen alle noch einmal zurückkehren – in jene Stadt, die ihnen einmal Heimat war. Das Bündnis gegen Rechts hat sie oder ihre Nachfahren eingeladen für den 9. November, den 70. Jahrestag der Reichspogromnacht. Damit sich Geschichte niemals wiederholt, soll an diesem Tag vor der ehemaligen Synagoge eine marmorne Stele enthüllt werden, die die Namen der Ermordeten und Vertriebenen trägt und deren Schicksale dokumentiert. Die Stele ist fast finanziert, der Bildhauer arbeitet umsonst. Der Besuch selbst wird 8000 Euro kosten. 2000 Euro übernimmt die Stadt, für den Rest gibt es einen Spendenaufruf an die Schleusinger Bürger. Jede Spende, sagt Thomas G. Marzian vom Bündnis, übermittelt die Botschaft eines Bürgers an die Gäste: „Ihr seid uns willkommen!“
Schleusingen im Mai 2008 plant eine thüringenweit einmalige Geste. Eine Stadt ringt darum, dass die Schatten von gestern nicht zurückkehren können. Und die Mitglieder des Bündnisses erzählen, gerade habe ein vermutlich Rechtsextremer einen Laden eröffnet – nicht weit vom Standort des künftigen Mahnmals. Ully |
Links und Literatur
Links:
Literatur:
| Hans Nothnagel / Kerstin Möhring: Chronik jüdischen Lebens
in Schleusingen. In: Hans Nothnagel (Hg.): Juden in Südthüringen -
geschützt und gejagt. Bd. 1 S. 111-163. |
| Zeugnisse jüdischer Kultur. Erinnerungsstätten in
Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Berlin, Sachsen-Anhalt, Sachsen und
Thüringen. Berlin 1992. S. 284-285. |
| Israel Schwierz: Zeugnisse jüdischer Vergangenheit
in Thüringen. Eine Dokumentation - erstellt unter Mitarbeit von Johannes
Mötsch. Hg. von der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen ( www.lzt.thueringen.de)
2007. Zum Download
der Dokumentation (interner Link). S. 233-238. |
Article from "The Encyclopedia of Jewish life Before and During the
Holocaust".
First published in 2001 by NEW
YORK UNIVERSITY PRESS; Copyright © 2001 by Yad
Vashem Jerusalem, Israel.
Schleusingen. Jews in
Schleusingen were murdered in 1298 and suffered in the Black Death persecutions
of 1348-49. They were expelled in 1563, and only returned in 1660. In 1762, King
Augustus II appointed two Jews from Schleusingen as "factors to the court
and militia." In 1871, the community numbered 89 (3 % of the total) and
maintained a synagogue and a cemetery. When the Nazis assumed power in 1933,
there were still 30 Jews living in Schleusingen. In Kristallnacht (9-10
November 1938), the synagogue was vandalized and its furnishings burned. The
cemetery was desecrated. In 1939, only 18 Jews remained in Schleusingen. Those
who did not manage to escape were subsequently deported.
vorherige Synagoge zur ersten Synagoge nächste Synagoge
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