Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit"
vom 20. November 1902: "Darmstadt, 17. November (1902).
Heute hatten sich vor der Strafkammer Amtsrichter Dr. Mahr, Rechtsanwalt
Dr. Geßner, Oberrechnungsrevisor Reitzel, sämtlich aus Darmstadt, und Hofbuchhändler
Reitzel aus Cannstatt, wegen Beleidigung zu verantworten. Sie haben am
Abend des 7. August nach feucht-fröhlich verbrachten Stunden, auf der
Fahrt von Mainz nach Darmstadt, den zwanzigjährigen Kaufmann Julius
Hirsch auf Großgerau, gröblich beleidigt. Die Angeklagten, von denen
die Herren Dr. Mahr, Geßner und Oberrechnungsrevisor Reitzel als
Antisemiten bekannt sind, begrüßten den ihnen unsympathischen jüdischen
Reisegefährten bereits beim Eintritt in das Coupe mit Rufen wie: 'Es
riecht nach Knoblauch! Macht die Fenster auf!' Sodann fuhr einer der Viere
den Kläger an: 'Wie können Sie es wagen, bei uns einzusteigen, wir
wollen unter uns bleiben.' Da Hirsch trotzdem blieb, war er nunmehr
während der Fahrt bis Großgerau der Zielpunkt fortgesetzter
Beleidigungen, zumeist antisemitischer Natur. So wetzte Dr. Mahr ein
Messer an seiner Stiefelsohle und sagte dabei: 'Nun wollen wir einmal
anfangen, zu beschneiden; soll ich bei Dir /zum seinem Freunde gewandt)
oder bei dem Jüngling (Hirsch beginnen.' In der gleichen Tonart ging es
weiter und kurz vor Groß-Geraus meinte er: 'Was wird sich das Rebeckche
freue!' Hofbuchhändler Reitzel witzelte: 'Wie kann man sch als Germane
beschneiden lassen; ich hätte mich doch lieber umgebracht.' Der andere
Reitzel meinte: 'Er ist ja gar kein Germane, sondern ein Semite.'
Rechtsanwalt Dr. Geßner beteiligte sich zwar nicht an den antisemitischen
Redensarten der Übrigen, riet ihnen vielmehr ab, dafür aber drohte er
dem Hirsch, der empört ausrief, er werde die Herren in Groß-Gerau
feststellen lassen und zur Rechenschaft ziehen: 'Was wollen Sie denn
überhaupt, es hat Ihnen ja niemand etwas getan, gehen Sie her, ich werde
Ihnen einen Tritt versetzen.'
Hirsch verließ in Groß-Gerau in furchtbarer Aufregung weinend das Coupe
und veranlasste den Stationsvorsteher, die Sistierung seiner Peiniger auf
dem Bahnhof in Darmstadt vornehmen zu lassen. Das geschah auch auf
telephonisches Ansuchen.
Es konnte nicht in allen Punkten festgestellt werden, wer die
verschiedenen Beleidigungen ausgestoßen hatte, wohl aber ergab die
Beweisaufnahme, dass Mahr und die beiden Reitzel unter Mahrs Führung sich
an der eigenartigen Belustigung, die sie lediglich als Ausfluss eine
übermütigen Stimmung angesehen wissen wollten, beteiligt hatten,
während Dr. Geßner nur die oben erwähnte Äußerung zur Last fiel. Die
Angeklagten stellten mit Ausnahme des Dr. Mahr, der einige Beleidigungen
zugab, ihre Schuld in Abrede und ihre Verteidiger, in erster Linie der
Geheime Justizrat DR. Osann, taten ihr Möglichstes, die eidlichen
Aussagen des Hauptbelastungszeugen Hirsch zu erschüttern. Dr. Osann
erlaubte sich dabei einige recht geschmacklose Redewendungen gegen die
Zeitung, die den 'unschuldigen' Vorgang ganz niederträchtig aufgebauscht
habe, um im Auftrag und Interesse der Juden eine strenge Bestrafung des
harmlosen Ulkes zu erzwingen.
Der Gerichtshof erachtete die Angaben des Hirsch, von einzelnen
belanglosen Widersprüchen abgesehen, für glaubwürdig und kam auf sie
hin zu einer Verurteilung der vier Angeklagten. Amtsrichter Dr. Mahr
erhielt als Rädelsführer eine Geldstraße von 150 Mark (15 Tage
Gefängnis), Rechtsanwalt Dr. Geßner 70 Mark (7 Tage Gefängnis),
Oberrechnungsrevisor Reitzel 70 Mark (7 Tage Gefängnis), Hochbuchhändler
Reitzel 50 Mark (5 Tage Gefängnis). Dazu wurden ihnen die Kosten des
Verfahrens einschließlich der dem als Nebenkläger auftretenden Julius
Hirsch erwachsenden notwendigen Auslagen auferlegt. Der Staatsanwalt - die
Klage war ex officio erhoben worden - hatte gegen Dr. Mahr 300 Mark, für
Dr. Geßner und die beiden Reitzel Freisprechung mangels Beweises beantragt.
Die Verhandlungen dauerten bei überfülltem Zuschauerraum über fünf Stunden
bis in den späten Nachmittag hinein.
Es gibt noch Richter in Hessen, aber leider ist ein großer Teil derselben
antisemitisch." |