Der jüdische Friedhof in Michelstadt wurde spätestens um 1700
angelegt. Er liegt am Waldrand (Gemarkung "Am
Judenberg") an der Straße Am Stadion rund 1,2 km von der Innenstadt
entfernt im Norden der Stadt (gegenüber dem Freibad). Die älteste (1937-38
noch lesbare) Grabinschrift war von 1720 (2007 ist die älteste
Grabsteininschrift von 1725). Zwischen 1730 und 1747 wurde der
Friedhof mit einer Mauer umgeben. 1860-61 wurde der Friedhof erweitert
(Friedhofsfläche seitdem 73,72 ar). Er wurde von jüdischen Gemeinden
(beziehungsweise jüdischen Familien in Orten) einer
weiten Umgebung belegt (Beerfelden,
Höchst,
Hetschbach, Kirch-Brombach, König,
Mümling-Grumbach, Neustadt und Seckmauern, bis ein Teil dieser Orte eigene
Friedhöfe anlegte).
Im Zusammenhang mit dem Novemberpogrom 1938
wurde die Begräbnishalle des Friedhofes von SA-Leuten und Hitlerjugend von
Michelstadt und Erbach niedergerissen und die Grabsteine demoliert. Im Zweiten
Weltkrieg wurde der Friedhof vom Korpsbekleidungsamt in Beschlag genommen. Die
leitenden Offiziere ließen auf dem Friedhofsgrundstück Baracken errichten und
die Gräber rücksichtslos wegschaufeln, sodass Schädel und Skeletteile im Wald
herumlagen. Nach 1945 wurde der Friedhof von der Stadtverwaltung - soweit
möglich - wieder in Ordnung gebracht. Dazu wurden ehemalige SS-, SA- und
HJ-Angehörige herangezogen, die unter Leitung des Stadtarchivars Ph. Buxbaum
die Aufräumungs- und Wiederherrichtungsarbeiten ausführten. Auch die
Grabstätte des Baalschem, die nach den Angaben von I. Neuhaus und W. Stern
(1947/1973) nicht beim Novemberpogrom, sondern erst später (1940) zerstört
wurde, ist von einem Urenkel des Baalschem (Fritz Dreifuss) wieder
hergerichtet worden und erhielt einen neuen Grabstein.
Zur Zerstörung und neuen Errichtung des Grabsteines für den Baalschem Rabbi
Seckel Löw
Oben: Beitrag
von Dr. L. Neuhaus (Detroit): Baal Schem von Michelstadt. In:
Jüdische Welt. Aufbau XIII,38 vom 19. September 1947 S. 15. Auf dem
Foto ist der neue Grabstein zu sehen, der auf Veranlassung von Fritz
Dreifuss (Urenkel des Baal Schem) und unter Mitwirkung des Rabbiners Dr.
Neuhaus im Juni 1946 in Michelstadt wiedererrichtet wurde. Nach dem
Bericht wurde die Grabstätte im Jahr 1940 zerstört.
Oben
Beitrag von W. Stern: Der Baal Schem von Michelstadt. Ergänzende Notizen.
Artikel in der Jüdischen Allgemeinen vom 30. November 1973. Bei W. Stern
handelte es sich um den 1995 verstorbenen Rabbiner Dr. William Stern. Er arbeitete als Lehrer in Manchester, später in London. Auch Stern sagt, dass das Grab des Baal
Schem nicht beim Novemberpogrom zerstört wurde, sondern erst später.
Hinweis: Nach dem Verzeichnis der
durch die "Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen"
bearbeiteten hessischen Friedhöfe ergibt sich für den Friedhof in
Michelstadt die Zahl von (vor 1940!) 261
vorhandenen Grabsteinen aus der festgestellten Belegzeit
von 1725 bis 1938. Siehe landesgeschichtliches
Informationssystem Hessen - Kommission für die Geschichte der Juden
in Hessen und Hessisches Landesamt für geschichtliche Landeskunde in
Marburg: Dokumentation
der jüdischen Friedhöfe in Hessen - Online zugänglich
Die Lage des Friedhofes
Straße "Am Stadion" - gegenüber / oberhalb
des Freibades gelegen
Lage des jüdischen Friedhofes
in Michelstadt auf dem dortigen Stadtplan:
links anklicken: der Link zeigt direkt die Lage des Friedhofes an oder
und unter
"Einrichtungen" weiterklicken zu
"Friedhof, jüd., Michelstadt"
Inschrift:
"Unser Lehrer, unser Rabbiner, der Rabbi Jizchak Arje genannt Sekel
Leib, Rabbiner der Gemeinde Michelstadt und der Landschaft Odenwald. Das
stumme Schweigen ist sein Lob. Sein Wort war, bevor die Finsternis aufkam.
Der Freund des Höchsten - Der Geistesfürst der Welt - Die Pracht Jakobs
- Der Stolz seiner Generation - Der Weise der Mystik - Der Kenner des Geheimnisses
- Der Heilige seines Volks - Der Liebling seines Schöpfers. O, Vater! Am
Tage deines Hinscheidens stimmten die Hungrigen deines Volkes in
Verzweiflung eine große Klage an. Am Tage des Weggangs heute gehst du ein
in den Garten Eden. Dein Lohn hat der in den Höhen thront dir bezahlt.
Dein Andenken sei zum Segen. - Gestorben am 4. und begraben am 6. Tischri
5607."
Die Fotos wurden
unmittelbar nach den Zerstörungen beim Novemberpogrom 1938 erstellt von
der 2017 verstorbenen Annemarie Fellechner (Wiedergabe mit freundlicher
Genehmigung aus der Familie Fellechner). Links oben sieht man im
Hintergrund das Waldschwimmbad; in der Mitte sind die Reste der
zerstörten Friedhofshalle erkennbar (Fachwerkbau). Die Fotos sind
gleichfalls abgebildet und zusammen mit der Entstehungsgeschichte
beschrieben in dem unten genannten Beitrag von Brigitte Diersch: "Sag
mir, wo die Steine sind...". Nach weiteren Informationen von B.
Diersch wurden die Balken der Friedhofshalle vom Friedhof gestohlen: ein
SA-Mann, der die Balken wenige Tage nach dem Pogrom abholen wollte, fand
schon nichts mehr vor.
(Die
nachfolgenden Fotografien - nächste fünf Fotozeilen - wurden von Klaus
Kurre, Mainberg angefertigt und dürfen nicht
ohne Genehmigung weiter
verwendet werden. Hochauflösende Aufnahmen und weitere, hier nicht
hinterlegte Bilder können per Mail
bei
Klaus Kurre angefordert werden).
Blick auf den Friedhof
Eingangstor
Hauptweg durch den Friedhof
Einzelne
Grabsteine
Ziel unzähliger
jüdischer (und auch christlicher) Pilger: das Grab des Wunderrabbis
Seckel Löb Wormser (1768-1847), der Wundermann ("Baal Schem")
von Michelstadt. Die hebräische Inschrift lautet übersetzt: "Hier
ist begraben der große Gaon Sekel Wormser, bekannt als Baalschem von
Michelstadt" (auf dem Grab befindet sich noch ein Ornamentteil vom
alten Grabstein).
Teilansichten des
Friedhofes in den älteren Teilen
Waschbecken
für rituelle Händewaschung und Gebetstafel
Grab
des Wunderrabbis Seckel Löb Wormser, der "Baal Schem"
von Michelstadt
Grabsteininschrift
und Grab
Fragmente
von in der NS-Zeit zerstörten Grabsteinen
Teilansichten
des Friedhofes in den älteren Bereichen. Nur ein Teil der ursprünglich
vorhandenen Grabsteine ist erhalten. Ein großer Teil wurde in der NS-Zeit
zerstört.
Teilansichten
des Friedhofes in den älteren Bereichen
August 2017:
Inspektion der jüdischen
Friedhöfe im Odenwald
Artikel
von Sabine Richter in "Echo online" vom 25. August 2017:
"Jüdische Friedhöfe werden auch von der Behörde besucht
ODENWALDKREIS - Michael Alt erkennt rasch, worauf es ankommt. Sein
geübter Blick schweift über alte Grabsteine, dicke Friedhofsmauern und hohe
Bäume. Droht ein Ast herabzufallen und Gräber oder deren Besucher zu
treffen? Sind die Mauern schadhaft? Stehen die Grabsteine fest oder sind sie
locker, umgefallen gar? Gibt es andere Mängel? Diese Fragen stellt Michael
Alt an diesem Vormittag fünf Mal – auf jedem jüdischen Friedhof, den es im
Odenwaldkreis gibt. Alt arbeitet in der Abteilung Öffentliche Sicherheit und
Ordnung im Landratsamt, einmal jährlich begutachtet er gemeinsam mit
Hauptabteilungsleiterin Sarina Hildmann den Zustand der Gräberfelder. 'Dazu
sind wir aufgrund landesrechtlicher Vorgaben verpflichtet', sagt Hildmann.
Nicht nur Pflichtaufgabe, sondern auch Vergnügen. Auch sie nimmt den
Zustand der Friedhöfe und insbesondere der Grabsteine unter die Lupe und
bittet Alt beispielsweise festzuhalten, welche zu reinigen sind. Für sie ist
die 80 Kilometer lange Rundfahrt aber nicht nur eine Pflichtaufgabe: 'Der
Termin ist in jedem Jahr etwas Besonderes. Man wird Zeuge der Vergangenheit
und gleichzeitig ermöglicht einem die Lage einzelner Friedhöfe einen
unvergesslichen Blick auf die Landschaften im Odenwaldkreis.' Bei ihren
Besuchen treffen Hildmann und Alt auf Verantwortliche der jeweiligen
Kommunen und besprechen mit ihnen fällige Arbeiten, was sie später auch noch
einmal schriftlich bekommen. Spätestens ein Jahr später kann Alt bei seinem
nächsten Kontrollbesuch sehen, ob die Kommunen allen Pflichten nachgekommen
sind. Denn: 'Die Grabstätten zeugen von der langen jüdischen Geschichte des
Odenwaldkreises. Es ist wichtig, sie im Gedächtnis zu halten', sagt auch
Landrat Frank Matiaske. Die Friedhöfe gehören dem Landesverband der
Jüdischen Gemeinden in Hessen. In diesem Bundesland gibt es nach Angaben des
Landesverbands rund 350 jüdische Friedhöfe. Der bekannteste der fünf im
Odenwaldkreis dürfte der in Michelstadt
sein, der um das Jahr 1700 angelegt wurde. Dort befindet sich das Grab des 'Baal
Schem', des als wundertätig verehrten Michelstädter Rabbiners Seckel Löb
Wormser, der von 1768 bis 1847 lebte. Bis heute besuchen Gläubige sein Grab
und legen, wie es Brauch ist, einen Stein auf ihm nieder. Zwischen ihnen
finden sich zahlreiche Zettel mit Wünschen und Anliegen. FRIEDHOFSPFLEGE. Für die Pflege der jüdischen Friedhöfe im Odenwaldkreis
und anderswo kommt der Staat auf. Der Bund stellt den Ländern dafür Geld zur
Verfügung. Müssen zum Beispiel Grabsteine wieder aufgestellt werden, kann
die jeweilige Stadt oder Gemeinde die Kosten beim für sie zuständigen
Regierungspräsidium geltend machen. (ric)
Neben diesem Teil des Friedhofs hat die Stadt Michelstadt ein Grundstück für
ein neues Gräberfeld erstanden. Auf diesem einzigen jüdischen Friedhof im
Odenwaldkreis, wo heute noch Bestattungen stattfinden, ruhen bereits zwei
Ehepaare, die jüngste Bestattung fand im vergangenen Jahr statt. So gesehen,
schließt sich ein historischer Kreis: Bevor es die vier anderen im heutigen
Kreisgebiet gelegenen Grabstätten gab, war der Michelstädter Friedhof
ebenfalls die einzige Begräbnisstätte in der Gegend. Der
Friedhof in Reichelsheim wurde um
das Jahr 1851 angelegt. Nicht in einem Wald, sondern auf einer Kuppe
gelegen, können Besucher in die Ferne schauen. 220 Grabstellen gibt es dort,
die Gemeinde hat alle hebräischen Inschriften übersetzen lassen, was nicht
zuletzt dem Engagement des früheren Bürgermeisters Gerd Lode zu verdanken
ist. 'Um das Jahr 1870 gab es 40 jüdische Familien in Reichelsheim', sagt
er. Auf dem Friedhof wurden aber auch Verstorbene aus
Fränkisch-Crumbach und
Pfaffen-Beerfurth beigesetzt.
Ein Gedenkstein erinnert an die von den Nationalsozialisten ermordeten Juden
aus den drei Kommunen. Auf ihrem Rundgang über den Reichelsheimer Friedhof
haben Hildmann und Alt nichts zu bemängeln – außer drei großen, verdorrten
Ästen, die von einem Baum herüberragen. 'Diese Äste müssen dringend weg',
befindet Alt. Auch in den zwei kleineren, am Waldrand gelegenen Friedhöfen
in Höchst (angelegt Ende des 19.
Jahrhunderts) und in Beerfelden
(eingeweiht 1928) sind Ausbesserungsarbeiten und die Reinigung von
Grabsteinen nötig. In Michelstadt hingegen müssen Grabsteine neu aufgestellt
werden. Am kürzesten ist der Besuch in Bad
König, denn der jüdische Friedhof dort ist mit sieben Gräbern der
kleinste. Er befindet sich direkt neben dem städtischen Friedhof und wurde
1925 angelegt. Die letzte Beisetzung erfolgte dort 1939. " Link zum Artikel
Paul Arnsberg: Die jüdischen Gemeinde in Hessen 1972. Bd. II,
76-89.
W. Stern: Der Baal Schem von Michelstadt. Ergänzende Notizen.
Artikel in der Jüdischen Allgemeinen vom 30. November 1973. Zum Lesen
bitte Textabbildung anklicken. Bei W. Stern wird es sich um den 1995 verstorbenen Rabbiner Dr. William Stern gehandelt
haben. Er arbeitete als Lehrer in Manchester, später in London.
Die gemachten Angaben sind nicht alle korrekt: so sei das Grab des Baal
Schem nicht beim Novemberpogrom zerstört worden, sondern erst später. Dies
ist unwahrscheinlich. M. Schmall (siehe unten. 5. Aufl. S. 158) hebt
besonders das Grab von Baal Schem hervor, das am 9./10. November 1938
zerstört worden sei.
Thea Altaras: Synagogen in Hessen - Was geschah seit 1945.
Königstein im Taunus. 1988 S. 169.204.217.
Rudolf Wind: Michelstadt. Ein Führer durch die Stadt.
Judaeus: The Baal Shem Tov of
Michelstadt. New York— Jerusalem 1973.
Translated by M. F. Kuttner.
Martin Schmall: Die Juden in Michelstadt 1658-1942. Michelstadt
1982.
ders.: Die Juden in Michelstadt. Band 5 der Rathaus- und Museumsreihe.
Michelstadt 1988.
Karl E. Grötzinger: Der Ba’al Schem von Michelstadt und die Frankfurter Kabbalisten,
in: Menora - Jahrbuch für deutsch-jüdische Geschichte, 1996. S. 324-340.
ders.: Seckel Löw Wormser –
der Ba’al Schem von Michelstadt, Zum 150. Geburtstag, in: Aschkenas,
Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden, Nr. 10 2000 S. 157-176.
ders.:
Der Ba'al Schem von Michelstadt -
Ein deutsch-jüdisches Heiligenleben zwischen Legende und Wirklichkeit.
Mit einem Neuabdruck der Legenden aus der Hand von Judaeus und Arthur Kahn. Campus-Verlag Frankfurt - New
York 2010. 375
Seiten, ca. 20 Abb. 24,90 €.
EAN 9783593392820.
Brigitte Diersch:
Sag mir, wo die Steine sind... Der Michelstädter Judenfriedhof.
Begräbnisplatz und Wallfahrtsort. In: Gelurt - Odenwälder Jahrbuch für
Kultur und Geschichte 2012 (2011) S. 174-184. Online
zugänglich (pdf-Datei)
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